S 7 AS 2121/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 7 AS 2121/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
  1. Für Bewilligungszeiträume über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld), die in der Zeit ab dem 1.3.2020 begannen, wird nach § 67 Abs. 1, Abs. 4 SGB II im Falle der vorläufigen Leistungsbewilligung nach § 41a SGB II abweichend von § 41a Abs. 3 SGB II nur auf Antrag der Leistungsbezieher abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch entschieden. Für die Leistungsbezieher besteht also Wahlfreiheit, es entweder bei der vorläufigen Leistungsbewilligung bewenden zu lassen, oder eine endgültige Bewilligung zu beantragen.
  2. Diese Regelung ist auch anzuwenden, wenn der Bewilligungsbescheid vor dem Inkrafttreten des Gesetzes für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2 (Sozialschutz-Paket) vom 27.3.2020 erlassen wurde, soweit er sich auf Leistungszeiträume ab dem 1.3.2020 bezieht.
  3. Diese Regelung ist sowohl auf einen bereits vor dem 1.3.2020 begonnenen Leistungsbezug nach dem SGB II als auch auf „Neufälle“ anwendbar.
  4. Die anfängliche Rechtswidrigkeit des Bescheids im Sinne des § 45 SGB X ist ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Vorschrift. Bei Prognoseentscheidungen kommt es für die Bestimmung anfänglicher Rechtswidrigkeit im Sinne des § 45 SGB X aber nicht auf die sich später herausstellende tatsächliche Sachlage an, sondern lediglich darauf, ob die Prognose selbst zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses zutreffend war.
  5. Ob eine solche Prognose - wie die nach § 41a SGB II zu treffende Prognose des erwartbaren Einkommens - korrekt oder zumindest vertretbar ist, kann unter Heranziehung der Fallgruppen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 - Nr. 3 SGB X beurteilt werden.
  6. § 48 SGB X kann - unter der Geltung des § 67 Abs. 4 SGB II - zumindest dann nicht für eine nachträgliche Korrektur einer vorläufigen Leistungsbewilligung nach § 41a SGB II herangezogen werden, wenn eine Änderung in den gleichen tatsächlichen Verhältnissen eingetreten ist, die bereits die Vorläufigkeit der Leistungsbewilligung ausgelöst haben (hier: prognostiziertes künftiges Erwerbseinkommen aus selbständiger Tätigkeit), wenn die Aufhebungsentscheidung erst nach Ende des Bewilligungsabschnitts erfolgt. Andernfalls würde das Wahlrecht des Leistungsbeziehers aus § 67 Abs. 1, Abs. 4 SGB II unterlaufen.

 

  1. Der Bescheid des Beklagten vom 11.3.2021 in Gestalt des 

Widerspruchsbescheids vom 9.6.2021 wird aufgehoben.

 

  1. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der

Kläger zu 1. - 5. dem Grunde nach.

 

 

 

Tatbestand

 

Die Klage wendet sich gegen eine Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung des Beklagten hinsichtlich laufender Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 1.4. – 30.9.2020.

 

Die Kläger – ein Ehepaar sowie ihre drei minderjährigen Kinder, wohnhaft in E. - bestritten seit September 2019 ihren Lebensunterhalt von den Einkünften aus der selbständigen Tätigkeit des Klägers zu 2. als Gebrauchtwagenhändler, von Kindergeld sowie ergänzend von Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld nach dem SGB II vom Beklagten. Diese Leistungen waren ihnen im Hinblick auf das schwankende bzw. schwer zu prognostizierende Einkommen des Klägers zu 2. durch Bescheid vom 5.9.2019 nach § 41a SGB II vorläufig bewilligt worden.

 

Im März 2020 kam es aufgrund von Verordnungen der baden-württembergischen Landesregierung wegen der COVID-19-Pandemie zu weitreichenden Kontaktbeschränkungen und sonstigen Infektionsschutzmaßnahmen, die auch auf das Geschäftsleben Auswirkungen hatten. Die Verordnung der Landesregierung BadenWürttemberg über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (CoronaVO-BW) ordnete in der ab dem 18.3.2020 geltenden Fassung etwa an, dass der Aufenthalt im öffentlichen Raum nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Haushalts gestattet, zu anderen Personen im öffentlichen Raum in Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten sowie an bestimmten Orten, darunter in Ladengeschäften, eine Maske oder vergleichbare Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen oder aber entsprechender baulicher Schutz zu errichten sei (§ 3 CoronaVO-BW vom  18.3.2020). Gleichzeitig wurde die Schließung zahlreicher öffentlicher und privater Einrichtungen verfügt, darunter Gastronomiebetriebe (§ 4 CoronaVO-BW vom 18.3.2020), Kultureinrichtungen, Sportstätten etc..

 

Die Klägerin zu 1. teilte daher dem Beklagten am 24.3.2020 mit, dass der Kläger zu 2. bis auf weiteres keine Einkünfte mehr aus seiner selbständigen Tätigkeit als Gebrauchtwagenhändler erwarte. Durch Bescheid vom 24.3.2020 bewilligte der Beklagte der Familie daher Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld) für den Zeitraum vom 1.4. – 30.9.2020 vorläufig nach § 41a SGB II ohne jegliche Anrechnung von Einkommen aus der selbständigen Tätigkeit des Klägers zu 2..

