L 5 KA 3221/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
5.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 5 KA 2458/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 KA 3221/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Hinsichtlich der Frage, "ob" eine Entschädigung nach § 103 Abs. 3a Satz 13 SGB V zu zahlen ist, hat die Kassenärztliche Vereinigung keine eigene Prüfungskompetenz. Sie ist an die Entscheidung und die Feststellungen des Zulassungsausschusses im Verfahren nach § 103 Abs. 3a Satz 1 SGB V gebunden. Prüfungsgegenstand des Verfahrens beim Zulassungsausschuss ist auch die Frage, ob eine fortführungsfähige Praxis im Umfang des nachzubesetzenden Versorgungsauftrags vorliegt. Wenn dies nicht der Fall ist, ist der Antrag schon deshalb abzulehnen; in diesem Fall kommt eine Entschädigung nicht in Betracht.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18.07.2022 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird endgültig auf 5.000 € festgesetzt. 



Tatbestand

Im Streit steht eine Entschädigung wegen der Ablehnung eines Nachbesetzungsverfahrens für die Praxis der Klägerin.

Die Klägerin war seit 1993 als Fachärztin für Allgemeinmedizin am Standort B1 mit vollem Versorgungsauftrag zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Ihre Praxis führte sie im Rahmen einer Praxisgemeinschaft mit L1 und mit der Ärztin M1. Am 30.09.2016 stellte sie ihre Praxistätigkeit am Standort F1 ein.

Am 21.02.2016 beantragte die Klägerin beim Zulassungsausschuss für Ärzte (ZA) die Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens für ihre Vertragsarztpraxis mit vollem Versorgungsauftrag.

Am 16.06.2016 erklärte die Klägerin wegen einer anderweitigen Tätigkeit in Rheinland-Pfalz gegenüber dem ZA den Verzicht auf die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung mit Wirkung zum 30.09.2016 und beantragte die Frist für das Wirksamwerden des Verzichts in Bezug auf den hälftigen Versorgungsauftrag auf den 30.06.2016 zu verkürzen, hilfsweise den Versorgungsauftrag ab dem 01.07.2016 auf einen hälftigen Versorgungsauftrag zu beschränken.

Im Zusammenhang mit ihrer Beteiligung beim Nachbesetzungsverfahren wies die Beklagte die Klägerin darauf hin, dass sie derzeit nur einen hälftigen Versorgungsauftrag ausführe. Ein voller Versorgungsauftrag werde nicht ausgeführt. Infolgedessen könne nach Auffassung der Beklagten auch nur ein Nachbesetzungsverfahren über einen hälftigen Versorgungsauftrag durchgeführt werden. Die Klägerin hielt unter Hinweis auf eine Arbeitsunfähigkeit, die aufgrund eines Arbeitsunfalls vom 07.05.2015 bis 13.09.2015 eingetreten sei, an ihrer Auffassung, das Nachbesetzungsverfahren sei für einen vollen Versorgungsauftrag durchzuführen, fest.

Mit Beschluss vom 22.06.2016, ausgefertigt am 17.11.2016, erklärte der ZA die Verzichtserklärung der Klägerin für unzulässig und beschränkte den Versorgungsauftrag der Klägerin ab dem 01.07.2016 auf die Hälfte. Das Vorgehen der Klägerin stelle eine Aufspaltung des Versorgungsauftrages dar, welcher aufgrund des Grundsatzes der Einheitlichkeit des Vertragsarztsitzes nach Auffassung des ZA nicht möglich sei.

