L 11 VE 15/20

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 45 VE 75/18
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 VE 15/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Da der klare und unmissverständliche Wortlaut einer Norm eine Auslegungsgrenze bildet (vgl. BSG, Urteil vom 3. November 2021 - B 11 AL 2/21 R – juris), verbietet sich eine Auslegung, die bezogen auf § 30 Abs. 7 BVG id bis zum 19.12.2019 geltenden Fassung statt auf die Vollendung des 65. Lebensjahres auf die Regelaltersgrenzen des SGB VI Bezug nimmt.

2. Es ist nicht die Aufgabe der Gerichte, als eine Art „Ersatzgesetzgeber“ in Normen Gesetzesänderungen „hinzulesen“, die tatsächlich unterlassen worden sind.

3. Voraussetzung für eine immanente Rechtsfortbildung ist stets eine Regelungslücke, also eine „planwidrige Unvollständigkeit“ des Gesetzes, die hier aber nicht vorliegt. Denn § 30 Abs. 7 BVG id bis zum 19.12.2019 geltenden Fassung regelt das, was er soll, eine Absenkung des BSA mit Vollendung des 65. Lebensjahres. Dass diese Regelung im gesetzgeberischen Gesamtzusammenhang möglicherweise nicht (mehr) stimmig ist, begründet nicht das Vorliegen einer Lücke.

4.  Auch § 7 BSchAV steht der Kürzung des BSA mit Vollendung des 65. Lebensjahres nicht entgegen.

 

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. Mai 2020 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

 

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander für den gesamten Rechtsstreit nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

Tatbestand

 

Streitig ist die Rechtmäßigkeit der Kürzung des dem Kläger bewilligten Berufsschadensausgleichs (BSA) ab dem 1. August 2018 bis zum 28. Februar 2019

 

Der Beklagte bewilligte dem  1953 geborenen Kläger mit Bescheid vom 10. Oktober 2011 Versorgungsrente wegen Schädigungsfolgen nach dem Häftlingshilfegesetz (HHG) und dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (VwRehaG) i. V. m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 50 unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins, eine Ausgleichsrente und einen Ehegattenzuschlag sowie einen BSA. Der Berufsschadensausgleich betrug im Juli 2018 982,- Euro (Bescheid vom 13. Juni 2018). Grundlage hierfür war ein Vergleichseinkommen von brutto 2.733,- Euro und netto 1.840,- Euro. Der BSA wurde nach der Nettomethode berechnet (§ 30 Abs. 3 letzter Teilsatz i.V.m. § 30 Abs. 6 BVG).

 

Mit Bescheid vom 2. Juli 2018 setzte der Beklagte die Versorgungsbezüge wegen der Vollendung des 65. Lebensjahres ab dem 1. August 2018 nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) neu fest. Da der Kläger die gesetzliche Altersgrenze erreicht habe, sei aus diesem Grund das Vergleichseinkommen zu kürzen. Das Vergleichseinkommen wurde auf 1.367,- Euro beziffert bei unverändertem Bruttovergleichseinkommen. Der Berufsschadensausgleich betrug danach nur noch 507,- Euro. Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, seine Versorgungsbezüge seien erst zum 1. März 2019 herabzusetzen. Mit Widerspruchsbescheid vom 27. August 2018 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die dem Kläger zu gewährende Leistung errechne sich durch die Differenz aus dem ermittelten Nettobetrag des Vergleichseinkommens nach § 30 Abs. 6 und 7 BVG abzüglich des derzeitigen Nettoeinkommens (Sozialversicherungsrente). Am 12. Juli 2018 habe der Kläger sein 65. Lebensjahr vollendet. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 BSchAV sei das Vergleichseinkommen mit Ablauf des Monats, in dem der Beschädigte das 65. Lebensjahr vollende, auf 75 % zu kürzen. Die Vorschrift sei keine Kannvorschrift und räume der Verwaltung somit auch kein Ermessen bzw. die Gewährung eines Besitzstandsschutzes ein. Die Nichtanwendung einer Rechtsvorschrift würde dazu führen, dass die Behörde gegen das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Grundgesetz (GG) verstoßen würde. Eine Änderung der Altersgrenze für die Ermittlung des Nettovergleichseinkommens nach § 30 Abs. 7 BVG lasse sich aus der derzeit bestehenden angehobenen Regelaltersgrenze für den Bezug von Leistungen aus der Sozialversicherung nicht ableiten.