 

In der Fassung des § 4 CoronaVO-BW vom 10.4.2020 wurde aufgrund des fortschreitenden Pandemiegeschehens die Schließung von Einrichtungen u. a. auf alle Verkaufstellen des Einzelhandels erweitert, mit Ausnahme existenzieller Bedarfe wie etwa Lebensmittel, Medikamente, Treibstoff etc. sowie mit Ausnahme des Online-Handels; damit war auch der (stationäre) Handel mit Kraftfahrzeugen in Baden-Württemberg behördlich untersagt. Erst in der Fassung der CoronaVO-BW vom 17.4.2020, in Kraft ab dem 20.4.2020, wurde der Handel mit Kraftfahrzeugen nach § 4 Abs. 3 Nr. 7a CoronaVO-BW in die Liste der Ausnahmen aufgenommen. Diese Rechtslage bestand in der Folge bis zum Ende des hier streitgegenständlichen Zeitraums (30.9.2020) weiter.

 

Auch tatsächlich konnte der Kläger zu 2. im April 2020 seine Tätigkeit wieder aufnehmen und wieder Umsätze generieren. Zudem bewilligte die L-Bank Baden-Württemberg dem Kläger zu 2. mit Bescheid vom 29.4.2020 - auf Grundlage der Verwaltungsvorschrift des baden-württembergischen Wirtschaftsministeriums für die Soforthilfen des Bundes und des Landes für die Gewährung von Überbrückungshilfen als Billigkeitsleistungen für von der Coronakrise in ihrer Existenz bedrohte Soloselbstständige, kleine Unternehmen und Angehörige der Freien Berufe - eine Beihilfe in Höhe von 9.000,00 €.

 

Mit Schreiben vom 1.9.2020 forderte der Beklagte die Kläger auf, die Anlage EKS (Einkommen aus selbständiger Tätigkeit) ab April 2020 vorzulegen. Dem kamen die Kläger nach. Der Beklagte ermittelte für den Zeitraum 1.4. – 30.9.2020 ein Einkommen aus der selbständigen Tätigkeit des Klägers zu 2. von insgesamt 21.156,69 €. Einschließlich des für die drei minderjährigen Kinder bezogenen Kindergelds und abzüglich der Freibeträge nach § 11b SGB II ergebe sich insgesamt ein auf den Bedarf nach dem SGB II anzurechnendes monatliches Einkommen von durchschnittlich 3.025,97 €. Dies übersteige den Bedarf der Bedarfsgemeinschaft von 1.616,92 € im April 2020 sowie von monatlich 1.644,00 € ab Mai 2020 durchgehend. Der Beklagte errechnete für den Zeitraum 1.4. – 30.4.2020 einen überzahlten Betrag von insgesamt 12.668,92 €, der sich wie folgt aufteilte: Auf die Klägerin zu 1. und den Kläger zu 2. jeweils 3.642,00 €; auf die Kläger zu 3. und 4. jeweils 2.018,46 €; sowie auf den Kläger zu 5. 1.548,00 €.

 

Durch Schreiben vom 4.11.2020 hörte der Beklagte die Kläger zu der Absicht an, die vorläufige Leistungsbewilligung nach § 45 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) aufzuheben und den überzahlten Betrag von den Klägern nach § 50 SGB X zurückzufordern. Dies setzte der Beklagte mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 11.3.2021 um. Die Kläger hätten gegen ihre Obliegenheit, jegliche Änderung der Einkommensverhältnisse umgehend dem Beklagten mitzuteilen, verstoßen, indem sie die Wiederaufnahme des Geschäftsbetriebs im Frühjahr 2020 nicht zeitnah mitgeteilt hätten, sondern erst auf Aufforderung durch den Beklagten gegen Ende des Bewilligungsabschnittes (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X).

 

Gegen diese Entscheidung legten die Kläger am 12.4.2021 Widerspruch ein. Zur Begründung trug die Steuerberaterin des Klägers zu 2., Frau M., mit Schreiben vom 21.4.2021 vor, dass die Kläger selbst während des laufenden Bewilligungszeitraums keinen hinreichenden Überblick gehabt hätten, ob aus der Geschäftstätigkeit des Klägers zu 2. auch Gewinn erzielt würde. Dies ergebe sich immer erst im Nachhinein nach der Verarbeitung der Umsatzdaten durch professionelle Buchhaltung, die die Steuerberaterin für den Kläger zu 2. vornehme. Die Kläger hätten daher während des laufenden Bewilligungsabschnitts selbst gar keine Kenntnis gehabt und auch nicht haben können, ob der Kläger zu 2. einen Gewinn erziele und ob dieser den Bedarf nach dem SGB II teilweise oder sogar ganz decken würde. Zumindest dürfe die von der L-Bank ausgezahlte Soforthilfe in Höhe von 9.000,00 € nicht als Betriebseinnahme berücksichtigt werden, denn die L-Bank habe dem Kläger zu 2. bereits angekündigt, dass sie diese zumindest teilweise zurückfordern werde.

 

Durch Widerspruchsbescheid vom 9.6.2021 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück, erneut gestützt auf § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 i. V. m. § 50 SGB X. Ob die Soforthilfe nach Ende des Bewilligungszeitraums wieder zurückgefordert werde oder nicht, sei nicht relevant. Im Übrigen sei die Soforthilfe bei der Berechnung der Rückforderung nicht als Einkommen behandelt worden, sondern lediglich von den Betriebsausgaben abgesetzt worden.

