L 2 SO 843/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 10 SO 3514/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 843/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Kostenersatz nach § 102 SGB XII kann auch nach der zum 01.01.2020 erfolgten Herauslösung der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, deren Leistungen bis zum 31.12.2019 im 6. Kapitel des SGB XII geregelt waren, und der Überführung dieser Leistungen ins SGB IX, weiterhin zumindest dann verlangt werden, wenn die Eingliederungshilfeleistungen noch nach dem alten Recht erbracht worden sind, der Leistungsträger den Kostenersatz aber erst nach dem 01.01.2020 geltend macht.

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 15. Februar 2023 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert wird für beide Rechtszüge endgültig auf 54.457,58 Euro festgesetzt.

Die Revision wird zugelassen.



Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Inanspruchnahme zum Kostenersatz als Erbin für Leistungen der Eingliederungshilfe ihres verstorbenen Ehemannes durch den Beklagten.

Die Klägerin ist die Witwe des 1954 geborenen und 2019 verstorbenen R1 (im Folgenden R). R erlitt im Jahr 2001 einen Herzstillstand und seither bestand eine globale Aphasie, ein hirnorganisches Psychosyndrom, Apraxie sowie Stuhl- und Harninkontinenz. Zum 01.09.2004 wurde R in den Förder- und Betreuungsbereich der Zweigwerkstatt G1 der Lebenshilfe aufgenommen. Mit Bescheid vom 26.07.2004 (Bl. 41 VA) wurde durch den damals noch zuständigen Landeswohlfahrtsverband B1 der Aufnahme des R in die Förder- und Betreuungsgruppe bei der Werkstatt für behinderte Menschen in G1 zugestimmt und die ab Aufnahmetag anfallende Vergütung in Höhe von damals 54,87 Euro täglich im Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bis auf Weiteres übernommen. Diese Leistungen wurden im Folgenden bis zum Tod des R vom Beklagten nach den Bestimmungen des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) weitergezahlt. Für den Zeitraum vom 01.01.2016 bis 01.03.2019 sind hierfür Kosten in Höhe von 83.152,86 Euro entstanden (vgl. Jahreskontolisten Bl. 441 ff. VA).

Ausweislich des von der Klägerin vorgelegten handschriftlichen Testaments vom 07.06.2001 setzten sich die Klägerin und ihr verstorbener Ehemann wechselseitig zu Alleinerben ein (vgl. Bl. 419 VA).

Die Klägerin machte gegenüber dem Beklagten auf dessen Auskunftsersuchen vom 21.05.2019 (vgl. Bl. 335 VA) hin mit Schreiben vom 29.05.2019 durch einen ausgefüllten Selbstauskunftsbogen (vgl. Bl. 341 VA) Angaben zum Nachlass. Daraus ergab sich, dass zum Nachlass ein hälftiger Miteigentumsanteil an einem selbstgenutzten Einfamilienhaus gehörte. Die Nachlassverbindlichkeiten wurden mit 54.096,74 Euro beziffert, die Beerdigungskosten mit 4.166,15 Euro.

Aus weiteren vorgelegten Unterlagen ergab sich, dass das Haus inzwischen an den Sohn der Klägerin übergeben worden war (vgl. Notarvertrages vom 28.10.2019, Bl. 370 ff. VA). Als Wert des Hauses wurde darin ein Gegenstandswert von 250.000,00 Euro angegeben. Die Übertragung erfolgte im Wege der vorweggenommenen Erbfolge und der Klägerin wurde ein lebenslanges Wohnrecht eingeräumt. Außerdem legte die Klägerin die Kontoauszüge des Girokontos ihres verstorbenen Ehemannes bei der P1bank (Guthaben zum 01.03.2019: 2.104,95 Euro, Bl. 393 ff. VA), den von ihr und R mit der V1bank B2 geschlossenen Darlehensvertrag vom 08.02.2008 über ein Darlehen in Höhe von 120.000 Euro für den behindertengerechten Umbau des Hauses (vgl. Bl. 401 VA) mit Darlehensstand zum 28.02.2019 i.H.v. 53.174,88 Euro (vgl. Bl. 407) sowie Nachweise über die Beerdigungskosten (Rechnung Fa. E1 i.H.v. 2.795,15 Euro, Bl. 409 VA, Gebührenbescheid i.H.v. 911,00 Euro, Bl. 413 VA, Rechnung G2 i.H.v. 360,00 Euro, Bl. 415 VA sowie Rechnung für Totenschein i.H.v. 66,34 Euro, Bl. 417) vor.

