L 10 R 2383/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 10 R 309/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 2383/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Grob fahrlässig falsche Angaben (hier: Verschweigen einer eigenen Versichertenrente bei Antragstellung auf Witwenrente) liegen auch dann vor, wenn eine dritte Person das Antragsformular ausfüllt und die Versicherte dies "blind" unterschreibt. Im Rahmen des Ermessens ist nicht zugunsten der Versicherten einzustellen, dass die Beklagte keinen Datenabgleich mit einem anderen Versicherungsträger vorgenommen hat.

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 21.06.2022 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Anschlussberufung der Klägerin wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten steht die teilweise Rücknahme und Erstattung überzahlter Witwenrente im Streit.

Die 1951 geborene Klägerin war von 1999 bis zu seinem Tod 2017 mit dem bei der Beklagten rentenversicherten F1 (im Folgenden: der Versicherte) verheiratet (s. Antrag Bl. 6 ff. VA Falz 1). Sie bezieht seit Juli 2014 eine eigene Versichertenrente von der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg (DRV BW, Bl. 19 VA Falz 2).

Am 08.08.2017 suchte die Klägerin die Rentenstelle der Beklagten in R1 auf und stellte mithilfe des dortigen Versichertenberaters R2 einen Antrag auf Witwenrente (Bl. 6 ff. VA Falz 1). Im Rahmen dieses Termins bestätigte sie mit ihrer Unterschrift auf der Anlage zum Antrag auf Hinterbliebenenrente/Erziehungsrente - Angaben zum Einkommen - R0660 (im Folgenden: Anlage R0660, Bl. 14 ff. VA Falz 1), dass sie keinerlei Einnahmen habe, insbesondere auch keine aus Arbeitseinkommen (Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb oder selbständiger Arbeit) oder dauerhaftem Erwerbsersatzeinkommen -, wobei in Nr. 7.1 der Anlage R0660 ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass hierzu u.a. auch eine Rente aus eigener Versicherung zählt.

Mit Bescheid vom 05.12.2017 gewährte die Beklagte der Klägerin eine große Witwenrente ab dem 29.06.2017 in Höhe von monatlich 954,01 € (monatlicher Zahlbetrag 850,50 €, Bl. 73 ff. VA Falz 2), auf die sie kein Einkommen der Klägerin anrechnete. Auf Seite 3 dieses Bescheides wurde die Klägerin darüber belehrt, dass Erwerbseinkommen - namentlich Arbeitsentgelt, Arbeitseinkommen (Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbetrieb oder selbständiger Arbeit), vergleichbares Einkommen (zum Beispiel Abfindung oder Überbrückungsgeld vom Arbeitgeber) - und Erwerbsersatzeinkommen - namentlich u.a. Versichertenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung - Einfluss auf die Höhe der Rente haben könne und sie daher unverzüglich mitteilen müsse, wenn sie Erwerbseinkommen oder Erwerbsersatzeinkommen beziehe.

Aufgrund eines seitens der Beklagten im September 2019 durchgeführten Suchlaufs erhielt sie Kenntnis davon, dass die Klägerin eine Versichertenrente der DRV BW bezieht (Bl. 3 f. VA Falz 2). Mit Schreiben vom 01.11.2019 (Bl. 4 VA Falz 2) übersandte sie der Klägerin (erneut) die Anlage R0660 und forderte sie auf, diese ausgefüllt zurückzusenden. Die Klägerin füllte die Anlage R0660 daraufhin aus (Bl. 6 ff. VA Falz 2) und gab an, seit Januar 2009 Einkommen aus dem Betrieb einer Photovoltaikanlage zu haben. Hingegen verneinte sie wiederum, eine Rente aus eigener Versicherung zu beziehen. 

Die Beklagte forderte die Klägerin im Hinblick auf das angegebene Einkommen aus dem Betrieb der Photovoltaik-Anlage sodann mit Schreiben vom 04.12.2019 auf, auch die Anlage zur Ermittlung des Einkommens für Anträge auf Hinterbliebenenrente (Anlage R0666) auszufüllen und an sie zurückzusenden (Bl. 16 VA Falz 2).

Am 02.12.2019 gingen sodann die seitens der Beklagten bei der DRV BW angeforderten Rentenzahldaten (Bruttorente im Juni 2017 1.446,82 €, ab Juli 2017 1.474,38 €, ab Juli 2018 1.521,90 €, ab Januar 2019 1.601,97 €, ab Juli 2019 1.652,99 €) ein (Bl. 18 VA Falz 2). Im Juni 2020 teilte die DRV BW der Beklagten außerdem mit, dass die monatliche Rente der Klägerin ab Juli 2020 1.710,- € betragen werde (Bl. 33 VA Falz 2). 

Mit Schreiben vom 11.02.2020 (Bl. 20 VA Falz 2) und vom 12.03.2020 (Bl. 21 VA Falz 2) erinnerte die Beklagte die Klägerin an die Übersendung der Anlage R0666, woraufhin sie im April 2020 (Bl. 22 ff. VA Falz 2) ihre Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2016 bis 2018 (Bl. 25 ff. VA Falz 2) übersandte. Aus dem Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2018 ist zu entnehmen, dass die Klägerin im Jahr 2018 neben Renteneinkünften (erstmals) auch Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 30,- € hatte.