 

Mit ihrer am 5.7.2021 beim Sozialgericht Freiburg erhobenen Klage verfolgen die Kläger ihr Ziel der Aufhebung des Aufhebungs- und Erstattungsbescheids vom 11.3.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9.6.2021 weiter. Die Kläger tragen vor, dass auf ihren Fall die am 28.3.2020 in Kraft getretene Sonderregelung des § 67 Abs. 4 Satz 2 SGB II anzuwenden sei. Diese gelte für Bewilligungsabschnitte ab dem 1.3.2020, also auch für den an sie ergangenen Bescheid vom 24.3.2020 über Leistungen ab dem 1.4.2020. Demnach erfolge eine abschließende Berechnung nach § 41a Abs. 3, Abs. 4 SGB II für eine nach § 41a SGB II vorläufig bewilligte Leistung generell nur auf Antrag. Es bestehe also eine Wahlmöglichkeit für die Betroffenen, ob eine endgültige Berechnung erfolge oder nicht, je nachdem, was für die Betroffenen günstiger sei. Die Kläger hätten keinen Antrag auf endgültige Berechnung gestellt. Es habe daher bei der vorläufigen Bewilligung zu bleiben. Soweit § 45 SGB X im Rahmen des § 67 Abs. 4 Satz 2 SGB II überhaupt anwendbar sei, seien zumindest dessen Voraussetzungen nicht erfüllt. Zum Zeitpunkt der Bewilligung am 24.3.2020 sei für die Kläger völlig unklar gewesen, ob und wann der Kläger zu 2. wieder ein Erwerbseinkommen erzielen würde. Der Bescheid vom 24.3.2020 sei daher nicht anfänglich rechtswidrig gewesen.

 

Die Kläger beantragen,

 

den Bescheid vom 11.3.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom

9.6.2021 aufzuheben.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

§§ 45 und 48 SGB X blieben neben § 67 Abs. 4 Satz 2 SGB II anwendbar. Es habe sich für die Kläger unmittelbar nach der Wiederaufnahme des Geschäftsbetriebs des Klägers zu 2. im April 2020 aufdrängen müssen, dass daraus Einkünfte erzielt werden könnten, die die Ansprüche nach dem SGB II ganz oder zumindest teilweise entfallen lassen könnten. Insofern liege eine Verletzung der Mitwirkungs- bzw. Mitteilungsobliegenheiten der Kläger vor.

 

Das Gericht hat die Beteiligten im Termin zur mündlichen Verhandlung am 15.3.2023 angehört.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der die Kläger betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten, die das Gericht zum Verfahren beigezogen hat, Bezug genommen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

 

Die Klage ist zulässig. Sie ist insbesondere form- und fristgerecht erhoben und als Anfechtungsklage statthaft nach § 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

 

Die Klage ist auch begründet. Die mit der Klage angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Kläger zu 1. – 5. daher in ihren Rechten. Sie waren daher aufzuheben.

 

Der Beklagte kann die angefochtenen Bescheide auf keine der in Frage kommenden Rechtsgrundlagen stützen, da diese im vorliegenden Fall nicht anwendbar sind bzw. ihre Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Insbesondere kann der Beklagte keine Aufhebung und Erstattung der gewährten Leistungen nach § 41a Abs. 6 SGB II verlangen (hierzu unten 1.) Aber auch eine Aufhebung und Erstattung nach § 45 Abs. 1, Abs. 2 SGB X i. V. m. § 50 SGB X scheidet aus (hierzu unten 2.), ebenso nach § 48 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 50 SGB X (hierzu unten 3.).

 

1. Der Beklagte hatte mit Bescheid vom 24.3.2020 den Klägern für den Zeitraum 1.4.– 30.9.2020 die Grundsicherungsleistungen nach § 41a Abs. 1 SGB II vorläufig bewilligt. Dementsprechend wäre er nach dem reinen Wortlaut der Vorschrift berechtigt gewesen, nach Ablauf des Bewilligungszeitraums den Leistungsanspruch nach § 41a Abs. 3, Abs. 4 SGB II endgültig zu berechnen, die aufgrund der vorläufigen Entscheidung erbrachten Leistungen nach § 41a Abs. 6 Satz 1, Satz 2 SGB II mit den endgültig zustehenden zu verrechnen und die Überzahlung nach § 41a Abs. 6 Satz 3 SGB II von den Klägern zurückzufordern. Allerdings hat § 41a SGB II durch das Gesetz für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2 (Sozialschutz-Paket) vom 27.3.2020, in Kraft ab 28.3.2020, in Form der Neufassung des § 67 SGB II (Vereinfachtes Verfahren für den Zugang zu sozialer Sicherung aus Anlass der COVID-19-Pandemie) eine erhebliche Modifikation erfahren. Für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 1.3.2020 begannen, war nach § 67 Abs. 1, Abs. 4 SGB II im Falle der vorläufigen Leistungsbewilligung nach § 41a SGB II abweichend von § 41a Abs. 3 SGB II nur noch auf Antrag der Leistungsbezieher abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch entschieden. Für die Leistungsbezieher bestand also Wahlfreiheit, es entweder bei der vorläufigen Leistungsbewilligung bewenden zu lassen, oder eine endgültige Bewilligung zu beantragen.

 