Mit Bescheid vom 27.07.2020 (Bl. 455 VA) forderte der Beklagte von der Klägerin Kostenersatz nach § 102 SGB XII in Höhe von 54.457,58 Euro. Hierbei waren unter Berücksichtigung des hälftigen Eigentumsanteils der Klägerin sowie des Girokontos zum 01.03.2019 ein Nachlassvermögen von 127.104,95 Euro und Nachlassverbindlichkeiten in Höhe von 57.307,37 Euro (Darlehenssumme zum behindertengerechten Umbau in Höhe von 53.174,88 Euro zzgl. Beerdigungskosten in Höhe von insgesamt 4.132,49 Euro) und somit ein Reinnachlass von 69.797,58 Euro zu Grunde gelegt worden. Der Sozialhilfeaufwand habe im Zeitraum vom 01.01.2016 bis 01.03.2019 insgesamt 83.152,86 Euro betragen und übersteige damit bereits den Reinnachlass. Unter Abzug des erhöhten Freibetrages nach § 102 Abs. 3 Nr. 2 SGB XII in Höhe von 15.340,00 Euro ergebe sich der geforderte Betrag. Eine besondere Härte liege nicht vor. Dass die Klägerin ihren Ehemann gepflegt habe, sei mit dem erhöhten Freibetrag berücksichtigt worden. Die Umbaukosten seien vollumfänglich berücksichtigt worden. Schonvermögen, hier das selbstbewohnte Eigenheim, das dem Leistungsberechtigten erhalten bleibe solle, solle dem Erben gerade nicht zugutekommen.

Dagegen lies die Klägerin mit Schreiben vom 18.08.2020 (Bl. 473/ 481 VA) Widerspruch erheben. Zur Begründung wurde u.a. vorgetragen, dass vorhandenes Einkommen oder Vermögen bei der Bewilligung der Eingliederungshilfe nach § 92 Abs. 2 S. 2 SGB XII nicht anzurechnen seien. Zwar stelle die Eingliederungshilfe eine Form der Sozialhilfe dar, diese sei jedoch einkommensunabhängig zu gewähren, deswegen entbehre der Rückforderungsbescheid vom 10.07.2020 jeglicher Grundlage und sei damit rechtswidrig ergangen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10.11.2020 (Bl. 489 VA) wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Hier wurde u.a. nochmals darauf verwiesen, dass das Schonvermögen grds. nicht dem Erben zugutekommen solle. Die geltend gemachten Aufwendungen für den Hausumbau habe man vollumfänglich berücksichtigt. Der Darlehensvertrag sei auf die Klägerin und ihren verstorbenen Ehemann gelaufen. Die Schulden seien aufgrund der gesamtschuldnerischen Haftung der Klägerin in voller Höhe beim Kostenersatz in Abzug gebracht worden.

Hiergegen ist am 24.11.2020 Klage zum Sozialgericht (SG) Karlsruhe erhoben worden. Zu deren Begründung hat die Klägerin im wesentlichen ihren Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt. Ergänzend hat sie angeführt, der Anwendungsbereich des § 102 SGB XII sei vorliegend nicht eröffnet. Dem Ehemann der Klägerin seien Teilhabeleistungen in Form von Eingliederungshilfe gewährt worden. Diese seien von Seiten des Beklagten gem. § 92 Abs. 2 SGB XII a.F. bedarfsunabhängig zu erbringen gewesen. Diese Bedarfsunabhängigkeit und der im Sozialrecht grundsätzlich geltende Nachranggrundsatz dürften nun nicht durch eine Rückforderung nach § 102 SGB XII umgangen werden. Ergänzend ist mit Schreiben vom 30.05.2022 ausgeführt worden, dass zu Beginn der Leistungsgewährung an den Ehemann der Klägerin, nicht mitgeteilt worden sei, dass auch eine Rückerstattung gefordert werden könne. Zudem sei der behindertengerechte Umbau des Hauses nicht ausreichend berücksichtigt worden. Dieser sei ausschließlich auf Grund der Behinderung des Ehemannes erfolgt und habe nur zu seinen Gunsten gedient. Hierfür habe man ein Darlehen i.H.v. 120.00,00 Euro aufnehmen müssen.