Mit Schreiben vom 08.06.2020 (Bl. 40 VA Falz 2) hörte die Beklagte die Klägerin zur beabsichtigten Rücknahme des Bescheides vom 05.12.2017 mit Wirkung ab dem 01.10.2017 nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) wegen überzahlter Witwenrente für den Zeitraum 01.10.2017 bis 30.06.2020, einer zukünftigen Auszahlung der Witwenrente in korrekter Höhe von monatlich 735,28 € und einer Rückforderung des überzahlten Betrages in Höhe von 5.792,16 € an und wies die Klägerin darauf hin, dass während der Zeit der Vorschusszahlung vom 29.06.2017 bis 30.09.2017 keine Einkommensanrechnung stattfinde.

Die Klägerin teilte der Beklagten daraufhin mit (Bl. 43 f. VA Falz 2), dass sie im August 2017 mit ihrem Sohn und ihren vollständigen Unterlagen, die auch ihren Rentenbescheid enthalten hätten, bei der Rentenstelle in R1 gewesen sei und dort gebeten habe, ihr bei der Beantragung der Witwenrente zu helfen, was auch geschehen sei. Außer ihren persönlichen Daten habe sie die seitens der Beklagten außerdem eingetragenen Angaben nicht prüfen können. Es verwundere sie daher, dass nun eine Rückforderung erfolgen solle. Sie habe sich auf die Experten der Rentenstelle verlassen und keinen Fehler gemacht. Sie habe die Fehlerhaftigkeit des Rentenbescheides nicht erkennen können, da Zahlen und Daten über 20 Seiten für einen „Rentenlaien“ nicht nachvollziehbar seien. Außerdem stelle die Rückforderung für sie eine unbillige Härte in finanzieller Hinsicht dar. Sie könne diesen Betrag nicht aufbringen. Sie verstehe auch nicht, weshalb dieser Fehler trotz der heutigen Vernetzung durch Computer nicht früher aufgefallen sei.

Mit Bescheid vom 22.07.2020 (Bl. 50 ff. VA Falz 2) berechnete die Beklagte die Witwenrente der Klägerin ab dem 29.06.2017 neu, gewährte ihr ab dem 01.08.2020 eine monatliche Rente in Höhe von 823,37 € (monatlicher Zahlbetrag in Höhe von 735,28 €), nahm den Rentenbescheid vom 05.12.2017 in der Fassung der Folgebescheide hinsichtlich der Rentenhöhe mit Wirkung ab dem 01.10.2017 nach § 45 SGB X in Höhe von 5.995,58 € zurück und verlangte die im Zeitraum 01.10.2017 bis 31.07.2020 entstandene Überzahlung gem. § 50 SGB X erstattet. Zur Begründung führte sie aus, dass die Voraussetzungen der Bescheidrücknahme nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 bis 3 SGB X gegeben seien. Die Klägerin habe bei der Rentenantragstellung die (negativen) Angaben zu ihrem Einkommen zur Kenntnis genommen und mit ihrer Unterschrift bestätigt. Darüber hinaus habe sie versichert, dass alle dort gemachten Angaben korrekt seien und sich verpflichtet, den Rentenversicherungsträger zu benachrichtigen, sofern sich an ihrem Einkommen etwas ändere. Seitens der Beratungsstelle R1 sei kein Vermerk aufgenommen worden, dass bei der Rentenantragstellung ihr eigener Rentenbescheid vorgelegen habe. Im Rahmen der Ermessensausübung seien die seitens der Klägerin vorgetragenen Argumente berücksichtigt und das „Für und „Gegen“ der Bescheidrücknahme abgewogen worden. Schließlich habe man dem Interesse der Versichertengemeinschaft an der Rücknahme des Bescheides und der Rückforderung des überzahlten Betrages ein gegenüber dem Interesse der Klägerin an dem Behaltendürfen des überzahlten Betrages größeres Gewicht beigemessen.

Den hiergegen erhobenen Widerspruch (Bl. 49 VA Falz 2) begründete die Klägerin damit, dass sie bei der Rentenantragstellung ihren eigenen Rentenbescheid vorgelegt habe. Sie sei nach dem Tod des Versicherten während einer Urlaubsreise auf Sri Lanka psychisch sehr angeschlagen und auf die Unterstützung durch die Rentenantragstelle in R1 angewiesen gewesen (Bl. 71 VA Falz 2). Sie überließ zugleich eine Bescheinigung des H1 vom 31.08.2020 (Bl. 72 VA Falz 2), in der dieser bestätigte, dass die Klägerin seit 19.04.2018 in seiner ambulanten Behandlung stehe und es im Zusammenhang mit ihrer psychischen Erkrankung zu Beeinträchtigungen von Konzentration und Gedächtnis komme. Sie habe glaubhaft angegeben, dass dies nach dem Tod des Versicherten im Juni 2017 in noch weit größerem Ausmaß der Fall gewesen sei, u.a. bei „ihrer Untersuchung“ bei der Rentenversicherung in R1 im August 2017. Aus psychiatrischer Sicht sei davon auszugehen, dass ihr ihre situationsbedingten Fehlleistungen nicht vorzuwerfen seien.