Mit weiterem Beschluss vom selben Tag (Sitzung vom 22.06.2016, Ausfertigung am 17.11.2016) lehnte der ZA den Antrag auf Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens der Vertragsarztpraxis der Klägerin ab. Der Planungsbereich F1 sei für Hausärzte von Zulassungsbeschränkungen betroffen. Die zur Nachbesetzung gehörte Beklagte habe mitgeteilt, dass nach Prüfung der Versorgungssituation am Vertragsarztsitz sowie im Umkreis des Praxissitzes empfohlen werde, dem Antrag auf Durchführung des Nachbesetzungsverfahrens lediglich im Umfang eines hälftigen Versorgungsauftrags zu entsprechen. Die Prüfung des Leistungsumfangs der Praxis der Klägerin habe ergeben, dass die durchschnittlichen Fallzahlen der Klägerin in den Quartalen 4/2014 bis einschließlich 4/2015 auch unter Berücksichtigung der zeitweisen Arbeitsunfähigkeit der Klägerin nicht den Erfordernissen der sich aus einer vollen Zulassung ergebenden Verpflichtung für Patienten der gesetzlichen Krankenversicherung zur Verfügung zu stehen entspreche. Die Klägerin habe teilweise nur eine Fallzahlenfallzahl von ca. 18 % der Durchschnittsfallzahl der Fachgruppe der Hausärzte im Zeitraum von mindestens 5 Quartalen erreicht. Daraus sei zu folgern, dass im Hinblick auf den vollen Versorgungsauftrag der Klägerin diese nicht mehr über einen Patientenstamm verfüge, der einem vollen Versorgungsauftrag entspreche. Daher liege im Ergebnis keine fortführungsfähige Praxis vor. Es fehle an einem ausreichenden Praxissubstrat. Die Zulassung selbst gehöre nicht zu einem übergabefähigen Praxissubstrat. Dieser Einschätzung schließe sich der ZA an. Im Falle der Klägerin fehle es an einem übergabefähigen Praxissubstrat. Das Praxissubstrat sei definiert durch den Besitz bzw. Mitbesitz von Praxisräumen, Ankündigung von Sprechzeiten sowie die damit verbundene Entfaltung einer tatsächlichen ärztlichen Tätigkeit und die für die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit im jeweiligen Fachgebiet erforderliche Praxisinfrastruktur. Maßgeblich sei auf die tatsächlich ausgeübte ärztliche Tätigkeit abzustellen. Die Klägerin sei nach den Angaben der Beklagten im Rahmen ihrer Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung über mehrere Quartale hinweg in einem Umfang tätig gewesen, welcher einem vollen Versorgungsauftrag nicht gerecht werde. Es fehle deshalb im Ergebnis an einer fortführungsfähigen Praxis im Umfang eines vollen Versorgungsauftrags. Die Klägerin habe die Durchführung eines Besetzungsverfahrens für einen hälftigen Versorgungsauftrag nicht beantragt. Der Antrag sei deshalb abzuweisen. Dieser Beschluss des ZA wurde bestandskräftig.

Mit Beschluss vom 28.02.2017, ausgefertigt am 25.07.2017, hob der Berufungsausschuss für Ärzte (BA) auf den Widerspruch der Klägerin den Beschluss des ZA vom 22.06.2016 die Unwirksamkeit der Verzichterklärung betreffend auf und stellte fest, dass die Klägerin mit Wirkung zum 30.09.2016 wirksam auf ihre vertragsärztliche Zulassung als Fachärztin für Allgemeinmedizin mit Zuordnung zur hausärztlichen Versorgung für den Vertragsarztsitz in F1 verzichtet habe. Der Verzicht der Klägerin habe sich von Anfang an auf den ganzen Vertragsarztsitz bezogen. Die Klägerin habe nicht die Aufteilung des Vertragsarztsitzes beantragt. Der Grundsatz der Einheitlichkeit des Vertragsarztsitzes werde deshalb durch das Vorgehen der Klägerin nicht berührt. Die Frist des Wirksamwerdens des Verzichts sei insoweit unschädlich. Außerdem habe die Klägerin eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass sie ihrer Tätigkeit endgültig zum 30.09.2016 beenden werde.

Mit Schreiben vom 26.07.2017 machte die Klägerin gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Entschädigung in Höhe des Verkehrswertes ihrer Arztpraxis gemäß § 103 Abs. 3a Satz 13 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) geltend. Der ZA habe mit Beschluss vom 22.06.2016 den Antrag auf Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens über einen vollen Versorgungsauftrag abgelehnt. Diese Entscheidung des ZA sei bestandskräftig geworden. Mithin stehe ihr ein Anspruch auf Entschädigung zu.

In der Folge führte die Beklagte Ermittlungen zum Verkehrswert der Praxis durch. Dabei wurden Unterlagen zur Gewinnermittlung und sonstige betriebswirtschaftlich relevanten Unterlagen beigezogen.