 

Dagegen hat der Kläger am 6. September 2018 Klage erhoben und geltend gemacht, die angefochtenen Bescheide seien aufzuheben, soweit sie den Zeitraum vom 1. August 2018 bis zum 28. Februar 2019 beträfen. Zur Begründung hat der Kläger geltend gemacht, der Beklagte verkenne, dass die Bundesregierung durch den Erlass der BSchAV von ihrem Recht nach Art. 80 GG, § 30 Abs. 14 Buchst. a BVG Gebrauch gemacht und § 30 Abs. 7 BVG entsprechend konkretisiert habe. Durch die Änderung der BSchAV zum 1. Januar 2007 sei die stufenweise Anhebung der Regelaltersgrenze nach dem SGB VI auch bei der Berechnung des BSA berücksichtigt worden.

 

Mit Urteil vom 25. Mai 2020 hat das Sozialgericht den Bescheid vom 2. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. August 2018 aufgehoben, soweit schon ab dem 1. August 2018 bis zum 28. Februar 2019 der Berufsschadensausgleich betroffen und für diesen Zeitraum eine Kürzung vorgenommen worden sei. Es hat dem Beklagten die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers auferlegt. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, die zulässige Anfechtungsklage sei begründet. Der Bescheid vom 2. Juli 2018 sei rechtswidrig, eine wesentliche Änderung der Verhältnisse nach § 48 SGB X sei beim Kläger nicht, jedenfalls nicht schon zu dem Zeitpunkt ab dem 1. August 2018 eingetreten, sondern erst zum 1. März 2019.

 

Nach § 60 Abs. 4 Satz 1 BVG trete eine Minderung oder Entziehung von Leistungen mit Ablauf des Monats ein, in dem die Voraussetzungen dafür weggefallen seien. Dies sei hier mit der Vollendung des 65. Lebensjahres durch den Kläger nicht der Fall gewesen. Aus § 7 BSchAV ergebe sich, dass eine Kürzung des BSA mit Erreichen der Regelaltersgrenze nach § 235 Abs. 2 Satz 2 SGB VI eintrete. Maßgeblich sei demnach nicht das Erreichen des 65. Lebensjahres. Der Gesetzgeber habe die BSchAV schon zum 1. Januar 2008 geändert und auf die schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze reagiert. Dass in § 30 Abs. 7 BVG in der vorliegend maßgeblichen Fassung noch das 65. Lebensjahr erwähnt sei, ändere daran nichts. Dafür spreche auch, dass § 30 Abs. 7 BVG mittlerweile geändert worden sei und statt auf das 65. Lebensjahr auf die Regelaltersgrenze abgestellt werde.

 

Gegen das ihm am 28. Mai 2020 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 11. Juni 2020 Berufung eingelegt. § 30 Abs. 7 Satz 1 BVG in der zum Zeitpunkt der Entscheidung vom 27. Februar 2017 maßgeblichen Fassung habe eine ungekürzte Gewährung des BSA nur bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres zugelassen. Der Wortlaut sei eindeutig. Soweit das Sozialgericht auf § 7 BSchAV abgestellt habe, sei dieser gegenüber dem Gesetz nachrangig. Die von dem Sozialgericht erwähnte Änderung des § 30 Abs. 7 BVG sei hier unmaßgeblich, da die Änderung nicht rückwirkend erfolgt sei.

 

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. Mai 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

 

Der Kläger ist der Auffassung, bei der Gesetzesänderung des § 30 Abs. 7 BVG handele es sich lediglich um eine Klarstellung des Gesetzgebers. Eine - etwa vom 13. Senat des Landessozialgerichts in seinem Urteil vom 24. August 2023 (L 13 VH 43/19) - vorgenommene reine Wortlautauslegung des § 30 Abs. 7 BVG in seiner bis zum 19. Dezember 2019 geltenden Fassung (aF) scheide vorliegend aus, weil der Gesetzgeber die Anhebung der Altersgrenzen in der Gesetzlichen Rentenversicherung auf das BVG habe übertragen wollen. Außerdem sei § 30 Abs. 7 BVG aF so auszulegen, dass ab dem 1. Januar 2008 die Regelaltersgrenze gemeint sei, was sich auch aus Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ergebe. Jedenfalls wäre eine gesetzesimmanente Rechtsfortbildung erforderlich gewesen, um dem Willen des Gesetzgebers Geltung zu verschaffen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten nebst sowie die den Kläger betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

Die form- und fristgerecht erhobene Berufung des Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist zulässig und begründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist unzutreffend. Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 2. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. August 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Zu Recht hat der Beklagte den Bescheid vom 13. Juni 2018 teilweise aufgehoben und den BSA mit Wirkung ab dem 1. August 2018 gekürzt.