Mit Widerspruchsbescheid vom 08.01.2021 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin u.a. mit der Begründung zurück (Bl. 81 ff. VA Falz 2), dass sie verpflichtet gewesen sei, den Bescheid mit seinen Mitteilungs- und Mitwirkungspflichten zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen. Sie habe es dennoch unterlassen mitzuteilen, dass sie sowohl eine eigene Versichertenrente als auch Einkommen aus einer Photovoltaik-Anlage erhalte. Da sie jedoch auf die Auswirkungen einer Einkommenserzielung auf die Witwenrente und ihre Mitwirkungspflicht bezüglich der Erzielung von Einkommen hingewiesen worden sei, habe sie die Mitteilung zumindest grob fahrlässig unterlassen. Ihr Einwand, dass bei Rentenantragstellung ihr Rentenbescheid vorgelegen habe, sei weder nachgewiesen, noch wahrscheinlich. Wenn der Sohn dies tatsächlich bestätigen könne, stelle sich die Frage, weshalb die diesbezüglichen Fragen in der Anlage R0660 verneint worden seien. Im Übrigen habe sie auch noch im November 2019 die explizite Frage nach einer Rente aus eigener Versicherung ausdrücklich verneint. Der Versichertenberater habe die von ihr vorgelegten Unterlagen dokumentiert (Geburtsurkunde des Kindes, Lebenslauf, Sterbeurkunde, Gesellenbrief und Abschlusszeugnis der Gesamthochschule, Bl. 13 VA Falz 2). Es sei daher sehr unwahrscheinlich, dass er den Rentenbescheid, wenn er vorgelegt worden sei, nicht dokumentiert hätte.

Hiergegen hat die Klägerin am 11.02.2021 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass der angefochtene Bescheid nur für die Zukunft hätte zurückgenommen werden dürfen, da sie keine grob fahrlässig falschen Angaben gemacht habe. Sie habe sich nach dem Tod des Versicherten in einer psychischen Ausnahmesituation befunden. Sie selbst sei davon überzeugt, bei der Rentenantragstelle alle Unterlagen vorgelegt zu haben, was ihr Sohn bestätigen könne. Sie habe wegen der bestehenden Unsicherheiten extra einen Rentenberater aufgesucht und darauf vertraut, dass dieser die Unterlagen zutreffend ausfülle. Zwar könne der Umstand, dass sie die vom Rentenberater danach ausgefüllten Unterlagen nicht nochmals kontrolliert habe als fahrlässig angesehen werden, jedoch nicht als grob fahrlässig im Sinne des § 45 SGB X. Die Beklagte habe nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt, dass sie zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung durch den plötzlichen Tod des Versicherten massiv angeschlagen gewesen sei. Überdies hätte die Beklagte durch einen Datenabgleich ihren Rentenbezug feststellen können. Daher sei sie nicht allein für die Überzahlung verantwortlich. Sie hat eine Bescheinigung der U1 aus September 2020 (S. 18 SG-Akte) und ein Schreiben ihres Sohnes P1 vom 06.01.2021 vorgelegt (S. 19 SG-Akte), in dem dieser bestätigt hat, sie zur Rentenantragstellung begleitet zu haben. Dort sei der Antrag von einem Mitarbeiter nach Vorlage sämtlicher Unterlagen, u.a. des Rentenbescheides, ausgefüllt worden.

Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin (schriftlich) als sachverständige Zeugen befragt. Der S1 hat mitgeteilt (S. 43 SG-Akte), dass die Klägerin nach dem Tod des Versicherten an einer schweren depressiven Episode u.a. mit schwerer Antriebsstörung, Insomnie und Kreisdenken gelitten habe. Die Klägerin sei zwar verlangsamt gewesen, habe jedoch keine formalen Denkstörungen gehabt und sei zu allen Qualitäten orientiert und voll geschäftsfähig gewesen. An eine rechtliche Betreuung habe er nie gedacht. U1 hat ausgeführt (S. 97 ff. SG-Akte), die Klägerin erstmals am 09.08.2017 nach dem traumatisch erlebten unvorhersehbaren Tod des Versicherten behandelt zu haben. Dieser habe zu Schocksymptomen wie Eingefroren-Sein, Leere, Verzweiflung und deutlicher Beeinträchtigung der mnestischen Funktionen - Konzentrations-, Aufmerksamkeits-, Wahrnehmungs- und Gedächtnisleistung seien erheblich eingeschränkt gewesen - geführt, so dass komplizierte Sachverhalte damals nicht vollständig erfasst bzw. nachvollzogen werden konnten. Einfache Dinge des Alltags hätten von der Klägerin selbständig wahrgenommen werden können bzw. teilweise mit Unterstützung. Vor allem bei behördlichen Angelegenheiten habe sie bei ihren Kindern nachgefragt und sich um Begleitung bemüht. Eine rechtliche Betreuung sei nicht als erforderlich angesehen worden, da sich die Klägerin ihres Unterstützungsbedarfs bewusst gewesen sei und bei Vertrauenspersonen um Hilfe nachgefragt habe. H1 hat mitgeteilt (S. 100 f. SG-Akte), dass die Klägerin erst ab dem 19.04.2018 in seiner Behandlung gestanden habe. Er gehe jedoch davon aus, dass von Juni 2017 bis Januar 2018 dieselben Gesundheitsstörungen vorgelegen hätten wie zu Beginn seiner Behandlung. Sie sei depressiv, bleich, unruhig, latent ängstlich und gespannt gewesen, weshalb er eine mittelgradige Depression und eine Anpassungsstörung diagnostiziert habe. Die Klägerin sei damals nicht in der Lage gewesen, ihre alltäglichen Geschäfte alleine und eigenständig zu erledigen, weshalb sie sich auch der Hilfe von Freunden und Verwandten bedient habe. Angesichts der guten Motivation und der sich bald abzeichnenden Besserung seien zusätzliche Maßnahmen nicht erforderlich gewesen, weshalb auch keine rechtliche Betreuung notwendig gewesen sei.