Mit dem am 10.10.2018 zugegangenen Bescheid vom 02.10.2018 wies die Beklagte den Antrag schließlich zurück. Der Klägerin stehe ein Anspruch auf Entschädigung nicht zu. Allein die Beendigung der Zulassung reiche als Voraussetzung nicht aus, um ein Nachbesetzungsverfahren durchzuführen. Immer sei auch erforderlich, dass eine noch fortführungsfähige Praxis vorliege. Dies entspreche der ständigen Rechtsprechung. Wenn eine fortführungsfähige Praxis nicht vorliege, komme es auf die Frage, ob die Nachbesetzung aus Versorgungsgründen nicht erforderlich sei, nicht mehr an. Fehle es am erforderlichen Praxissubstrat und damit an einer fortführungsfähigen Praxis, habe der ZA die Durchführung des Nachbesetzungsverfahrens abzulehnen, ohne in die Prüfung nach § 103 Abs. 3a Satz 3 ff. SGB V einzutreten. In einem solchen Fall sei die Beklagte nicht zur Entschädigung verpflichtet. Eine Praxis könne nur dann von einem Nachfolger fortgeführt werden, wenn der ausscheidende Vertragsarzt zum Zeitpunkt der Beendigung seiner Zulassung tatsächlich noch unter einer bestimmten Anschrift in nennenswertem Umfang vertragsärztlich tätig war. Insoweit komme es darauf an, ob seitens des Arztes noch Besitz bzw. Mitbesitz an Praxisräumen bestehe, ob Sprechzeiten angekündigt würden und ob somit eine noch relevante verbundene Entfaltung einer tatsächlichen ärztlichen Tätigkeit vorliege. Es komme zusätzlich darauf an, ob in tatsächlicher Hinsicht im jeweiligen Fachgebiet eine erforderliche Praxisinfrastruktur in apparativ-technischer Hinsicht bestehe. Ein Vertragsarzt, der eine vertragsärztliche Tätigkeit tatsächlich nicht wahrnehme, keine Praxisräume mehr besitze, keine Patienten mehr behandele und über keinen Patientenstamm verfüge, betreibe keine Praxis mehr, die von einem Nachfolger fortgeführt werden könne. Ein Praxissubstrat liege auch dann nicht mehr vor, wenn der Vertragsarzt seinen vertragsärztlichen Pflichten nicht nachgekommen sei und seinen Versorgungsauftrag nicht erfüllt habe. Liege kein Praxissubstrat vor, gebe es auch nichts, was der Vertragsarzt kapitalisieren könne. Auch am freien Markt erhielte er keinen Gegenwert. Für einen „Verbrauch" der Arztpraxis hafte die Beklagte nicht. Unbeachtlich sei, ob die geringen Fallzahlen zum Teil auf eine Erkrankung der Klägerin zurückzuführen seien. Wegen des Ausnahmecharakters der Vorschrift des § 103 Abs. 4 SGB V komme es nur auf die tatsächliche Existenz einer fortführungsfähigen Praxis an, nicht hingegen darauf, aus welchen Gründen die Fortführungsfähigkeit weggefallen sei. Der ZA habe den Antrag auf Nachbesetzung für einen vollen Versorgungsauftrag abgelehnt, weil es an einem Praxissubstrat fehle. Ein Praxissubstrat für einen vollen Versorgungsauftrag bestehe nicht mehr. Dieser Bescheid des ZA sei in Bestandskraft erwachsen. Da die Klägerin aber das Nachbesetzungsverfahren über einen vollen Versorgungsauftrag begehre, liege insoweit keine fortführungsfähige Praxis mehr vor.

Mit ihrem Widerspruch vom 08.11.2018 machte die Klägerin geltend, Voraussetzung für einen Entschädigungsanspruch sei nach dem Wortlaut des § 103 Abs. 3a Satz 13 SGB V, dass der ZA zuvor den von der Klägerin gestellten Antrag auf Durchführung des Nachbesetzungsverfahrens abgelehnt habe. Diese Tatbestandsvoraussetzung sei im vorliegenden Fall erfüllt. Für den Entschädigungsanspruch komme es nicht darauf an, aus welchen Gründen der ZA den Antrag auf Durchführung des Nachbesetzungsverfahrens abgelehnt habe. Auch im Falle der Ablehnung eines Antrags wegen angeblich fehlenden Praxissubstrats sei § 103 Abs. 3a SGB V einschlägig. Die Beklagte könne die Ablehnung ihres Antrags auf Festsetzung einer Entschädigung deshalb nicht auf ein angeblich fehlendes Praxissubstrat stützen. Sie müsse als zuständige Verwaltungsbehörde selbst prüfen, ob und in welcher Höhe eine Entschädigung zu gewähren sei.