 

Grundlage der Entscheidung des Beklagten ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben.

 

Formelle Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides bestehen nicht. Zwar hat der Beklagte den Kläger vor seiner Aufhebungsentscheidung nicht gemäß § 24 Abs. 1 SGB X angehört, allerdings ist der Anhörungsmangel gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt. Denn der Kläger hat im Widerspruchsverfahren hinreichend Gelegenheit gehabt, sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern, und er hat davon auch umfassend Gebrauch gemacht.

 

Der angefochtene Bescheid ist auch materiell rechtmäßig. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X sind erfüllt.

 

Eine Minderung oder Entziehung der Leistungen tritt gemäß § 60 Abs. 4 Satz 1 BVG mit Ablauf des Monats ein, in dem die Voraussetzungen für ihre Gewährung weggefallen sind. Eine die Minderung des BSA rechtfertigende wesentliche Änderung ist hier in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten, indem der Kläger im Juli 2018 das 65. Lebensjahr vollendet hat, was die teilweise Aufhebung der Gewährung des BSA für die Zukunft - hier ab dem 1. August 2018 - rechtfertigte.

 

Ausgangspunkt ist § 30 Abs. 6 Satz 1 BVG. Danach ist der BSA nach Absatz 3 letzter Satzteil - also der so genannte Netto-BSA - der Nettobetrag des Vergleichseinkommens (Absatz 7) abzüglich des Nettoeinkommens aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit (Absatz 8), der Ausgleichsrente (§§ 32, 33) und des Ehegattenzuschlages (§ 33a). Der Nettobetrag des Vergleichseinkommens wird gemäß § 30 Abs. 7 Satz 1 BVG aF bei Beschädigten, die nach dem 30. Juni 1927 geboren sind, für die Zeit bis zum Ablauf des Monats, in dem sie auch ohne die Schädigung aus dem Erwerbsleben ausgeschieden wären, längstens jedoch bis zum Ablauf des Monats, in dem der Beschädigte das 65. Lebensjahr vollendet, pauschal ermittelt, indem das Vergleichseinkommen

1. bei verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 716 Euro übersteigende Teil um 36 vom Hundert und der 1.790 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert,

2. bei nicht verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 460 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert und der 1.380 Euro übersteigende Teil um 49 vom Hundert gemindert wird. Gemäß § 30 Abs. 7 Satz 2 BVG gelten im Übrigen 50 vom Hundert des Vergleichseinkommens als dessen Nettobetrag. § 30 Abs. 7 BVG unterscheidet demnach die Ermittlung des Netto-BSA zwischen Rentnern (Satz 2) und Nicht-Rentnern (Satz 1). Der Absenkung des Vergleichseinkommens liegt die Überlegung zugrunde, dass der Beschädigte auch als Gesunder das volle Vergleichseinkommen aus Erwerbstätigkeit nur bis zu seinem Ausscheiden aus dem Berufsleben erzielt und anschließend einen „Einkommensknick“ durch niedrigeres Folgeeinkommen hätte hinnehmen müssen (vgl. Dau in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, § 30 BVG, RndNr. 41).

 

Der Wortlaut des § 30 Abs. 7 BVG aF regelt, dass die Berechnung nach Satz 1 „längstens […] bis zum Ablauf des Monats, in dem der Beschädigte das 65. Lebensjahr vollendet“, vorgenommen wird. Nach Vollendung des 65. Lebensjahres gilt Satz 2.

 