Diese Regelung ist auch auf den vorliegenden Fall, in dem der Bewilligungsabschnitt am bzw. nach dem 1.3.2020 begann, anzuwenden, obwohl der Bewilligungsbescheid am 24.3.2020 und damit vor dem Inkrafttreten des SozialschutzPaket-Gesetzes am 28.3.2020 erlassen wurde. Denn es kommt nur auf den Bewilligungsabschnitt an, nicht auf das Bescheiddatum (Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 67 Rn. 34, Stand: 30.05.2022). Die Regelung ist auch sowohl auf bereits zuvor begonnenen Leistungsbezug nach dem SGB II als auch auf „Neufälle“ anwendbar (Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 67 Rn. 34, Stand: 30.05.2022). Auch die Kläger, die bereits seit September 2019 Leistungen nach dem SGB II bezogen, sind also von ihr erfasst. Im vorliegenden Fall haben die Kläger zu 1. – 5. keinen Antrag auf eine endgültige Bewilligung gestellt; eine solcher ist nicht aktenkundig und wird auch vom Beklagten nicht behauptet. Dementsprechend hat es nach § 67 Abs. 1, Abs. 4 Satz 2 SGB II bei der vorläufigen Bewilligung zu bleiben, auch wenn sich diese im Nachhinein als unzutreffend herausgestellt hat, weil der vom Kläger zu 2. erzielte und auf den Bedarf der Bedarfsgemeinschaft anzurechnende Einkommen nicht gleich Null war, sondern – in Kombination mit dem Kindergeld - sogar ausreichte, um durchgehend den gesamten Bedarf zu decken. Ergebnisse wie dieses sind nach der Intention des § 67 Abs. 4 SGB II hinzunehmen; der Gesetzgeber hat – für einen begrenzten Zeitraum, nach mehreren Verlängerungen nunmehr bis zu den Bewilligungsabschnitten mit Beginn vor dem 1.4.2021 – die Planungssicherheit der Betroffenen pauschal als höher bewertet als das vom Beklagten vertretene öffentliche Interesse daran, dass Leistungen nach dem SGB II nur in exakt der Höhe erbracht bzw. behalten werden dürfen, in der sie rechnerisch zustehen. Sinn der Regelung war laut der Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 19/18107, insb. S. 25/26) ausdrücklich sowohl eine Entlastung der Leistungsträger vom Verwaltungsaufwand der endgültigen Leistungsberechnung nach § 41a Abs. 3, Abs. 4 SGB II als auch eine organisatorische und wirtschaftliche Entlastung der Leistungsbezieher. In der Gesetzesbegründung zu § 67 Abs. 4 SGB II heißt es wörtlich:

 

„Mit Satz 2 werden Leistungsberechtigte und Jobcenter von der normalerweise nach Ablauf des Bewilligungszeitraums durchzuführenden Prüfung der tatsächlichen Verhältnisse im Bewilligungszeitraum entlastet. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn sich die Einkommensverhältnisse besser als prognostiziert entwickelt haben. Die betroffenen Leistungsberechtigten haben damit die Sicherheit, für sechs Monate eine verlässliche Hilfe zum Lebensunterhalt zu erhalten. Hat sich die Einkommenslage im Bewilligungszeitraum hingegen schlechter als prognostiziert dargestellt, können die leistungsberechtigten eine Prüfung und abschließende Entscheidung beantragen.“

 

Im vorliegenden Fall lässt sich also - mangels Antrags auf endgültige Bewilligung - die Aufhebung und Erstattung nicht auf § 41a Abs. 6 SGB II stützen.

 

2. Der Beklagte hat dementsprechend im Bescheid vom 11.3.2021 und Widerspruchsbescheid vom 9.6.2021 die Aufhebung und Rückforderung ausdrücklich auf § 45 Abs. 2 Satz 3 i. V. m. § 50 SGB X gestützt, die er neben bzw. trotz des § 67 Abs. 1, Abs. 4 SGB II für anwendbar hält.

 

Ob § 45 SGB X grundsätzlich neben § 67 Abs. 1, Abs. 4 SGB II anwendbar ist oder nicht, ist von der Kammer im hier vorliegenden Fall nicht zu entscheiden, da hier jedenfalls die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Aufhebung der Leistungsbewilligung für die Vergangenheit nach § 45 Abs. 1, Abs. 2 SGB X wegen anfänglicher Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 24.3.2020 nicht vorlagen. Die anfängliche Rechtswidrigkeit des Bescheids im Sinne des § 45 SGB X ist ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Vorschrift, das sich aus der Systematik der §§ 44ff. SGB X ergibt, insbesondere in Abgrenzung zu § 48 SGB X (Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 45 SGB X Rn. 50, Stand: 17.04.2023). Nach Auffassung der Kammer war der Bescheid vom 24.3.2020 aber nicht anfänglich rechtswidrig im Hinblick auf das vorläufig mit „Null“ angesetzte Erwerbseinkommen des Klägers zu 2.. Denn es liegt gerade in der Natur einer im Hinblick auf ein nicht sicher zu prognostizierendes bzw. in schwankender Höhe zu erwartendes Erwerbseinkommen vorläufigen Leistungsbewilligung nach § 41a SGB II, dass zum Bewilligungszeitpunkt eben noch nicht sicher vorhergesagt werden kann, ob und in welcher Höhe tatsächlich Erwerbseinkommen erzielt werden wird. Grundlage der Bewilligung kann immer nur eine Schätzung bzw. Prognose sein. Bei Prognoseentscheidungen kommt es für die Bestimmung anfänglicher Rechtswidrigkeit im Sinne des § 45 SGB X aber nicht auf die sich später herausstellende tatsächliche Sachlage an, sondern lediglich darauf, ob die Prognose selbst im Zeitpunkt der Entscheidung zutreffend war. War dies der Fall, aber hat sich die Sachlage in der Folge unvorhersehbar anders entwickelt, ist dann statt § 45 SGB X § 48 SGB X anwendbar (Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 45 SGB X Rn. 53, Stand: 17.04.2023). Im vorliegenden Fall ist der Anwendungsbereich des § 45 SGB X also nicht bereits deswegen eröffnet, weil der zunächst prognostizierte Verlauf später nicht eintrat. Zu prüfen ist lediglich, ob die Einkommensprognose zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids vom 24.3.2020 zutreffend war. Dies ist hier zu bejahen, so dass kein Fall des § 45 SGB X vorliegt.