Mit dem am 27.04.2019 zugestelltem Widerspruchsbescheid vom 15.04.2019 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Die von der Klägerin vorgebrachten Argumente seien nicht einschlägig. Die Beklagte sei an die Entscheidungen des ZA gebunden. Insoweit prüfe die Beklagte nicht selbst, sondern sei an den bestandskräftig gewordenen Beschluss des ZA gebunden. Lediglich die Festsetzung der Höhe der Entschädigung erfolge durch die Beklagte gegebenenfalls. Genau so sei die Beklagte aber an die bestandskräftige Entscheidung des ZA gebunden, wenn dieser feststelle, dass kein Praxissubstrat zur Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens mehr vorliege. Auch sei klar, dass ein Beschluss des ZA, der ein Nachbesetzungsverfahren wegen fehlendem Praxissubstrat abgelehnt habe, zulässig vor Gericht beanstandet werden könne. Dies sei aber nicht geschehen. Vielmehr sei der Beschluss des ZA bestandskräftig geworden.

Am 27.05.2019 hat die Klägerin beim Sozialgericht Stuttgart (SG) Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, die Beklagte könne den Antrag auf Festsetzung einer Entschädigung nicht ohne eigene Sachverhaltsermittlung darauf stützen, dass der ZA in seinem Bescheid von einem fehlenden Praxissubstrat ausgehe. Zwar habe sie in ihrer Praxis in den letzten Jahren keinen besonders großen Umfang an Tätigkeit mehr entfaltet, dennoch seien die von ihr im Verwaltungsverfahren vorgelegten Zahlen insoweit aussagekräftig, als doch bis zum Ende eine nennenswerte Tätigkeit entfaltet worden sei. Sie habe Umsätze im Jahr 2012 in Höhe von 101.591,05 € erzielt. Die Umsätze seien im Jahr 2015 immerhin noch bei 55.442,45 € gelegen. Mithin habe eine zwar kleine, aber durchaus vorhandene fortführungsfähige Praxis bestanden. Die Beklagte müsse aufgrund der ihr vorgelegten betriebswirtschaftlichen Zahlen der klägerischen Praxis eine eigene Praxisbewertung durchführen.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat ergänzend ausgeführt, die Auffassung, für einen Entschädigungsanspruch komme es nur darauf an, dass der ZA dem Antrag auf Nachbesetzung nicht entsprochen habe, gehe fehl. Ziel der Ausschreibung und Nachbesetzung sei die Fortführung der Praxis, weshalb im Falle einer Einzelpraxis Ausschreibungen und Nachbesetzung nur solange erfolgen könnten, als ein Praxissubstrat vorhanden sei. Liege ein solches nicht vor, komme auch eine Entschädigung nicht in Betracht. Diese Auffassung sei auch in der Literatur herrschend. Im vorliegenden Fall habe der ZA die Nachbesetzung abgelehnt, da eine fortführungsfähige Praxis im Umfang eines vollen Versorgungsvertrages nicht vorgelegen habe.

Mit Urteil vom 18.07.2022 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Bescheid der Beklagten vom 02.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.04.2019 sei rechtmäßig und verletze die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie habe keinen Anspruch auf Gewährung einer Entschädigung.