Der Wortlaut von § 30 Abs. 7 aF BVG ist eindeutig. Zwar mag der skizzierte Gesetzeszweck es nahelegen, dass eine Kürzung des BSA nicht schon mit der Vollendung des 65. Lebensjahres, sondern erst mit Erreichen der späteren Regelaltersgrenze nach dem SGB VI - hier gemäß § 235 Abs. 2 Satz 2 SGB VI mit 65 Jahren und 6 Monaten - eintritt. Diese gesetzgeberische Vorstellung hat im Wortlaut der Norm aber keinen Niederschlag gefunden. Da der klare und unmissverständliche Wortlaut einer Norm eine Auslegungsgrenze bildet (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 3. November 2021 - B 11 AL 2/21 R – juris), verbietet sich vorliegend eine Auslegung, die statt auf die Vollendung des 65. Lebensjahres auf die Regelaltersgrenzen des SGB VI Bezug nimmt. Soweit der Kläger Urteile des BAG vom 15. Mai 2012 (3 AZR 11/10) und vom 9. Dezember 2015 (7 AZR 68/14) anführt, in denen das BAG Regelungen, die auf die Vollendung des 65. Lebensjahres abstellen, so ausgelegt hat, dass jeweils die Regelaltersgrenze gemeint sei, übersieht sie, dass es dort um die Auslegung von Betriebsvereinbarungen und eines Arbeitsvertrages, nicht von Gesetzen gegangen ist. Fehl geht der Kläger auch, soweit er meint, es liege hier ein Redaktionsversehen vor, sollte der Gesetzgeber irrtümlich gemeint haben, dass § 30 Abs. 7 BVG aF nicht geändert werden müsse, oder er dies schlicht übersehen haben sollte. Denn ein Redaktionsversehen würde eine vom gesetzgeberischen Willen abweichende Gesetzesformulierung voraussetzen. Es liegt nur dann vor, wenn die Gesetzesredaktoren lediglich versehentlich einen anderen Ausdruck gewählt, im Text belassen oder gestrichen haben, als sie beabsichtigten (Becker, SGb 2009, 338, 340). Darum geht es hier aber nicht, weil der Gesetzgeber bei Fassung der Norm die auf die Vollendung des 65. Lebensjahres abstellende Formulierung gerade gewollt hat. Das Versehen würde sich also nicht auf eine tatsächlich gewählte, sondern auf eine vermeintlich gewollte, aber unterlassene Formulierung beziehen. In einem solchen Fall ist aber kein Raum für eine Rechtsfortbildung, weil die Gerichte nicht bloß eine Norm dem gesetzgeberischen Willen entsprechend auslegen, sondern anstelle des Gesetzgebers tätig werden, gleichsam dem Gesetzgeber also die Gesetzesänderung abnehmen würden. Es ist aber nicht die Aufgabe der Gerichte, als eine Art „Ersatzgesetzgeber“ in Normen Gesetzesänderungen „hinzulesen“, die tatsächlich unterlassen worden sind. Für die Richtigkeit der hier vorgenommenen Auslegung sprechen im Übrigen auch die gesetzgeberischen Erwägungen im Rahmen der Änderung des § 30 Abs. 7 Satz 1 BVG. Dieser ist durch Artikel 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2652) mit Wirkung zum 20. Dezember 2019 dahingehend geändert worden, dass nicht mehr auf die Vollendung des 65. Lebensjahres, sondern auf das Erreichen der Regelaltersgrenze abgestellt wird. Anders als der Kläger meint, ist der Gesetzgeber insoweit nicht von einer Klarstellung, sondern einer echten Gesetzesänderung ausgegangen (BT-Drs. 19/14870, S. 36).

 

Die von dem Kläger erwogene immanente Rechtsfortbildung kommt hier nicht in Betracht. Zwar hat das BSG in einem anderen Zusammenhang eine Lücke im Wege der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung durch eine entsprechende Anwendung einer Norm geschlossen und dafür vorausgesetzt, dass die für den normierten Tatbestand im Gesetz gegebene Regel auf den vom Gesetz nicht geregelten Tatbestand übertragen werden kann, weil beide Tatbestände infolge ihrer Ähnlichkeit in den für die gesetzliche Bewertung maßgeblichen Hinsichten gleich zu bewerten sind (Urteil vom 7. Oktober 2009 - B 11 AL 31/08 R – juris). Voraussetzung ist stets eine Regelungslücke, also eine „planwidrige Unvollständigkeit“ des Gesetzes (Becker, SGb 2009, 338, 341), die hier aber nicht vorliegt. Denn § 30 Abs. 7 BVG aF regelt das, was er soll, eine Absenkung des BSA mit Vollendung des 65. Lebensjahres. Dass diese Regelung im gesetzgeberischen Gesamtzusammenhang möglicherweise nicht stimmig ist, begründet nicht das Vorliegen einer Lücke. Generell ist das, was der Kläger begehrt, nicht eigentlich eine Analogie. Denn eine Analogie ist die Übertragung der für einen Tatbestand im Gesetz gegebenen Regel auf einen vom Gesetz nicht geregelten, ihm ähnlichen Tatbestand (Becker, SGb 2009, 338, 341). Die im Gesetz gegebene Regel ist vorliegend indes die Absenkung des BSA mit Vollendung des 65. Lebensjahres. Diese soll aber nach der Vorstellung des Klägers nicht etwa auf einen vom Gesetz nicht geregelten, ihm ähnlichen Tatbestand übertragen werden, sondern gestrichen und durch eine andere Regelung, die auf das Erreichen der Regelaltersgrenze abstellt, ersetzt werden.

