S 34 KR 28/21

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 34 KR 28/21
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 61/23
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil


Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Der Kläger begehrt die Erstattung von Mutterschutzlohnkosten nach dem Aufwendungsausgleichsgesetz (AAG) in Höhe von monatlich 24.668,75 Euro für den Zeitraum 1. März bis 30. November 2020, insgesamt 222.018,75 Euro.

Der Kläger betreibt eine Zahnarztpraxis, die neben klassischer Zahnbehandlung auch ästhetische Behandlungen wie Bleaching oder Veneers (Keramikverblendungen) anbietet. Gemäß dem Arbeitsvertrag vom 6. Mai 2014 beschäftigte der Kläger die bei der Beklagten versicherte Frau C. M. (im Folgenden: Versicherte) seit dem 30. Juni 2014 als angestellte Zahnärztin. Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit betrug 40 Stunden. Die monatliche Vergütung belief sich in den ersten drei Monaten auf eine Mindestvergütung von 4.000,00 Euro brutto. Darüber hinaus wurde die monatliche Vergütung wie folgt berechnet: 20 % vom eigenen Honorarumsatz über zahnärztliche Leistungen. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund arbeitgeberseitiger Kündigung zum 30. November 2020.

Die Versicherte wurde im Februar 2017 schwanger und erhielt aufgrund eines durch den Kläger als Arbeitgeber ausgesprochenen Beschäftigungsverbots Mutterschutzlohn nach § 18 Mutterschutzgesetz (MuSchG). Anschließend stillte sie ihr Kind und erhielt weiterhin Mutterschutzlohn, da der Kläger von einem fortdauernden Beschäftigungsverbot ausging. 

Im Jahr 2018 wurde die Versicherte erneut schwanger und brachte am 4. März 2019 ihr zweites Kind zur Welt. Sie wurde weiterhin vom Kläger nicht beschäftigt.

Ab der ersten Schwangerschaft bis einschließlich des ersten Lebensjahres des am 4. März 2019 geborenen zweiten Kindes der Versicherten erstattete die Beklagte dem Kläger gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 2 AAG die Mutterschutzlohnkosten i.S.d. § 18 MuSchG.

Mit Schreiben vom 28. April 2020 verweigerte die Beklagte die Erstattung der Mutterschutzlohnkosten für den Zeitraum ab März 2020, da kein Anspruch auf Erstattung über das erste Lebensjahr des Kindes hinaus bestehe. Das Schreiben enthielt keine Rechtsbehelfsbelehrung. 

Mit anwaltlichem Schreiben vom 18. Juni 2020 forderte der Kläger die Beklagte zur Zahlung auf. Die Beklagte berufe sich fälschlicherweise auf die Regelung des § 7 Abs. 2 MuSchG, wonach der Arbeitgeber Stillpausen gewähren könne. Diese Regelung erfasse nicht den Fall, dass ein arbeitsplatzbezogenes Beschäftigungsverbot während der Stillzeit vorliege. 

Am 8. Juli 2020 teilte die Beklagte mit, dass sie auch für die weiteren Monate nach März 2020 keinen Mutterschutzlohn zahlen werden. 

Mit Schreiben vom 15. Juli 2020 erhob der Kläger Widerspruch gegen den ablehnenden Bescheid vom 28. April 2020 sowie die weitere Ablehnung der Zahlung. Er legte zudem ein ärztliches Attest der Frauenärztin der Versicherten, Frau Dr. H., vom 4. August 2020 vor, wonach die Versicherte weiterhin stille und dies auch weiter plane.

Der Kläger begründete seinen Widerspruch weiter wie folgt: Der Anspruch auf Mutterschutzlohn sei nicht auf die ersten zwölf Lebensmonate des Kindes begrenzt. Eine analoge Anwendung des § 7 Abs. 2 MuSchG komme nicht in Betracht, da keine planwidrige Regelungslücke vorliege. Es sei insoweit zwischen dem Anspruch auf Freistellung für Stillzeiten und dem Gesundheitsschutz zu differenzieren. Bei einem Beschäftigungsverbot behindere das Stillen nicht die Arbeitsleistung der betroffenen Arbeitnehmerin. Aus Gründen des Gesundheitsschutzes dürfe sie aber ihre Arbeit nicht erbringen. Eine Inanspruchnahme von Mutterschaftslohn statt der Beantragung von Elternzeit sei insoweit nicht zu beanstanden. 

Mit Schreiben vom 22. Juli 2020 führte die Beklagte aus, dass die Stillzeit nach § 7 MuSchG auf zwölf Lebensmonate begrenzt sei. Die Höchstgrenze sei im Sinne des Ausgleichs der Interessen von Arbeitgeber und stillender Mutter zu berücksichtigen. Der Widerspruch sei unbegründet.