Gegen das ihrem Prozessbevollmächtigen am 18.10.2022 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 17.11.2022 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Sie macht geltend, das Urteil sei schon formal fehlerhaft, weil der in der mündlichen Verhandlung gestellte Antrag („in Höhe des Verkehrswertes“ nicht mit dem im Urteil abgedruckten Antrag („in Höhe von mindestens 25.000 €“) übereinstimme. Zudem führt sie aus, entgegen der Auffassung der Beklagten und des SG habe der ZA im Bescheid vom 22.06.2016 nicht das Fehlen eines Praxissubstrats rechtskräftig festgestellt. Im Tenor des Bescheids werde ausdrücklich nur festgestellt, dass dem Antrag auf Durchführung des Nachbesetzungsverfahrens über einen vollen Versorgungsauftrag nicht entsprochen werde. Der ZA zitiere zudem die Stellungnahme der Beklagten, wonach die Nachbesetzung eines hälftigen Versorgungsauftrags zu befürworten sei. Dies setze denklogisch ein Praxissubstrat voraus. Auch der ZA sei in seinem Bescheid davon ausgegangen, dass die Klägerin jedenfalls einem hälftigen Versorgungsauftrag nachkomme. Es sei also entgegen dem Vortrag der Beklagten nicht so, dass ein fehlendes Praxissubstrat festgestellt worden sei.
Dass der ZA zu dem Schluss gekommen sei, der Antrag auf Durchführung des Nachbesetzungsverfahren sei insgesamt abzulehnen, sei ein Rechtsirrtum, der nicht in Bestandskraft erwachse. In Bestandskraft sei vielmehr erwachsen, dass Praxissubstrat jedenfalls im Umfang eines hälftigen Versorgungsauftrags festgestellt worden sei und ein Nachbesetzungsverfahren abgelehnt wurde. Aufgrund der gesetzlichen Entschädigungsregelung habe für die Klägerin kein Grund bestanden, sich gegen die rechtsirrige Entscheidung des ZA mit Rechtsbehelfen zur Wehr zu setzen. Auf Nachfrage des Gerichts, warum kein Nachbesetzungsverfahren über einen hälftigen Versorgungsauftrag gestellt worden sei, hat die Klägerin angegeben, zum Zeitpunkt der Beantragung eines Nachbesetzungsverfahrens habe sie über einen vollen Versorgungsauftrag verfügt. Sie habe deshalb Anspruch auf Durchführung des Nachbesetzungsverfahrens über einen vollen Versorgungsauftrag gehabt (unter Verweis auf Urteil des Senats vom 20.11.2019 - L 5 KA 1334/17 -, in juris). Dieser sei bestandskräftig abgelehnt worden, weshalb ein Entschädigungsanspruch bestehe.


Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18.07.2022 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 02.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.04.2019 zu verurteilen, eine Entschädigung in Höhe des Verkehrswertes der von der Klägerin bis zum 30.09.2016 am Standort F1 geführten Facharztpraxis für Allgemeinmedizin festzusetzen.

Die Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil und ihre Bescheide für zutreffend. Ergänzend macht sie geltend, ein Entschädigungsanspruch gemäß § 103 Absatz 3a Satz 13 SGB V scheide schon dem Grunde nach aus, wenn ein Antrag auf Durchführung des Nachbesetzungsverfahrens bereits wegen fehlenden Praxissubstrates abgelehnt worden sei. Deshalb erwachse gerade nicht nur der Tenor der Entscheidung des ZA über die Ablehnung der Nachbesetzung in Bestandskraft, sondern auch die tragenden Gründe dieser Entscheidung.
Der ZA habe den Antrag der Klägerin auf Durchführung des Nachbesetzungsverfahrens aus dem Grund des Fehlens eines ausreichenden Praxissubstrats im Umfang eines vollen Versorgungsauftrages abgelehnt. Deshalb stehe der Klägerin nach dem oben Gesagten gerade kein Entschädigungsanspruch zu. Dies gelte auch dann, wenn die Entscheidung des ZA rechtswidrig sein sollte, weil der ZA Praxissubstrat und Versorgungsauftrag unzulässiger Weise vermengt habe. Dies ändere nichts an der Bindungswirkung der Entscheidung. Entgegen der Behauptung der Klägerin habe der ZA aber auch nicht gleichzeitig mit Bindungswirkung festgestellt, dass ein Praxissubstrat jedenfalls in Höhe eines hälftigen Versorgungsauftrages bestehe. Die Klägerin hätte gegen die ihren Antrag auf Nachbesetzung insgesamt ablehnende Entscheidung den Rechtsweg beschreiten müssen, um deren Bestandskraft zu verhindern. Wenn die Klägerin dies nicht getan habe, etwa weil es ihr in der Sache letztlich nur darum gegangen sein sollte, eine Entschädigung der Beklagten zu erhalten, liege dies in ihrer Sphäre.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des SG und des Senats Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

I. Der Senat entscheidet über die Berufung in der Besetzung mit zwei ehrenamtlichen Richtern aus dem Kreis der Vertragsärzte, weil es sich vorliegend um eine Angelegenheit der Vertragsärzte handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

II. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG vom 18.07.2022 ist gemäß §§ 143, 144 SGG statthaft. Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und auch im Übrigen zulässig (§ 151 SGG).