Mit Urteil vom 21.06.2022 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 22.07.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.01.2021 aufgehoben, soweit der Rentenbescheid vom 05.12.2017 für die Zeit vom 29.06.2017 bis 31.07.2020 hinsichtlich der Rentenhöhe aufgehoben und in diesem Zeitraum entstandene Überzahlungen zurückgefordert worden sind und angeordnet, dass die Beklagte die außergerichtlichen Kosten der Kläger zu tragen habe, da die Klägerin weder die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 05.12.2017 gekannt oder in Folge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X), noch vorsätzlich oder grob fahrlässig falsche oder unvollständige Angaben gemacht habe (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X). Die Klägerin habe glaubhaft versichert, dem Versichertenberater alle Unterlagen vorgelegt zu haben und habe daher auch darauf vertrauen dürfen, dass er den Rentenantrag anhand dieser Unterlagen korrekt ausfülle.
 
Gegen das ihr am 21.07.2022 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 19.08.2022 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X vorlägen. Die Klägerin habe bei der Rentenantragstellung den Bezug einer eigenen Versichertenrente verschwiegen. Sie - die Beklagte - habe erst im September 2019 Kenntnis von dem Bezug einer eigenen Versichertenrente der Klägerin aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten. Im Rahmen der daraufhin eingeleiteten Ermittlungen habe die Klägerin zwar die Erzielung von Einkünften aus Gewerbebetrieb ab dem Jahr 2018 angegeben, jedoch weiterhin den Bezug einer eigenen Versichertenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wahrheitswidrig verschwiegen. Die Klägerin habe den Bezug einer eigenen Rente daher mindestens grob fahrlässig, wenn nicht sogar vorsätzlich verschwiegen. Sie könne schon nicht nachweisen, dass sie dem Rentenberater tatsächlich alle Unterlagen überreicht habe. Hieran bestünden erhebliche Zweifel, da eine rechtskundige Person den Bezug einer Rente berücksichtigt und die entsprechenden Fragen bejaht hätte. Auch sei das „blinde“ Unterschreiben des Antrags nach der Rechtsprechung (u.a. LSG Baden-Württemberg 23.05.2022, L 5 R 2792/21; 07.11.2006, L 11 R 2053/06; Bayerisches LSG 27.11.2014, L 14 R 741/12; LSG Berlin-Brandenburg 29.08.2013, L 2 R 825/12; Sächsisches LSG 18.12.2012, L 4 R 737/10; Hessisches LSG 21.10.2011, L 7 AL 101/11) als grob fahrlässig zu werten. Die seitens der Klägerin vorgetragene psychische Ausnahmesituation entlaste sie nicht, da sie nach der Auskunft des S1 trotzdem voll geschäftsfähig gewesen sei. Im Übrigen habe die Klägerin auch entgegen dem eindeutigen Hinweis im Rentenbewilligungsbescheid nicht von sich aus ihre im Jahr 2018 erzielten Einkünfte aus Gewerbebetrieb mitgeteilt. Zudem lägen auch die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X vor, da die Klägerin nach der Lektüre des Rentenbewilligungsbescheides hätte erkennen müssen, dass in der Anlage „Berechnung der Rente“ u.a. kein zu berücksichtigendes Einkommen aufgeführt gewesen sei. Die Bekanntgabe des Rentenbewilligungsbescheides sei ungefähr ein halbes Jahr nach dem Tod des Versicherten erfolgt, so dass davon auszugehen sei, dass zu diesem Zeitpunkt der „erste Schockmoment“ überwunden gewesen sei und die Klägerin trotz unbestrittener Trauerphase die leicht verständlichen Informationen hätte verstehen müssen. Komplexe Rentenberechnungen habe die Klägerin hingegen nicht verstehen müssen. Soweit sich die Klägerin darauf berufe, dass sie - die Beklagte - durch einen einfachen Datenabgleich Kenntnis vom Bezug der Versichertenrente hätte erlangen können, entbinde sie das nicht davon, wahrheitsgemäße Angaben zu machen, da ihr die primäre Verpflichtung obliege, Einkommen anzuzeigen (u.a. LSG Baden-Württemberg 12.10.2020, L 11 R 4263/19; 13.08.2008, L 6 R 5271/07).