 

§ 7 BSchAV steht der Kürzung des BSA mit Vollendung des 65. Lebensjahres nicht entgegen. Allerdings regelt § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BSchAV, dass als Vergleichseinkommen im Sinne des § 30 Abs. 5 BVG sowie als Durchschnittseinkommen im Sinne des § 30 Abs. 11 sowie des § 64c Abs. 2 Satz 2 und 3 BVG 75 vom Hundert des nach § 30 Abs. 5 Satz 6 BVG bekannt gemachten oder des nach § 87 Abs. 1 BVG festgestellten und angepassten Betrags gelten, mit Ablauf des Monats, in dem die Beschädigten die Regelaltersgrenze nach dem SGB VI erreicht haben. § 7 Abs. 2 BSchAV regelt für den Netto-BSA, dass bei der Feststellung des BSA nach § 30 Abs. 6 BVG von dem sich aus Absatz 1 ergebenden Zeitpunkt an der Betrag nach § 30 Abs. 7 Satz 2 BVG das Vergleichs- oder das Durchschnittseinkommen ist. § 7 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BSchAV würde § 30 Abs. 7 Satz 2 BVG allerdings vorliegend nur dann widersprechen, wenn er auch anwendbar wäre. Dies ist aber, ungeachtet der Frage, ob diese Regelung des BSchAV im Hinblick auf § 30 Abs. 14 BVG überhaupt ermächtigungskonform ist, nicht der Fall. Denn wie der Kläger zutreffend ausgeführt hat, ist der Verordnungsgeber davon ausgegangen, § 7 Abs. 2 BSchAV gelte nur für Personen, die vor dem 30. Juni 1927 geboren wurden (BR-Drs. 261/11, S. 12). Dass eine solche Vorstellung sinnlos sein dürfte, hat der Kläger ebenfalls zutreffend ausgeführt. Im vorliegenden Zusammenhang ist aber nur maßgeblich, dass in der Vorstellung des Verordnungsgebers kein Widerspruch zwischen BSchAV und gesetzlicher Regelung bestanden hat und auch nicht bestehen sollte. Bestünde ein solcher Widerspruch, müsste er nach der allgemeinen Normenhierarchie zu Lasten der BSchAV und also zu Gunsten der gesetzlichen Regelung aufgelöst werden.

 

Artikel 3 GG gebietet hier keine Absenkung des BSA erst mit dem Erreichen der Regelaltersgrenze. Artikel 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Hieraus folgt das Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung untersagt. Ebenso wenig ist er gehalten, Ungleiches unter allen Umständen ungleich zu behandeln. Ihm kommt im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit für die Abgrenzung der begünstigten Personenkreise ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Führt eine Regelung zu einer Ungleichheit, bedarf dies jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel der Regelung und dem Ausmaß der damit verbundenen Ungleichheit angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 28. April 2022 - 1 BvL 12/20 - juris). Gemessen an diesen Vorgaben begegnet die hier gefundene Auslegung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Berechnung des Brutto-BSA unterscheidet sich von der des Netto-BSA grundlegend, so dass hier schon keine vergleichbaren Personengruppen vorliegen. Zudem ist dem Kläger der Netto-BSA nur deshalb gewährt worden, weil er gegenüber dem Brutto-BSA für ihn günstiger gewesen ist (vgl. § 30 Abs. 3 letzter Teilsatz BVG). Der langjährige höhere Bezug von BSA würde eine gegenüber dem Brutto-BSA möglicherweise geringfügige frühere Kürzung aufwiegen. Weitere Personengruppen, denen gegenüber der Kläger ungleich behandelt wird, sind nicht erkennbar.

 

Auch sonst gebietet die Verfassung keine Kürzung des Vergleichseinkommens und damit auch des BSA erst mit Erreichen der Regelaltersgrenze und nicht schon mit Erreichen des 65. Lebensjahres. Dabei berücksichtigt der Senat auch, dass die Heranziehung von 50 Prozent des Brutto-Vergleichseinkommens als Netto-Vergleichseinkommen einer schwer erreichbaren Versicherungszeit von 47 Jahren in der gesetzlichen Rentenversicherung entspricht und die Betroffenen damit ohnehin ausgesprochen günstig gestellt sind (vgl. Dau in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, § 30 BVG, RndNr. 43).

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache scheidet hier auch deshalb aus, weil das Problem eines möglicherweise unterschiedlichen Regelungsgehaltes von § 30 Abs. 7 BVG einerseits und § 7 BSchAV andererseits spätestens seit der genannten Gesetzesänderung zum 20. Dezember 2019 nicht mehr besteht.

 

Rechtskraft
Aus
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