III. Die Berufung der Klägerin ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Mit der fehlerhaften Übertragung des Antrags der Klägerin vom Protokoll in das Urteil kann die Berufung nicht erfolgreich begründet werden; hieraus kann sich allenfalls ein Anspruch auf Tatbestandsberichtigung ergeben, der gegenüber dem SG geltend zu machen wäre.

Der Bescheid der Beklagten vom 02.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.04.2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Entschädigung in Höhe des Verkehrswertes ihrer bis 30.09.2016 in F1 geführten Praxis.

Als Anspruchsgrundlage kommt allein § 103 Abs. 3a Satz 13 SGB V (in der Fassung des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes vom 16.07.2015, BGBl. I 1211; zuvor § 103 Abs. 3a Satz 8 SGB V) in Betracht. Danach hat die Kassenärztliche Vereinigung eine Entschädigung in Höhe des Verkehrswertes der Arztpraxis zu zahlen, wenn der ZA „den Antrag“ abgelehnt hat. Gemeint ist der Antrag nach Abs. 3a Satz 1 auf Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens. Nach dieser Vorschrift entscheidet der ZA auf Antrag des Vertragsarztes (oder seiner zur Verfügung über die Praxis berechtigten Erben), ob ein Nachbesetzungsverfahren nach § 103 Abs. 4 SGB V für den Vertragsarztsitz durchgeführt werden soll, wenn die Zulassung eines Vertragsarztes in einem Planungsbereich, für den Zulassungsbeschränkungen angeordnet sind, durch Tod, Verzicht oder Entziehung endet und die Praxis von einem Nachfolger weitergeführt werden soll. Dies gilt auch bei hälftigem Verzicht oder bei hälftiger Entziehung (§ 103 Abs. 3a Satz 2 SGB V). Ist eine Nachbesetzung des Vertragsarztsitzes aus Versorgungsgründen nicht erforderlich, „kann“ der ZA – abgesehen von den Fällen des § 103 Abs. 3a Satz 3 Hs. 2 SGB V – den Antrag ablehnen. Hat der Landesausschuss eine Überversorgung mit einer Überschreitung von 40 % festgestellt (§ 103 Abs. 1 Satz 3 SGB V), dann „soll“ der ZA den Antrag auf Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens ablehnen, wenn eine Nachbesetzung des Vertragsarztsitzes aus Versorgungsgründen nicht erforderlich ist (§ 103 Abs. 3a Satz 7 SGB V).

Aus diesen Regelungen ergibt sich, dass die Entscheidung über die Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens allein beim ZA liegt. Die Zuständigkeit der Kassenärztlichen Vereinigung beschränkt sich auf die Ausschreibung des Vertragsarztsitzes oder – im Fall einer Ablehnung des Antrags durch den ZA – auf die Zahlung einer Entschädigung. Hinsichtlich der Frage, „ob“ eine Entschädigung zu zahlen ist, hat die Kassenärztliche Vereinigung keine eigene Prüfungskompetenz. Sie ist an die Entscheidung und Feststellungen des ZA im Verfahren nach § 103 Abs. 3a Satz 1 SGB V gebunden. Andernfalls bestünde die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen. Die Kompetenz, die Nachbesetzung gegen Entschädigung abzulehnen, liegt allein beim ZA (vgl. Pawlita in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 103 SGB V, Stand: 27.10.2023, Rn. 145). In die Zuständigkeit der Kassenärztlichen Vereinigung fällt nur die Zahlung bzw. Festsetzung der Entschädigung
(vgl. Pawlita in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 103 SGB V, Stand: 27.010.2023, Rn. 146).