 

Hier hat der Beklagte die Prognose der Klägerin zu 1., die diese - unstreitig auch in Vertretung der übrigen Kläger nach §§ 166, 278 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) - gegenüber dem Beklagten abgegeben hat, ohne weitere Rückfragen oder eigene Ermittlungen zur Grundlage der Leistungsberechnung im Bescheid vom 24.3.2020 gemacht. Die Kläger und der Beklagte gingen also übereinstimmend von einem kompletten Wegfall des Erwerbseinkommens des Klägers zu 2. ab April 2020 und für die Folgemonate aus. Nach Überzeugung der Kammer war diese Annahme Ende März 2020 gerechtfertigt oder zumindest plausibel.

 

Zur Bestimmung der Frage, ob die Prognose der Klägerin zu 1. korrekt oder zumindest vertretbar war, zieht die Kammer die Fallgruppen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 - Nr. 3 SGB X heran. Nur soweit in der Person der Klägerin zu 1. – und damit nach §§ 166, 278 BGB zurechenbar auch für die übrigen Kläger – eine oder mehrere der dort genannten Pflichtverletzungen oder Bösgläubigkeit gegeben gewesen wären, wäre von einer von Anfang an fehlerhaften Prognose auszugehen, so dass der Anwendungsbereich des § 45 SGB X eröffnet wäre. Diese Voraussetzungen waren nach der Überzeugung der Kammer aber nicht erfüllt.

 

Eine rechtswidrige Handlung der Kläger nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB X steht hier unter keinem denkbaren Aspekt im Raum.

 

Die Prognose der Klägerin zu 1. am 24.3.2020, dass aufgrund der COVID-19-Pandemie und der in diesem Zusammenhang Ende März 2020 erstmals angeordneten weitreichenden Kontaktbeschränkungen und Geschäftsschließungen in nächster Zeit keinerlei Einkünfte des Klägers zu 2. mehr zu erwarten seien, war auch keine vorsätzliche oder grob fahrlässige Falschangabe im Sinne des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X. Zwar war der Gebrauchtwagenhandel am 24.3.2020 noch nicht – und auch insgesamt nur für einen Zeitraum von weniger als 14 Tagen im April 2020 - von den Geschäftsschließungen nach § 4 CoronaVO-BW umfasst. Dem Kläger zu 2. war also seine Geschäftstätigkeit am 24.3.2020 noch nicht unmittelbar behördlich untersagt worden. Gleichwohl war bereits Ende März 2020 das öffentliche Leben einschließlich des stationären Einzelhandels mit nicht-alltäglichen Gebrauchsgütern aufgrund der weitreichenden Kontaktbeschränkungen und aufgrund der sich dynamisch und unvorhersehbar entwickelnden Pandemiesituation faktisch weitgehend zum Erliegen gekommen. Es war daher plausibel anzunehmen, dass es zu einer erheblichen Zurückhaltung beim Kauf von höherwertigen Gebrauchsgütern wie Kraftfahrzeugen kommen würde, allein weil dies aufgrund der Hygieneauflagen praktisch erheblich erschwert war. Ebenfalls plausibel erscheinen musste auch die Annahme einer erheblichen Kaufzurückhaltung aus psychologischen Gründen im Hinblick auf die in manchen Teilen der Bevölkerung vorhandenen Zukunftsängste. Weder die Kläger noch der Beklagte hätten am 24.3.2020 mit Sicherheit vorhersehen können, ob und wie schnell sich diese Situation ändern bzw. entspannen würde. Der Kammer erschließt sich nicht, welche anderslautende Prognose in der damaligen absoluten Ausnahmesituation des „Lockdown“ stattdessen wahrscheinlicher oder seriöser gewesen wäre. Die von der Klägerin zu 1. angestellte Prognose zum erwartbaren Einkommen des Klägers zu 2. war daher zum damaligen Zeitpunkt weder bewusst falsch, noch hätte sich ihre Unzutreffendheit – im Sinne einer grob fahrlässigen Falschauskunft – der Klägerin zu 1. aufdrängen müssen. Insbesondere verfügten die Kläger in dieser Hinsicht auch über kein überlegenes Wissen gegenüber dem Beklagten, das sie daher nach Treu und Glauben hätten offenlegen müssen.

 

Dementsprechend lag auch keine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis der Kläger im Sinne des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X dahingehend vor, dass sich ihre Prognose zum Einkommen des Klägers zu 2. als unrichtig erweisen würde. Auch insoweit gilt, dass weder die wirtschaftliche Gesamtentwicklung - unter den Bedingungen einer in dieser Form nie zuvor dagewesenen globalen Pandemie - noch die konkrete Geschäftsentwicklung beim Kläger zu 2. von diesem bzw. von seinen Familienmitgliedern in irgendeiner Form vorherzusehen waren. Insbesondere konnten die Kläger nicht absehen, dass der Kläger zu 2. trotz der pandemiebedingten Einschränkungen im Zeitraum April – September 2020 sogar – anders als noch in den Monaten vor Beginn der Pandemie! – ein in Summe zusammen mit dem Kindergeld vollständig bedarfsdeckendes Einkommen für die Bedarfsgemeinschaft erwirtschaften würde.

 

Im Ergebnis ist also - mangels einer unzutreffenden Prognose - die Abweichung des tatsächlich erzielten Einkommens vom prognostizierten Einkommen im vorliegenden Fall als unvorhersehbare Entwicklung nach Erlass des Bescheids vom 24.3.2020 anzusehen, so dass nicht § 45 SGB X anzuwenden ist, sondern allenfalls § 48 SGB X anzuwenden sein kann.