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 21.06.2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf das erstinstanzliche Urteil und ergänzt, dass sie zu keinem Zeitpunkt den Bezug der eigenen Rente weder grob fahrlässig noch vorsätzlich verschwiegen habe, da sie davon ausgegangen sei, dass die Beklagte in Kenntnis ihrer eigenen Rente die Witwenrente bewilligt und ausgezahlt habe. Sie habe auf die Fachkräfte der Beklagten vertraut. Zudem hätte die Beklagte durch einen einfachen Datenabgleich eine Überzahlung der Witwenrente verhindern können. Außerdem hat sie mit Schriftsatz vom 04.10.2022 Anschlussberufung erhoben, ohne jedoch einen über die Zurückweisung der Berufung hinausgehenden Antrag zu stellen (S. 25 Senatsakte).

Am 23.01.2023 hat eine mündliche Anhörung der Beteiligten durch die Berichterstatterin des Senats stattgefunden. Hinsichtlich der Einzelheiten der von den Beteiligten in deren Rahmen gemachten Ausführungen wird auf die Niederschrift verwiesen (S. 36 ff. Senatsakte).

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (S. 48 und 50 Senatsakte).


Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Akten beider Rechtszüge Bezug genommen.





Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung der Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG entscheidet, ist zulässig und begründet.

Soweit die Klägerin ihrerseits Anschlussberufung erhoben hat, ist diese bereits unzulässig, da sie - trotz Nachfrage des Senats - kein über die bloße Zurückverweisung der Berufung der Beklagten hinausgehendes Begehren formuliert (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 143 Rn. 5d), sondern vielmehr ausdrücklich mitgeteilt hat, dass eine „Klageerweiterung“ derzeit nicht beabsichtigt sei (S. 29 Senatsakte) und sie schließlich auch ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erteilt hat, ohne ein Anschlussberufungsbegehren zu äußern. Die Anschlussberufung der Klägerin ist damit in entsprechender Anwendung des § 158 Satz 1 SGG (s. dazu nur Keller a.a.O., § 158 Rn. 6a) als unzulässig zu verwerfen. 


Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid der Beklagten vom 22.07.2020 in der Gestalt (§ 95 SGG) des Widerspruchsbescheids vom 08.01.2021 und dies auch nur insoweit, wie die Beklagte damit den Rentenbescheid vom 05.12.2017 für die Zeit vom 01.10.2017 bis 30.07.2020 hinsichtlich der Rentenhöhe zurückgenommen und die in diesem Zeitraum entstandenen Überzahlungen zurückgefordert hat. Soweit die Beklagte in diesem Bescheid zusätzlich die Höhe der Witwenrente für die Zukunft, also für die Zeit ab 01.08.2020, unter Berücksichtigung der eigenen Versichertenrente der Klägerin sowie deren Einkünfte aus Gewerbebetrieb (Betrieb der Photovoltaikanlage) neuberechnet und entsprechend gekürzt hat, ist der Bescheid schon nicht Gegenstand des Verfahrens, da er insoweit bestandskräftig geworden ist (§ 77 SGG). Die Klägerin hat nämlich im Rahmen der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung ihr Begehren ausdrücklich auf die Rücknahme des Rentenbewilligungsbescheides vom 05.12.2017 für die Vergangenheit und auf die in diesem Zeitraum entstandenen Überzahlungen beschränkt. Gegen die Neuberechnung der Witwenrente ab dem 01.08.2020 hat sich die Klägerin hingegen ausdrücklich nicht (mehr) gewandt.

Die Berufung der Beklagten hat Erfolg. Das SG hat den Bescheid der Beklagten vom 22.07.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.01.2021 zu Unrecht insoweit aufgehoben, als die Beklagte den Rentenbescheid vom 05.12.2017 hinsichtlich der Rentenhöhe für die Zeit vom 29.06.2017 bis 31.07.2020 zurückgenommen und in diesem Zeitraum entstandene Überzahlungen (5.995,58 €) zurückgefordert hat. Soweit das SG den streitigen Bescheid bereits ab dem 29.06.2017 aufgehoben hat, kann das Urteil schon deshalb keinen Bestand haben, da die Beklagte die Rücknahme überzahlter Witwenrente ohnehin erst ab dem 01.10.2017 verfügt und die Klägerin dies gar nicht beantragt hat. Der Bescheid vom 22.07.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.01.2021 ist insoweit rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, so dass die dagegen statthaft gerichtete Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 SGG) der Klägerin unbegründet ist. Daher ist die Berufung der Beklagten begründet und das angefochtene Urteil entsprechend aufzuheben.


Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 45 SGB X. Danach (Abs. 1 Satz 1) darf ein - auch unanfechtbar gewordener - begünstigender Verwaltungsakt, soweit er rechtswidrig ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Eine Rücknahme ist nicht möglich, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (Abs. 2 Satz 1). Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Abs. 2 Satz 2). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X nicht berufen, soweit er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat (Nr. 1), der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Nr. 2), oder (Nr. 3) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Grundsätzlich ist vor Erlass eines Verwaltungsaktes, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (§ 24 SGB X).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

Der angegriffene Rücknahme- und Erstattungsbescheid ist formell rechtmäßig, da die Beklagte die Klägerin vor Erlass dieses Bescheides angehört hat (§ 24 SGB X).

Der Bescheid der Beklagten vom 05.12.2017 ist insoweit (von Anfang an) rechtswidrig gewesen, als bei der Ermittlung der Höhe der der Klägerin zustehenden Witwenrente eine Anrechnung ihres damaligen Einkommens in Form einer eigenen Versichertenrente der DRV BW gem. § 97 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) unterblieben und die Witwenrente daher in unzutreffender Höhe gewährt worden ist.
Ab dem 01.10.2017 ist das Einkommen der Klägerin - für den Zeitraum 01.10.2017 bis 31.12.2017 lediglich in Form ihrer eigenen Versichertenrente und ab dem 01.01.2018 auch in Form der Einkünfte aus dem Betrieb der Photovoltaikanlage -, das monatlich das 26,4fache des aktuellen Rentenwerts übersteigt, entsprechend § 97 Abs. 2 Satz 1 SGB VI anzurechnen. Auf die Berechnung der Beklagten in Anlage 1 des Bescheids vom 22.07.2020 wird insoweit Bezug genommen. Fehler in der Berechnung sind nicht ersichtlich und werden von der Klägerin auch nicht geltend gemacht.

Im Hinblick auf die Rücknahme des in Rede stehenden rechtswidrigen Bescheides und hinsichtlich der Neuberechnung der Witwenrente kann sich die Klägerin nicht auf Vertrauensschutz berufen. Denn vorliegend sind sowohl die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 als auch der Nr. 3 SGB X erfüllt.

Der Senat hat keine Zweifel daran, dass die Klägerin in wesentlicher Beziehung bei der Rentenantragstellung zumindest grob fahrlässig falsche Angaben gemacht hat, auf welchen der Rentenbewilligungsbescheid vom 05.12.2017 auch beruht (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X). Denn unabhängig von der Frage, ob die Klägerin bei der Rentenantragstellung tatsächlich - wie von ihr behauptet - auch Unterlagen vorgelegt hat, in denen sich ihr eigener Rentenbescheid befunden hat, was die Beklagte (mit beachtlichen Gründen) anzweifelt, hat sie mit ihrer Unterschrift auf der Anlage R0660 ausdrücklich versichert, keine Rente aus eigener Versicherung aus der gesetzlichen Rentenversicherung (Nr. 7.1 Anlage R0660) zu erhalten. Dass die Klägerin diese Anlage - ihren eigenen Angaben nach - nicht selbst ausgefüllt, sondern sich dafür der Hilfe des Versichertenberaters R2 bedient hat, ändert nichts daran, dass ihr diese Angaben zuzurechnen sind. Schließlich hat sie sich diese mit ihrer Unterschrift gerade zu eigen gemacht. Die Erwägungen des SG, wonach schon fraglich sei, ob die Klägerin überhaupt falsche Angaben gemacht habe, sind daher in keiner Weise nachvollziehbar. Aufgrund dieser falschen Angaben hat die Beklagte der Klägerin schließlich auch eine Witwenrente ohne Anrechnung von Einkommen gewährt, weshalb der Rentenbescheid vom 05.12.2017 auch auf diesen falschen Angaben beruht und es daher völlig unerheblich ist, ob sie dem Versichertenberater tatsächlich auch ihren eigenen Rentenbescheid vorgelegt hat. Diese falschen Angaben sind jedenfalls auch (zumindest) grob fahrlässig gemacht worden.
Wie bereits ausgeführt, ist grobe Fahrlässigkeit nach der Legaldefinition des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X dann zu bejahen, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (vgl. hierzu und zum Folgenden Bundessozialgericht - BSG - 08.02.2001, B 11 AL 21/00 R, juris, m.w.N.); dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie der besonderen Umstände des Falles zu beurteilen. Vorliegend hat die Klägerin selbst vorgetragen, den Rentenantrag und mithin auch die Anlage R0660 nach dem Ausfüllen durch den Versichertenberater R2 nicht mehr durchgelesen sondern „blind“ unterschrieben zu haben. Das „blinde“ Unterschreiben eines von einer dritten Person ausgefüllten Antrags ohne vorherige Prüfung der Richtigkeit der gemachten Angaben stellt zweifellos eine besonders schwere Sorgfaltspflichtverletzung und somit ein grob fahrlässiges Handeln dar (BSG 08.12.2022, B 7/14 AS 11/21 R, juris Rn. 24; Bayerisches LSG 27.11.2014, L 14 R 741/12, juris Rn. 46 ff.; Hessisches LSG 21.10.2011, L 7 AL 101/11, juris Rn. 30 ff.; LSG Baden-Württemberg 07.11.2006, L 11 R 2053/06, www.sozialgerichtsbarkeit.de; s.a. Steinwedel in BeckOKG, § 45 SGB X, Rn. 40, Stand 01.09.2020).

Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass sich die Klägerin nach dem plötzlichen Tod des Versicherten - auch für den Senat im Ansatz nachvollziehbar - in einer psychischen Ausnahmesituation befunden hat. Denn sie ist nach dem Tod des Versicherten weder für geschäftsunfähig erklärt worden, noch hat der sie in dieser Zeit behandelnde S1 - trotz einer schweren Antriebsstörung, Insomnie und Kreisdenken - formale Denkstörungen beschrieben, sondern die Klägerin vielmehr ausdrücklich für voll geschäftsfähig erachtet. Auch die die Klägerin bereits ab dem 09.08.2017 behandelnde U1 hat trotz der von ihr (freilich nur pauschal und ohne ärztlichen Befund) beschriebenen Einschränkung von Konzentrations-, Aufmerksamkeits-, Wahrnehmungs- und Gedächtnisleistung eine rechtliche Betreuung ebenfalls nicht für erforderlich gehalten. Soweit H1 in seiner sachverständigen Zeugenauskunft gegenüber dem SG die Auffassung vertreten hat, die Klägerin sei nach dem Tod des Versicherten nicht in der Lage gewesen, ihre alltäglichen Geschäfte allein und eigenständig zu erledigen und hätte in geschäftlichen Dingen Hilfe benötigt, ist schon nicht ersichtlich, auf welcher Grundlage er zu dieser Einschätzung gelangt ist, da sich die Klägerin erstmals am 19.04.2018 - mithin also erst ca. zehn Monate nach dem Tod des Versicherten - in seine Behandlung begeben hat. Objektive, befundgestützte Aussagen zu ihrem Gesundheitszustand in den Wochen nach dem Tod des Versicherten und insbesondere zum Zeitpunkt der Hinterbliebenenrentenantragstellung kann er somit gar nicht getroffen haben. Der Senat hat also keinen durchgreifenden Zweifel daran, dass die Klägerin bei der Rentenantragstellung kognitiv in der Lage gewesen ist, den von dem Versichertenberater R2 ausgefüllten Rentenantrag samt Anlagen auf die Richtigkeit der gemachten Angaben zu prüfen bzw. bei Unsicherheiten auf ein sofortiges Unterschreiben des Antrags zu verzichten und den Antrag samt Anlagen zur ausführlichen Prüfung mit nach Hause zu nehmen (vgl. dazu Bayerisches LSG, a.a.O.). Dass sie das gerade offensichtlich nicht getan hat, stellt eine besonders grobe Sorgfaltspflichtverletzung im obigen Sinne dar.

Ungeachtet dessen ist außerdem der Tatbestand des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X erfüllt. Die Klägerin hätte nämlich die Rechtswidrigkeit des Rentenbewilligungsbescheides vom 05.12.2017 erkennen können. Darin wird unmissverständlich darauf hingewiesen, dass der Bezug von Erwerbs- und Erwerbsersatzeinkommen - namentlich auch von (eigener) Versichertenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung - die Rentenhöhe beeinflussen kann und der Bezug derartigen Einkommens unverzüglich mitzuteilen ist. Gleichzeitig ist weder dem Bescheid selbst noch der beigefügten Rentenberechnung zu entnehmen, dass das Renteneinkommen angerechnet worden ist. Der Klägerin hätte sich daher bereits bei der einfachen Lektüre des Bescheides samt seiner Anlagen - wozu sie auch verpflichtet gewesen ist (s. BSG 08.02.2001, B 11 AL 21/00 R, juris Rn. 25, m.w.N.; Senatsurteil vom 16.06.2016, L 10 R 3153/13, juris Rn. 42) - aufdrängen müssen, dass ihre eigene Versichertenrente bei der Rentenberechnung gerade nicht berücksichtigt worden ist. Ein Nachvollziehen komplizierter Rentenberechnungen ist hierfür nicht erforderlich gewesen. Das Wissen um den Bezug einer eigenen Versichertenrente in Verbindung mit der Kenntnis darüber, dass kein Einkommen bei der Berechnung der Witwenrente angerechnet worden ist, führt dazu, dass die von der Klägerin behauptete Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit des Rentenbewilligungsbescheides vom 05.12.2017 nach der erforderlichen aber auch ausreichenden laienhaften Bewertung als grob fahrlässig einzustufen ist. Hieran ändert auch die psychische Ausnahmesituation der Klägerin nach dem Tod des Versichehrten nichts. Wie bereits oben ausgeführt, hat der Senat gerade keinen durchgreifenden Zweifel daran, dass die Klägerin trotz des erlittenen Schicksalsschlages nicht in ihrer Geschäftsfähigkeit beeinträchtigt gewesen ist, auch nicht Anfang Dezember 2017 zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Rentenbescheids.