Zur Entscheidung des ZA gehört zwingend die Feststellung, ob eine fortführungsfähige Praxis gegeben ist. Dies folgt aus dem Tatbestandsmerkmal der beabsichtigten Fortführung der Praxis durch einen Nachfolger (s. § 103 Abs. 3a Satz 1 SGB V). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kann die Ausschreibung und Nachbesetzung eines Vertragsarztsitzes in einer Einzelpraxis nur so lange erfolgen, wie ein Praxissubstrat noch vorhanden ist (BSG, Urteil vom 29.09.1999 - B 6 KA 1/99 R -, Urteil vom 11.12.2013 - B 6 KA 49/12 R -, Urteil vom 27.06.2018 - B 6 KA 46/17 R -, alle in juris). Dass die Frage der Fortführungsfähigkeit durch den ZA im Verfahren nach Abs. 3a zu prüfen ist, ergibt sich auch aus der Entschädigungsfolge selbst; prüft der ZA bei seiner Ablehnung der Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens nicht, ob überhaupt eine fortführungsfähige Praxis existiert, könnte die KV gezwungen sein, entgegen dem Sinn und Zweck der Entschädigungsregelung für den Verlust von etwas zu entschädigen, das gar nicht mehr bestand (Barbara Geiger in Hauck/Noftz SGB V, 10. Ergänzungslieferung 2023, § 103 SGB V, Rn. 71). Prüfungsgegenstand des Verfahrens beim ZA ist damit auch die Frage, ob eine fortführungsfähige Praxis vorliegt. Wenn dies nicht der Fall ist, ist der Antrag schon deshalb abzulehnen; in diesem Fall kommt eine Entschädigung nicht in Betracht (Barbara Geiger in Hauck/Noftz SGB V, 10. Ergänzungslieferung 2023, § 103 SGB V, Rn. 72; Pawlita in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 103 SGB V, Stand: 27.10.2023, Rn. 147).

Vorliegend hat der ZA die Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens mit der Begründung abgelehnt, eine fortführungsfähige Praxis liege nicht mehr vor. Dies ergibt sich nicht nur aus der Begründung, sondern auch aus dem Tenor der Entscheidung. Denn im Tenor hat er die Nachbesetzung abgelehnt, ohne die Ablehnung mit der Entschädigungsfolge zu verbinden und/oder die Höhe der Entschädigung festzusetzen (zur Möglichkeit die Ablehnung mit der Entscheidung über die Höhe der Entschädigung zu verbinden: BSG, Urteil vom 12.02.2020 - B 6 KA 19/18 R -, in juris). Damit scheidet eine Entschädigung von vornherein aus. Darauf, ob die Entscheidung des ZA (insbesondere mit Blick auf das Urteil des Senats vom 20.11.2019 - L 5 KA 1334/17 -, in juris) rechtmäßig ist, kommt es nicht an. Denn sie wurde von der Klägerin nicht angefochten und ist deshalb bestandskräftig. Dabei wäre sie anfechtungsbefugt gewesen. Denn der abgabewillige Arzt ist durch die Entscheidung des ZA gegen die Durchführung des Nachbesetzungsverfahrens grundsätzlich beschwert (BSG, Urteil vom 12.02.2020 - B 6 KA 19/18 R -, in juris).

Soweit die Klägerin in den Entscheidungsgründen des Beschlusses des ZA die Feststellung eines Praxissubstrats für eine Praxis mit hälftigem Versorgungsauftrag erkennt, kann dies ebenfalls nicht zu einem Entschädigungsanspruch führen. Denn es fehlt insoweit eine Entscheidung des ZA über die Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens bzw. an einer Ablehnung der Durchführung aus Versorgungsgründen hinsichtlich einer Praxis mit hälftigem Versorgungsauftrag. Der ZA hat ausweislich des Tenors seiner Entscheidung nur über die Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens der Praxis der Klägerin mit vollem Versorgungsauftrag entschieden. Auch insoweit ist nicht von Relevanz, ob die Entscheidung des ZA rechtmäßig ist; denn sie ist bestandskräftig und deshalb bindend.

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 2 und 3, 162 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung.

V. Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).

VI. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 3 Gerichtskostengesetz. Mangels Anhaltspunkten für die Höhe der begehrten Entschädigung ist der Auffangstreitwert anzusetzen. Einen bezifferten Antrag hat die Klägerin im Berufungsverfahren nicht mehr gestellt.



 

Rechtskraft
Aus
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