 

3. Aber auch § 48 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 50 SGB X bietet im vorliegenden Fall keine Rechtsgrundlage für die hier angefochtene Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung. Eine Umdeutung der angefochtenen Bescheide in solche nach § 48 i. V. m. § 50 SGB X nach § 43 SGB X kommt daher nicht in Betracht, denn auch ein Bescheid nach § 48 i. V. m. § 50 SGB X hätte im vorliegenden Fall nicht in rechtmäßiger Weise ergehen können. Zwar liegt hier nach dem reinen Wortlaut des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X jedenfalls ein Fall der Nr. 3 der Vorschrift vor, da der Kläger zu 2. nach Erlass des Bescheids vom 24.3.2020 Einkommen erzielt hat, das in Verbindung mit dem Kindergeld den Anspruch der Kläger auf Leistungen nach dem SGB II im Zeitraum 1.4. – 30.9.2020 rechnerisch vollständig entfallen ließ. Ebenfalls nicht völlig fernliegend erscheint die Annahme eines Falls des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X, also einer Pflicht der Kläger zur Mitteilung dieses Einkommens zumindest dem Grunde nach, sobald der Kläger zu 2. – unstreitig bereits im April 2020 – wieder Geschäftstätigkeiten entwickelt und Umsätze zu generieren begonnen hatte. Und schließlich wäre auch zu prüfen, ob die Kläger nicht im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X nach Wiederaufnahme der Geschäftstätigkeit des Klägers zu 2. wussten oder zumindest wissen mussten, dass sich ihre Ansprüche nach dem SGB II voraussichtlich deswegen reduzieren würden. Für die Kläger ist im Widerspruchsverfahren durch die Steuerberaterin, Frau M., vorgetragen worden, dass jedenfalls § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 4 SGB X nicht erfüllt waren, da die Kläger während des laufenden Bewilligungsabschnitts selbst noch nicht erkennen konnten, ob und in welcher Höhe aus der Geschäftstätigkeit bzw. den erzielten Umsätzen ein Gewinn und damit ein im Rahmen des SGB II anrechenbares Einkommen entstanden war. Die Steuerberaterin hat glaubhaft geschildert, dass dies immer erst nach der Verarbeitung der Umsätze durch die von ihr vorgenommene professionelle Buchhaltung erkennbar gewesen sei, also noch nicht während eines laufenden Bewilligungszeitraums. Ob dies tatsächlich dazu führt, die Kläger vollständig von jeglicher Kenntnis oder zumindest möglichen Kenntnis zu entlasten, dass nach Wiederaufnahme der Geschäftstätigkeit des Klägers zu 2. zumindest dem Grunde nach wieder anrechenbares Einkommen vorhanden sein könnte, kann aber dahingestellt bleiben, da ohnehin bereits § 48

Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X, der gar kein subjektives Element voraussetzt, erfüllt wäre.

 

Tatsächlich hält die Kammer allerdings § 48 SGB X in der hier vorliegenden Situation, nämlich der nachträglichen Änderung gerade der Verhältnisse, die der Prognose im Rahmen eines vorläufigen Leistungsbescheids nach § 41a SGB II zugrunde gelegen haben, unter der Geltung des § 67 Abs. 4 SGB II gar nicht für anwendbar; zumindest wenn die Aufhebungsentscheidung erst nach Ende des Bewilligungsabschnitts erfolgt.

 

Mit dem Verhältnis von § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X zu § 41a SGB II unter der Geltung des § 67 Abs. 4 SGB II hat sich bereits das Landessozialgericht Baden-Württemberg in einem Urteil vom 22.11.2022 (Az. L 13 AS 1610/22 - juris) befasst. Zu entscheiden war dort ein Fall, in dem die Leistungsbewilligung - während der Geltungszeit des § 67 Abs. 4 SGB II – nach § 41a SGB II vorläufig erfolgt war und während des Leistungsabschnitts ein Einkommen erzielt wurde, das zu einer Verminderung des vorläufig ermittelten Leistungsanspruchs führte. Das LSG Baden-Württemberg hat in dieser Situation eine Anpassung der Leistungshöhe durch Aufhebung und Erstattung nach §§ 48, 50 SGB X während des laufenden Leistungszeitraums für zulässig gehalten (Urteil vom 22.11.2022, Az. L 13 AS 1610/22 – juris, Rn. 29ff), insbesondere auch unter Geltung des § 67 Abs. 4 SGB II, aufgrund dessen die bisher gleichsam automatisch zu erwartende endgültige Bewilligung nach § 41a Abs. 3, Abs. 4, Abs. 6 SGB II gerade nicht mehr standardmäßig erfolgte. Es müsse, so das LSG Baden-Württemberg, für den Leistungsträger daher gerade aufgrund des Ausfalls des Korrektivs nach § 41a Abs. 3, Abs. 4 SGB II die Möglichkeit geben, nach Bescheiderlass eingetretene leistungsrelevante Veränderungen zu berücksichtigen. Dies sei insbesondere auch aus Gleichheitsgründen geboten im Hinblick auf Leistungsbezieher, deren Leistungen von vorneherein endgültig (und daher dem § 48 SGB X in jedem Fall zugänglich) bewilligt würden.

 

Der vom LSG Baden-Württemberg entschiedene Fall ist jedoch mit der hier gegebenen Konstellation unter zwei Aspekten nicht vergleichbar. Diese Unterschiede rechtfertigen nach Auffassung der Kammer, den hier vorliegenden Fall anders zu behandeln als den im Verfahren L 13 AS 1610/22.