Der Beklagte ist dem Begehren der Klägerin entgegengetreten und hat nochmals darauf hingewiesen, dass Schonvermögen i.S.v. § 90 SGB XII grundsätzlich den Erben nicht zugutekommen solle. Im Übrigen stehe die Entscheidung, ob ein Ersatzanspruch gem. § 102 SGB XII gegen die Erben geltend gemacht werde, nicht im Ermessen des Trägers der Sozialhilfe. Wenn die Leistung rechtmäßig erbracht worden sei, spiele es für die Anwendung des § 102 SGB XII keine Rolle, ob im Nachlass befindliche Vermögensgegenstände zu Lebzeiten geschützt gewesen seien. Denn die Vorschriften über nicht einzusetzendes Vermögen (§§ 90, 91 SGB XII) würden nicht dem Schutz der Erben dienen.

Das SG hat mit Urteil vom 15.02.2023 den Bescheid vom 27.07.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.11.2020 aufgehoben. Die Beklagte habe zu Unrecht Kostenersatz gegenüber der Klägerin gemäß § 102 Abs. 1 SGB XII geltend gemacht. Die Voraussetzungen dieser Norm lägen nicht vor. Nach dem eindeutigen Wortlaut von § 102 Abs. 1 S. 1 SGB XII sei ein Kostenersatz nur im Falle gewährter Sozialhilfe möglich.
Ein solcher Fall liege nach Überzeugung der Kammer allerdings hier nicht vor. Der Beklagte habe dem verstorbenen Ehegatten der Klägerin Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung nach den Bestimmungen des SGB XII in Form der Kostenübernahme für die Betreuung in der Förder- und Betreuungsgruppe bei der Werkstatt für behinderte Menschen der Lebenshilfe in G1 in der Zeit vom 01.09.2004 bis 01.03.2019 gewährt. Hierbei habe es sich um eine Leistung nach § 54 Abs. 1 SGB XII a.F. gehandelt. Diese Norm sei zum 31.12.2019 ersatzlos weggefallen. Mit dem Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung vom 23.12.2016 sei die vormals in § 54 SGB XII a.F. geregelte Eingliederungshilfe mit Wirkung zum 01.01.2020 in das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) eingefügt worden. Geregelt seien die Leistungen der Eingliederungshilfe seit dem 01.01.2020 in den §§ 99 ff. SGB IX. Damit gehörten die Leistungen der Eingliederungshilfe seit dem 01.01.2020 nicht mehr zu den Leistungen der Sozialhilfe und seien mithin seit diesem Zeitpunkt nicht mehr vom Anwendungsbereich des § 102 SGB XII umfasst. Zu keinem anderen Ergebnis führe, dass die in der Vergangenheit gewährten Leistungen der Eingliederungshilfe an R noch Leistungen der Sozialhilfe gewesen seien. Auch dann verbleibe es nach dem 01.01.2020 nicht bei der geltend gemachten Kostenersatzpflicht. Richtig sei zwar, dass es der Gesetzgeber unterlassen habe, eine Übergangsregelung für solche Fallgestaltungen wie der hiesigen, zu schaffen. Dies bedeute jedoch nicht, dass alle in der Vergangenheit gewährten Leistungen der Eingliederungshilfe von den Erben des Leistungsempfängers zu erstatten seien. Der maßgebende Zeitpunkt der Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes sei bei einer reinen Anfechtungsklage der Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes. Das bedeute, es komme bei dieser Klageart auf die Sach- und Rechtslage bei Erlass des Verwaltungsaktes bzw. des Widerspruchsbescheids an. Hier also nicht auf den Zeitraum der Leistungsgewährung, sondern auf den Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Bescheids, mit welchem der Kostenersatz geltend gemacht werde. Dies sei im vorliegenden Fall der 27.07.2020. Zu diesem Zeitpunkt sei die Eingliederungshilfe aber nicht mehr im SGB XII, sondern im SGB IX geregelt gewesen. Der Bescheid vom 27.07.2020 habe zum Zeitpunkt seines Erlasses demnach nicht mehr der geltenden Rechtslage entsprochen und sei damit von Anfang an rechtswidrig. Eine Kostenerstattungspflicht der Klägerin bestehe mithin nicht.