Die Beklagte hat schließlich auch ihr Ermessen erkannt, dieses dem Zweck der Ermächtigung entsprechend ausgeübt und alle wesentlichen tatsächlichen Gesichtspunkte berücksichtigt. Nicht geboten war es, im Rahmen der Ermessensabwägung miteinzubeziehen, dass nach Rentenantragstellung kein Datenabgleich durch die Beklagte mit den Versichertendaten der Klägerin bei der DRV BW durchgeführt worden ist. Die Beklagte ist im Verhältnis zu Versicherten nicht verpflichtet, in deren Interesse bei anderen Sozialversicherungsträgern Datenabgleiche durchzuführen (vgl. dazu Senatsurteil vom L 10 R 39/20, 25.05.2023, juris Rn. 54 m.w.N. zur Meldepflicht nach § 201 Abs. 5 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB V -), erst recht nicht „routinemäßig“. Die Pflicht zur Mitteilung, ob und ggfs. in welcher Höhe Einkommen erzielt wird, trifft ausschließlich die Klägerin (s. hierzu BSG 03.07.1991, 9b RAr 2/90, juris Rn. 15; LSG Baden-Württemberg 06.05.2014, L 13 R 481/13, juris Rn. 41; 11.07.2007, L 6 R 5271/07, www.sozialgerichtsbarkeit.de; LSG Sachsen-Anhalt 20.09.2018, L 1 R 171/17, juris Rn. 58 ff.). 

Auch hat die Beklagte die Fristen nach § 45 Abs. 3 Satz 4 und Abs. 4 SGB X eingehalten. Der Bescheid vom 22.07.2020 erging namentlich innerhalb eines Jahres seit die Beklagte Kenntnis von den Tatsachen hatte, welche die Rücknahme des Bescheides vom 05.12.2017 für die Vergangenheit rechtfertigen. Die für den Beginn der Jahresfrist maßgebliche Kenntnis der Tatsachen setzt voraus, dass der Leistungsträger sämtliche für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig kennt. Nach der Rechtsprechung BSG beginnt die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X erst dann zu laufen, wenn die Behörde entweder objektiv eine sichere Kenntnis der Tatsachen hat, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen, oder subjektiv von der Richtigkeit und Vollständigkeit der ihr vorliegenden Informationen überzeugt ist; dies ist regelmäßig erst nach der gemäß § 24 SGB X durchgeführten Anhörung des Betroffenen der Fall (BSG 27.07.2000, B 7 AL 88/99 R, juris Rn. 24; 08.02.1996, 13 RJ 35/94, juris Rn. 23; 25.01.1994, 7 RAr 14/93, juris Rn. 29). Vorliegend hat die Beklagte erstmals im Juli 2019 im Rahmen des durchgeführten Suchlaufs Anhaltspunkte für den Bezug einer eigenen Versichertenrente durch die Klägerin erhalten. Erst weitere Ermittlungen und die im Rahmen der Anhörung der Klägerin erworbenen Kenntnisse haben der Beklagten dazu verholfen, über das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Rücknahme des begünstigenden Rentenbewilligungsbescheides für die Vergangenheit entscheiden zu können.


Hat die von der Beklagten verfügte Rücknahme des Rentenbewilligungsbescheides vom 05.12.2017 somit für die Zeit ab 01.10.2017 Bestand, weil sie rechtmäßig erfolgt ist, ist die im Bescheid vom 22.07.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.01.2021 auch enthaltene Erstattungsanordnung im Umfang der im Zeitraum 01.10.2017 bis 31.07.2020 überzahlten Witwenrente ebenfalls rechtmäßig. Nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist Voraussetzung für die teilweise Rückforderung der Witwenrente lediglich, dass der sie bewilligende Verwaltungsakt (durch die Verwaltung oder die Gerichte) aufgehoben worden und der Rechtsgrund für diese Leistungen dadurch nachträglich entfallen ist (statt vieler nur BSG 30.10.2013, B 12 R 14/11 R, juris Rn. 40; Senatsurteil vom L 10 R 39/20, 25.05.2023, a.a.O. Rn. 78). Dies ist vorliegend für den Zeitraum vom 01.10.2017 bis 31.07.2020 der Fall. Ist - wie vorliegend - die Rücknahmeentscheidung sachlich für diesen Zeitraum mithin richtig, beschränkt sich die Prüfung der Entscheidung über die damit korrespondierende Erstattung nur noch darauf, ob dem Erstattungsverlangen selbst gegenüber Einwendungen entgegengesetzt werden können (BSG 01.07.2010, B 13 R 77/09 R, juris Rn. 61 m.w.N.; Senatsurteil a.a.O.). Entsprechendes ist vorliegend nicht ersichtlich. Soweit die Klägerin (nur pauschal) behauptet hat, sie könne die Erstattungsforderung ob ihrer finanziellen Möglichkeiten nicht begleichen, berührt dies im Rahmen des § 50 Abs. 1 SGB X den Bestand der Forderung nicht und ist im vorliegenden Erkenntnisverfahren ohne Belang (Senatsurteil a.a.O.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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