 

Der erste Unterschied besteht darin, dass im dortigen Fall die Aufhebungsentscheidung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X wegen eines unvorhergesehenen Einkommenszuflusses noch während des laufenden Bewilligungsabschnittes erfolgte, also zu einem Zeitpunkt, als der Betroffene noch gar keine „Gesamtbilanz“ ziehen und von seinem Wahlrecht nach § 67 Abs. 4 Satz 2 SGB II Gebrauch machen konnte. Im hier zu entscheidenden Fall war dagegen zum Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung am 11.3.2021 der Bewilligungsabschnitt bereits seit über fünf Monaten abgelaufen und die Kläger hatten bereits von ihrem Wahlrecht nach § 67 Abs. 4 Satz 2 SGB II dahingehend Gebrauch gemacht, keine endgültige Entscheidung zu beantragen. In der hier vorliegenden Situation, d. h. erst nach Ablauf des Bewilligungsabschnitts, entgegen § 67 Abs. 4 Satz 2 SGB II eine Änderung der Leistungsbewilligung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X zuzulassen hieße, das Wahlrecht gänzlich auszuhebeln. Es verbliebe dann buchstäblich kein Anwendungsbereich des § 67 Abs. 4 Satz 2 SGB II mehr. Jede Änderung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse und damit jede Abweichung von der im Rahmen der vorläufigen Leistungsbewilligung nach § 41a SGB II getroffenen Prognose würde dann eine Neuberechnung der Leistungen auch gegen den Willen der Betroffenen auslösen, die nach der oben zitierten Intention des Gesetzgebers durch § 67 Abs. 4 Satz 2 SGB II aber gerade vermieden werden sollte, um sowohl die Leistungsbezieher als auch die Leistungsträger zu entlasten. Daher ist die Kammer der Überzeugung, dass eine Leistungsaufhebung nach § 48 SGB X im Bereich des § 41a SGB II jedenfalls unter Geltung des § 67 Abs. 4 SGB II allenfalls während des laufenden Bewilligungsabschnitts möglich sein kann; danach (wie hier) aber nicht mehr.

 

Der zweite wesentliche Unterschied zwischen dem oben zitierten, vom LSG Baden-Württemberg entschiedenen Fall und dem hier zu entscheidenden Fall liegt darin, dass dort während des laufenden Bewilligungsabschnitts ein unvorhergesehener Einkommenszufluss eingetreten war, der mit dem Grund für die Vorläufigkeit der Bewilligung in keinem inhaltlichen Zusammenhang stand. Dort war Grund der Vorläufigkeit das Vorliegen einer temporären Bedarfsgemeinschaft des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen mit seinen – ansonsten überwiegend bei der Mutter lebenden – minderjährigen Kindern, die sich in wechselnder und vorher häufig noch nicht genau festgelegter Dauer in seinem Haushalt aufhielten. Der streitige Einkommenszufluss erfolgte dagegen in Form einer Einkommenssteuerrückerstattung, die mit dem Vorliegen der temporären Bedarfsgemeinschaft und der dadurch schwankenden Leistungshöhe in keinerlei Zusammenhang stand und die daher auch nicht Teil der entsprechenden Prognose nach § 41a SGB II sein konnte. Hier dagegen ist eine Änderung in genau der Einkommensart und –höhe eingetreten, wegen derer die Bewilligung vorläufig erfolgt war – nämlich im Hinblick auf das Einkommen des Klägers zu 2. aus seiner selbständigen Tätigkeit als Gebrauchtwagenhändler. Auch diese zwei Konstellationen sind nach Überzeugung der Kammer grundlegend unterschiedlich zu bewerten. Es erscheint plausibel, dass das LSG Baden-Württemberg in dem oben genannten Urteil dem Leistungsträger die Möglichkeit eröffnen wollte, völlig unerwartete, neue leistungsrelevante Tatsachen, die bei der Prognose nach § 41a SGB II noch gar keine

Rolle spielen konnten oder mussten, nachträglich auch zum Nachteil der Betroffenen in die Leistungsberechnung einzubeziehen. Insoweit ist insbesondere dem Gleichheitsgedanken – im Vergleich mit Leistungsbeziehern, die die Leistungen von vorneherein endgültig erhalten und daher stets dem § 48 SGB X ausgesetzt sein können – eine erhebliche Bedeutung beizumessen. Es erscheint überzeugend, dass der dortige, vorläufige Leistungen beziehende Kläger hinsichtlich der Anrechnung der Steuerrückerstattung nicht gleichsam zufällig günstiger behandelt werden sollte als eine endgültige Leistungen beziehende Person mit dem gleichen unvorhergesehenen Einkommenszufluss, nur weil bei letzterer kein Grund für eine Bewilligung nach § 41a SGB II vorgelegen hatte. Daraus folgt aber auch, dass bei leistungsrelevanten Tatsachen, die (wie hier das Einkommen des Klägers zu 2.) gerade den Grund der Vorläufigkeit der Entscheidung selbst betreffen und daher Gegenstand der Prognose nach § 41a SGB II waren, eine andere Wertung angezeigt ist. Würde jede Abweichung der tatsächlichen Einkommenshöhe von dem Betrag, der für genau diese Einkommensart in der Prognose angesetzt wurde, eine anschließende Anpassung der Leistungen nach § 48 SGB X nach sich ziehen, würden auch hier der Gesetzeszweck des § 67 SGB II und die dort und in § 41a SGB II vorgesehenen Vereinfachungen und Entlastungen eklatant unterlaufen; auch dann würde das Wahlrecht des Betroffenen nach § 67 Abs. 4 Satz 2 SGB II vollständig ins Leere gehen. Der Gesetzeszweck des § 67 SGB II, der sowohl in erhöhter Planungssicherheit für die Betroffenen als auch in der Entlastung der während der Pandemie unter besonders schwierigen personellen und organisatorischen Bedingungen arbeitenden Leistungsträger lag, würde gerade vereitelt. Daher kann nach Auffassung der Kammer eine Änderung der Verhältnisse, die gerade den Grund der Vorläufigkeit und damit die Prognose hinsichtlich genau dieses Berechnungsfaktors tangiert, unter Geltung des § 67 Abs. 4 SGB II nach Ende des Bewilligungsabschnitts keine Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X auslösen.