Gegen das ihm am 22.02.2023 gegen elektronisches Empfangsbekenntnis zugestellte Urteil hat der Beklagte am 16.03.2023 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg erhoben und zur Begründung ausgeführt, dass dem SG Karlsruhe zwar dahingehend zuzustimmen sei, dass § 54 Abs. 1 SGB XII a.F. als solcher ersatzlos weggefallen sei. § 102 SGB XII sei allerdings weiterhin anwendbar, da es sich bei der „alten“ Eingliederungshilfe nach SGB XII trotz der Überführung in das SGB IX inhaltlich um die gleiche Leistung wie die „neue Eingliederungshilfe“ handele. Dafür spreche bereits der Wortlaut des § 99 Abs. 1, Abs. 2 SGB IX sowie des - ebenfalls weggefallenen - § 53 Abs. 1, Abs. 2 SGB XII a.F. Beide regelten die Voraussetzungen der Leistungsberechtigung für die Eingliederungshilfe und seien nahezu identisch gefasst. Für die inhaltliche Gleichartigkeit der „alten“ und „neuen“ Eingliederungshilfe spreche auch, dass es sich weiterhin um eine steuerfinanzierte, bedarfsbezogene und bedürftigkeitsabhängige Leistung handele.

Der Beklagte beantragt,

            das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 15. Februar 2023 aufzuheben und die Klage             abzuweisen.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

            die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat zur Begründung auf das erstinstanzliche Urteil verwiesen und ergänzend ausgeführt, dass sie nicht verstehen könne, warum man eine Hilfeleistung, die der Unterstützung, Förderung und Fürsorge behinderter Menschen diene, im Nachhinein zurückfordere ohne seiner Informationspflicht nachgekommen zu sein. Die Eingliederungshilfe habe nur einen Teil des Tages abgedeckt, für die restliche Versorgung sei die Familie über viele Jahre aufgekommen. Hier sollte kein Erbe streitig gemacht werden dürfen.

Die Berichterstatterin hat mit den Beteiligten am 11.10.2023 einen Termin zur Erörterung des Sachverhaltes durchgeführt. Hier haben die Klägerin und die Beklagtenvertreterin ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht erhobene Berufung des Beklagten, über die der Senat im Eiverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden konnte, ist auch im Übrigen zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor.

Die Berufung ist auch begründet. Das SG hat zu Unrecht im angefochtenen Urteil den Bescheid des Beklagten vom 27.07.2020 in der Fassung des Widerspruchbescheides vom 10.11.2020 aufgehoben. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Der Beklagte hat mit den angefochtenen Bescheiden zu Recht einen Kostenersatz nach § 102 SGB XII i.H.v. 54.457,58 Euro für die an ihren verstorbenen Ehemann gewährten Eingliederungsleistungen geltend gemacht.

Nach § 102 Abs. 1 SGB XII ist der Erbe des Hilfeempfängers unter weiteren Voraussetzungen zum Ersatz der Kosten der Sozialhilfe verpflichtet. Die Voraussetzungen dieser Norm sind vorliegend entgegen der Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil erfüllt.

Ausweislich des vorliegenden Testaments ist die Klägerin unabhängig von den beiden gemeinsamen Kindern Alleinerbin geworden.

Nach § 102 Abs. 1 S. 2 SGB XII besteht die Ersatzpflicht nur für die Kosten der Sozialhilfe, die innerhalb eines Zeitraumes von zehn Jahren vor dem Erbfall aufgewendet worden sind und die das Dreifache des Grundbetrages nach § 85 Abs. 1 SGB XII (Freibetrag) übersteigen. Der Beklagte hat hier vorliegend Kosten für den Zeitraum vom 01.01.2016 bis 01.03.2019 i.H.v. insgesamt 83.152,86 Euro übernommen. In diesem Zeitraum wurden dem verstorbenen Ehemann vom Beklagten Leistungen der Eingliederungshilfe für den Besuch des Förder- und Betreuungsbereichs der Werkstatt für behinderte Menschen der Lebenshilfe in G1 gewährt. 

Diese Aufwendungen lagen über dem Dreifachen des Grundbetrages nach § 85 Abs. 1 SGB XII. Maßgebender Zeitpunkt für die Höhe des zu Grunde zu legenden Grundbetrags nach § 85 Abs. 1 SGB XII ist der Erbfall (BSG, Urteil vom 23.03.2010 - B 8 SO 2/09 R -, juris Rn. 26 mit Hinweis auf BVerwGE 57, 26, 27 zur Vorgängervorschrift § 81 Abs. 1 BSHG; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.10.2016 - L 2 SO 4914/14 -, juris, Rn. 31 - 32). Der Grundbetrag betrug vorliegend 864,00 Euro (Zweifaches der Regelbedarfsstufe 1 in 2020: 432,00 Euro x 2), das Dreifache demnach 2.592,00 Euro.

Die Vorschriften über den Kostenersatz in § 102 SGB XII erfassen weiter nur rechtmäßig erbrachte Sozialhilfeleistungen. Maßgeblich ist, ob die dem Erblasser gewährten Leistungen nach den materiell-rechtlichen Vorschriften - hier noch nach den Vorschriften des SGB XII - zugestanden haben (BSG a.a.O, Rn. 17). Hieran besteht vorliegend kein Zweifel und dies wird von der Klägerin auch nicht in Frage gestellt. Vermögen war bei der Leistungsgewährung nicht zu berücksichtigen. Insbesondere war das selbstgenutzte Hausgrundstück als Vermögensgegenstand gem. § 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII nicht zu berücksichtigen.

Zu einem anderen Ergebnis führt im vorliegenden Fall auch nicht - entgegen den Ausführungen des SG -, dass zum 01.01.2020 die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, deren Leistungen bis zum 31.12.2019 im 6. Kapitel des SGB XII geregelt waren, aus dem SGB XII herausgelöst worden und seitdem als Teil 2 des SGB IX als „Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderungen“ geregelt ist. Es spricht dann weiter zwar vieles dafür, dass ab dem 01.01.2020 gewährte Leistungen der Eingliederungshilfe nicht mehr vom Anwendungsbereich des § 102 SGB XII umfasst sind (so z.B. Simon in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 102 SGB XII [Stand: 20.07.2023], Rn. 78; NZS 2021, 988, beck-online), weil die Ersatzpflicht nach § 102 SGB XII sich auf die Leistungen der Sozialhilfe bezieht, d.h. auf alle Kosten der Sozialhilfe im Sinne des § 8 SGB XII mit Ausnahme der in § 102 Abs. 5 SGB XII genannten Leistungen. Seit dem 01.01.2020 sind, wegen der Herauslösung der Eingliederungshilfe aus dem SGB XII, die Eingliederungsleistungen aber nicht mehr in § 8 SGB XII genannt. Orientiert an diesem eindeutigen Wortlaut spricht daher vieles dafür, dass die Eingliederungsleistungen daher konsequenterweise auch nicht mehr als Sozialhilfe im Sinne dieser Norm gelten, so dass § 102 SGB XII auf diese Leistungen nicht mehr anwendbar wäre. Der Gesetzgeber hat es zudem unterlassen, eine entsprechende Regelung ins SGB IX aufzunehmen. Übergangsregelungen gibt es nicht. Der Senat kann allerdings im vorliegenden Fall offen lassen, ob dies vom Gesetzgeber so beabsichtigt war oder auf einem Versehen beruht.