 

Das gleiche gilt nach Überzeugung der Kammer auch, wenn man hier die Leistungsaufhebung wegen der von der Prognose abweichenden Einkommenshöhe des Klägers zu 2. auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 oder Nr. 3 SGB X stützen wollte, also den Klägern eine Verletzung ihrer Mitteilungspflichten oder aber eine sich nach Bescheiderlass entwickelnde Kenntnis bzw. grob fahrlässige Unkenntnis von der Fehlerhaftigkeit der Prognose vorwerfen würde. Bereits § 41a SGB II in seiner bisherigen Form vor der COVID-19-Pandemie, ohne die Modifizierung durch § 67 Abs. 4 SGB II, sah – in Form der in Abs. 3 und Abs. 6 SGB II vorgesehenen „Bilanz“ erst nach Ende des Bewilligungsabschnitts und in Form der Rückrechnung anhand eines Durchschnittsein-

kommen nach Abs. 4 – erhebliche Verfahrensvereinfachungen gegenüber einer – ggf. monatlich zu überwachenden und bescheidmäßig umzusetzenden – Anwendung des § 48 SGB X auf endgültige Leistungsbescheide vor. Diese Verfahrensweise war den Klägern auch bereits aus dem vorausgegangenen Bewilligungsabschnitt, während dessen sie ebenfalls Leistungen nach § 41a SGB II vorläufig bezogen, vertraut. Wollte man hier die Aufhebung auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 oder Nr. 3 SGB X stützen mit der Begründung, dass die Kläger - anders als im vorausgegangenen Bewilligungsabschnitt! – diesmal bereits während des laufenden Bewilligungsabschnitts hätten erkennen und mitteilen müssen, dass das Einkommen des Klägers zu 2. möglicherweise mehr als „Null“ betragen würde, würde man damit gleichsam eine gesteigerte, zeitnähere Mitwirkungspflicht der Kläger konstruieren bzw. höhere Ansprüche an die von den Klägern zu erwartenden Erkenntnisse und Rückschlüsse bezüglich der ihnen zustehenden Leistungen stellen, als der Beklagte im vorausgegangenen Bewilligungsabschnitt von den Klägern verlangt hatte. Dies würde im Ergebnis bedeuten, dass unter der Geltung des – auf Entlastung und Vereinfachung ausgerichteten! – § 67 Abs. 4 SGB II höhere Anforderungen an Mitwirkung und „Mitdenken“ der Betroffenen gestellt würden als vor der Neufassung des § 67 SGB II. Dadurch würde nicht nur ebenfalls das Wahlrecht aus § 67 Abs. 4 Satz 2 SGB II unterlaufen, das dem Betroffenen gerade ermöglichen will, zunächst den Ablauf des Bewilligungsabschnitts abzuwarten und dann „Bilanz“ zu ziehen, welche Berechnungsart (vorläufig oder endgültig) für ihn günstiger ist. Man würde auch gegenüber dem „reinen“ § 41a SGB II zusätzlich den Vertrauensschutz der Betroffenen einschränken. Dies widerspräche der gesetzgeberischen Intention hinter § 67 Abs. 4 SGB II diametral. Die Kammer schließt daraus, dass eine Aufhebungsentscheidung nach § 48 SGB X hinsichtlich einer vorläufigen Leistungsbewilligung nach § 41a SGB II nach Ende des Bewilligungsabschnitts wegen einer von der ursprünglichen Prognose im vorläufigen Bescheid abweichenden Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen unter der Geltung des § 67 Abs. 4 SGB II generell nicht möglich ist, wenn die Änderung gerade den Grund der Vorläufigkeit betrifft, wie hier die geschätzte Einkommenshöhe aus einer bestimmtem Einkommensquelle. Weder ist dann der Anwendungsbereich des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 X eröffnet, noch können im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X gegenüber § 41a Abs. 3 SGB II gesteigerte Mitwirkungspflichten der Betroffenen konstruiert werden. Von gesteigerten Erwartungen an den Reflexionsgrad der Betroffenen über die Höhe der zustehenden Leistungen im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X – im Vergleich zu § 41a Abs. 6 SGB X - dispensiert § 67 Abs. 4 Satz 2 SGB II ebenfalls.

 

Für den vorliegenden Fall, in dem die streitbefangene Änderung der Verhältnisse sich unmittelbar auf die Prognose bezieht (Höhe des Einkommens des Klägers zu 2. aus seiner selbständigen Tätigkeit) und die Aufhebungsentscheidung erst nach Ende des Bewilligungsabschnitts erfolgte, bedeutet dies, dass die Sonderregelung des § 67 Abs. 4 Satz 2 SGB II der Eröffnung des Anwendungsbereichs des § 48 Abs. 1 SGB X entgegensteht. Auch auf § 48 Abs. 1 i. V. m. § 50 SGB X kann der Beklagte daher die Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung nicht stützen.

 

4. Da auch keine weiteren Rechtsgrundlagen ersichtlich sind, auf die der Beklagte die angefochtene Entscheidung in rechtmäßiger Weise stützen könnte, waren die entsprechenden Bescheide antragsgemäß aufzuheben.

 

Ausführungen zur zutreffenden Berechnung des Rückforderungsbetrags erübrigen  sich vor diesem Hintergrund; im Übrigen haben die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung am 15.3.2023 ihre Meinungsverschiedenheiten zur Berücksichtigungsfähigkeit der Corona-Soforthilfe beigelegt, nachdem sich herausgestellt hat, dass der Beklagte diese ohnehin in korrekter Form – nämlich lediglich durch die Absetzung von den Betriebsausgaben - berücksichtigt hatte.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits in der Hauptsache.

 

 

Rechtskraft
Aus
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