Denn nach Überzeugung des Senats gilt für Fälle wie den vorliegenden, in denen die Eingliederungsleistungen bis zum 31.12.2019 aber noch nach dem SGB XII erbracht worden sind, § 102 SGB XII auch dann, wenn der Kostenersatz erst nach dem 01.01.2020 geltend gemacht wird (so auch Kroiß/Horn/Solomon, NachfolgeR/Bienert, 3. Aufl. 2023, SGB XII § 102 Rn. 18.1; Simon in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 102 SGB XII [Stand: 20.07.2023], Rn. 78). Auch wenn grds. der maßgebende Zeitpunkt der Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bei einer reinen Anfechtungsklage der Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes ist, ist vorliegend zu beachten, dass der angefochtene Bescheid der Bescheid vom 27.07.2020 in der Fassung des Widerspruchbescheides vom 10.11.2020 ist, mit dem ein Kostenersatz nach § 102 SGB XII geltend gemacht wird. Zu diesem Zeitpunkt war die Eingliederungshilfe auch bereits aus dem SGB XII herausgelöst, so dass grds. auch neues Recht anzuwenden wäre. Für die Frage der Rechtmäßigkeit der erbrachten Leistungen, was im Rahmen des § 102 SGB XII zu prüfen ist (s.o.), ist aber die Rechtslage zum Zeitpunkt der Erbringung der Eingliederungshilfeleistungen entscheidend. Diese Leistungen wurden hier, da die Leistungserbringung am 01.03.2019 endete, aber noch vollständig nach den Vorschriften des SGB XII erbracht. Die gewährten Leistungen waren demnach zum Zeitpunkt der Leistungserbringung auch Leistungen im Sinne des § 8 SGB XII a.F. und damit Leistungen der Sozialhilfe, so dass auch für diese Leistungen nach wie vor die Regelung zum Kostenersatz nach § 102 SGB XII Anwendung findet.

Nach § 102 Abs. 2 Satz 2 SGB XII haftet der Erbe mit dem Wert des im Zeitpunkt des Erbfalls - hier am 01.03.2019 - vorhandenen Nachlasses. Der Wert des Nachlasses (Erbschaft) umfasst das als Ganzes übergehende Vermögen des Erblassers und ermittelt sich anhand des angefallenen Aktivvermögens des Erblassers, von dem die Nachlassverbindlichkeiten in Abzug zu bringen sind, also der Differenz zwischen dem in Geld zu veranschlagenden Aktivbestand und den Passiva im Zeitpunkt des Erbfalls. Zu den Nachlassverbindlichkeiten gehören auch die den Erben als solchen treffenden Verbindlichkeiten (§ 1967 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]), folglich auch die Beerdigungskosten, weil der Erbe diese Kosten nach § 1968 BGB zu tragen hat (BSG, Urteil vom 23.3.2010 - B 8 SO 2/09 R -, juris Rn. 24).
Hierzu ist festzustellen, dass der Nachlass hier aus einem Guthaben auf dem Girokonto i.H.v. 2.104,95 Euro und dem hälftigen Hausgrundstück bestand. Unerheblich ist zunächst, dass die Klägerin das Eigentum hieran inzwischen auf ihren Sohn übertragen hat (vgl. Übergabevertrag vom 28.10.2019). Es hat nämlich auf die Erbenhaftung keine Auswirkungen, wenn vor Inanspruchnahme durch den Sozialhilfeträger Teile des Nachlasses verschenkt oder sonst veräußert werden (Simon a.a.O. Rn. 52). Zu Recht ist der Beklagte weiter dann von dem dem Übergabevertrag zugrunde liegenden Wert von 250.000,00 Euro ausgegangen. Hieran zu zweifeln gibt es keinen Grund, insbesondere da die Klägerin in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang zum Erbfall (R verstarb am 01.03.2019, der Übergabevertrag wurde ca. 6 Monate später geschlossen) selbst von diesem Wert ausging. Die Hälfte hiervon beträgt 125.000 Euro. Festzustellen ist damit weiter, dass insgesamt ein Nachlassvermögen von 127.104,95 Euro zu berücksichtigen ist.
Demgegenüber sind Nachlassverbindlichkeiten i.H.v. 57.307,37 Euro festzustellen. Diese setzten sich zusammen aus den Beerdigungskosten i.H.v. 4.132,49 Euro und der zum Zeitpunkt des Todes von R noch offenen Darlehenssumme von 53.174,88 Euro. Der Beklagte hat hier zu Recht, da die Klägerin und ihr verstorbener Ehemann gesamtschuldnerisch für das für den Hausumbau aufgenommene Darlehen hafteten, die gesamte und nicht nur die hälftige Darlehenssumme als Nachlassverbindlichkeit berücksichtigt. Hierbei hat er allerdings zu Recht nicht die ursprünglich aufgenommenen 120.000,00 Euro in Ansatz gebracht, sondern nur noch die zum Todeszeitpunkt nicht zurückgezahlte Darlehenssumme. Nur in dieser Höhe war der Nachlass noch belastet.
Daraus ergibt sich ein Reinnachlass von 69.797,58 Euro, abzüglich des nach § 102 Abs. 3 Nr. 2 SGB XII erhöhten Freibetrags von 15.340,00 Euro (die Klägerin hat als Ehegattin nicht nur vorübergehend bis zum Tod von R mit diesem in häuslicher Gemeinschaft gelebt und ihn gepflegt) ist ein einzusetzender Nachlass i.H.v. 54.457,58 Euro festzustellen. Die an den Ehemann der Klägerin gewährten Leistungen übersteigen diese Summe. Der Kostenersatz ist aber auf den Nachlass begrenzt, so dass der Beklagte zu Recht auch nur 54.457,58 Euro gegenüber der Klägerin geltend macht.

Der Kostenersatz ist auch nicht ganz oder teilweise nach § 102 Abs. 3 SGB XII ausgeschlossen. Die Nr. 1 kommt nicht in Betracht, da der Wert des Nachlasses nicht unter dem Wert des Dreifachen des Grundbetrages nach § 85 Abs. 1 SGB XII (2.592,00 Euro) liegt. Die Nr. 2 ist nicht einschlägig, weil die Klägerin ihren verstorbenen Ehemann zwar gepflegt hat, aber der Wert des Nachlasses auch nach Abzug aller Freibeträge noch über 15.340 Euro liegt. Nach § 102 Abs. 3 Nr. 3 SGB XII ist der Anspruch auf Kostenersatz weiter nicht geltend zu machen, soweit die Inanspruchnahme des Erben nach der Besonderheit des Einzelfalls eine besondere Härte bedeuten würde. Eine solche Härte ist bei einer auffallenden Atypik des zu beurteilenden Sachverhalts anzunehmen, die es unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls als unbillig erscheinen lässt, den Erben für den Ersatz der Kosten der Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. Die Härte muss besonders gewichtig sein, also objektiv besonders schwer wiegen (BSG, Urteil vom 23.3.2010 - B 8 SO 2/09 R -, juris, Rn. 27 zur Vorgängervorschrift in § 92c Abs. 3 Nr. 3 BSHG).
Eine solche besondere Härte liegt hier nicht vor. Sie ergibt sich auch nicht daraus, dass es sich bei dem ererbten Grundbesitz um Miteigentum an dem Haus handelt, das die Klägerin mit ihrem Ehegatten bewohnte und nach seinem Tod weiterhin bewohnt. Insoweit handelt es sich nicht um einen atypisch gelagerten Fall mit Ausnahmecharakter, wie er Voraussetzung für das Vorliegen einer besonderen Härte ist, sondern um eine häufig anzutreffende Konstellation, wenn nicht sogar um den typischen Fall des § 102 SGB XII (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.10.2016 - L 2 SO 4914/14 -, juris, Rn. 41; Bayerisches LSG Urteil vom 23.02.2012 - L 8 SO 113/09 -, juris, Rn. 61 m.w.Nw.), zumal der Kostenersatz gerade den Nachranggrundsatz der Sozialhilfe wiederherstellen und verhindern will, dass die Vorschriften über das Schonvermögen auch über den Tod des Hilfeempfängers hinweg zugunsten des Erben wirken (vgl. Bayerisches LSG a.a.O.). Es gibt nämlich kein "postmortales Schonvermögen" zugunsten des Erben (vgl. BSG, Urteil vom 27.02.2019 - B 8 SO 15/17 R -, SozR 4-3500 § 102 Nr 3, Rn. 20). Denn würde dieses Vermögen uneingeschränkt dem Erben zuwachsen, so würde auch dieser von den Vorschriften über das Schonvermögen profitieren, unabhängig davon, ob in seiner Person schutzwürdige Gründe für den Erhalt dieses Vermögens vorliegen. Um eine solche unbillig erscheinende Privilegierung des Erben auf Kosten öffentlicher Mittel zu vermeiden, begründet § 102 SGB XII einen auf den Nachlass beschränkten Ersatzanspruch gegen den Erben. Im Ergebnis wird so das zu Lebzeiten des Hilfeempfängers bzw. seines Ehegatten oder Lebenspartners von der Einsatzpflicht ausgenommene Schonvermögen nachträglich - in gewissem Umfang - doch noch zum Ausgleich der erbrachten Sozialhilfeleistungen herangezogen (vgl. Bieback in Grube/Wahrendorf/Flint, 8. Aufl. 2024, SGB XII, § 102 Rn. 2). Nicht zuletzt hat die Klägerin das Eigenheim inzwischen an ihren Sohn übertragen und ist nicht mehr Eigentümerin dieser Immobilie, so dass daher schon aus diesem Grund keine besondere Schutzbedürftigkeit der Klägerin selbst vorliegt.

Schließlich ist der Anspruch auf Kostenersatz auch nicht nach § 102 Abs. 4 SGB XII erloschen. Der Anspruch erlischt grundsätzlich in 3 Jahren nach dem Tode des Hilfeempfängers. Aufgrund der entsprechenden Geltung des § 103 Abs. 3 Satz 2 SGB XII und den danach heranzuziehenden Bestimmungen des BGB über die Hemmung und Unterbrechung der Verjährung ist die Frist vorliegend durch Erlass des Kostenerstattungsbescheides unterbrochen worden, da er nämlich nach § 102 Abs. 3 Satz 3 SGB XII der Erhebung der Klage gleichsteht (so auch LSG Baden-Württemberg, a.a.O, Rn. 45)

Nach alledem ist der angefochtene Bescheid vom 27.07.2020 in der Fassung des Widerspruchbescheides vom 10.11.2020 nicht zu beanstanden und das erstinstanzliche Urteil daher aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die Klägerin gehört nicht zu dem in § 183 SGG genannten Personenkreis, weil sie nicht in der Eigenschaft als Versicherte, Leistungsempfängerin oder Sonderrechtsnachfolgerin nach § 56 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) klagt, sondern als Erbin in Anspruch genommen wird und sich in dieser Funktion gegen die von dem Beklagten geltend gemachten Ersatzansprüche zur Wehr setzt.

Die Festsetzung des Streitwerts erfolgt nach § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 47 Abs. 2 Satz 1, 52 Abs. 3, 53 Abs. 2 Nr. 4 Gerichtskostengesetz (GKG) und entspricht dem streitigen Kostenersatz.

Wegen der offenen Rechtsfrage , ob Kostenersatz nach § 102 SGB XII auch nach der zum 01.01.2020 erfolgten Herauslösung der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, deren Leistungen bis zum 31.12.2019 im 6. Kapitel des SGB XII geregelt waren, und der Überführung dieser Leistungen ins SGB IX, weiterhin zumindest dann verlangt werden kann, wenn die Eingliederungshilfeleistungen noch nach dem alten Recht erbracht worden sind, der Leistungsträger den Kostersatz aber erst nach dem 01.01.2020 geltend macht, wird gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG die Revision zugelassen.


 

Rechtskraft
Aus
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