Mit Antrag vom 29. Oktober 2020 hat der Kläger unter dem Aktenzeichen S 34 KR 2391/20 ER einstweiligen Rechtsschutz bei dem erkennenden Gericht begehrt. Der Antrag ist mit Beschluss vom 24. November 2020 abgelehnt worden. Das Gericht hat bei Leistungen für die Vergangenheit bereits keine Eilbedürftigkeit gesehen. Zudem seien die Voraussetzungen eines Beschäftigungsverbots nicht glaubhaft gemacht worden. Es fehlten aussagekräftige Nachweise. Es sei nicht glaubhaft gemacht, dass die Versicherte ihr Kind noch stille. Das Attest vom 4. August 2020 belege nur, dass sie stille und dies auch weiterhin beabsichtige. Aus der weiter von der Versicherte vorgelegten eidesstattlichen Versicherung gehe hervor, dass sie nur während der Nacht und gelegentlich tagsüber stille. Das Kind erhalte Beikost und besuche eine Kindertagesstätte. Bei diesem geringen Aufwand sei ein Beschäftigungsverbot nicht nachvollziehbar. Die vorgelegte Stellungnahme der Bundeszahnärztekammer betreffe nur schwangere Zahnärztinnen. Es sei nicht ausgeführt, inwieweit dies auch auf stillende Zahnärztinnen zutreffe. Der Kläger habe nicht dargelegt, weshalb ihm eine Umgestaltung der Arbeitsbedingungen nicht zumutbar sei. Das Bestehen unzumutbarer Nachteile sei nicht belegt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14. Dezember 2020 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Der Kläger habe nicht dargelegt, dass ein Beschäftigungsverbot nach § 13 MuSchG bestehe. Er habe nicht nachgewiesen, dass Schutzmaßnahmen oder eine Umgestaltung des Arbeitsplatzes unzumutbar gewesen seien. Ein Beschäftigungsverbot sei erst als letzte Maßnahme auszusprechen. 

Der Kläger hat, anwaltlich vertreten, am 18. Januar 2021 Klage erhoben.

Zur Begründung trägt er vor, dass die Versicherte ihr Kind bis einschließlich November 2020 gestillt habe. Er habe als Arbeitgeber ein Beschäftigungsverbot ausgesprochen, was der Beklagten am 8. Mai 2019 mitgeteilt worden sei. Für das erste Lebensjahr des Kindes sei eine Erstattung erfolgt. Der Zahlungsanspruch bestehe aber auch über das erste Lebensjahr hinaus. Eine unverantwortbare Gefährdung für Mutter und Kind könne selbst bei Schutzmaßnahmen nicht ausgeschlossen werden. Die Versicherte arbeite durchweg mit schneidenden, stechenden und rotierenden Instrumenten im Zahn-, Mund- und Kieferbereich und sei Blut und Speichel der Patienten ausgesetzt. Zudem stellten Zahnfüllungen, Injektionen, Narkose und Betäubungsmittel eine Gefahr dar. Die Erwägungen, die bei schwangeren Frauen gölten, seien auch auf die Stillzeit zu übertragen. Es bestünde die Gefahr der Infektion mit Hepatitis C oder HIV. Eine Umgestaltung des Arbeitsplatzes sei dem Kläger nicht möglich gewesen. Die Versicherte stille ihr Kind weiterhin. Der Gesundheitsschutz sei nicht auf das erste Lebensjahr des Kindes beschränkt. Der Kläger legte ein ärztliches Attest vom 18. November 2020 vor, wonach die Versicherte ihr Kind weiter stille. 

Der Kläger beantragt,

dem Bescheid der Beklagten vom 18. April 2020 in der Fassung vom 22 Juli 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Kläger dem für die Versicherte in der Zeit vom 1. März 2020 bis zum 30. November 2020 geleisteten Mutterschutzlohn in Höhe von monatlich jeweils 24.668,75 Euro, somit ein Gesamtbetrag i.H.v. 222.018,75 Euro zu erstatten. 

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist die Beklagte insbesondere darauf, dass die Voraussetzungen eines Beschäftigungsverbots nach § 13 Abs. 1 Nr. 3 MuSchG nicht vorlägen. Die ärztlichen Atteste belege nicht, dass die Versicherte nach dem 1. März 2020 gestillt habe oder weiterhin stille. Ferner habe sich der Kläger nicht zu den Möglichkeiten einer alternativen Beschäftigung ohne Gefährdungspotential für die Versicherte geäußert.

Auf Nachfrage des Gerichts hat der Kläger zum Umfang des Anspruchs noch Folgendes mitgeteilt:

Der Mutterschutzlohn ergebe sich aus 30% des monatlichen Umsatzes sowie Boni, die monatlich anhand des erreichten Umsatzes, sowie jährlich anhand des erreichten Umsatzes (Jahresbonus) und bezüglich des Vergleichs des Umsatzes zum Vorjahr (Steigerungsbonus) errechnet würden (unter Zugrundelegung von Umsatztabellen). Zusätzlich sei Urlaubsentgelt gezahlt worden. Die Versicherte habe monatlich einen Fahrtkostenzuschuss in Höhe von 126,00 Euro erhalten. Die Umsatzbeteiligung sei von 20 % schrittweise zunächst auf 25 % und dann auf 30% (ab November 2016) erhöht worden. 

Auf Nachfrage des Gerichts hat der Kläger mitgeteilt, dass er schon zu Beginn der ersten Schwangerschaft im Jahr 2017 eine Gefährdungsbeurteilung mit dem Ergebnis des vollständigen Beschäftigungsverbotes der Versicherten vorgenommen habe. Auf dieser Basis beruhten auch die weiteren Beschäftigungsverbote während der Stillzeiten der Versicherten. Zudem sei der streitgegenständliche Zeitraum in die Corona-Pandemie gefallen, mit den entsprechenden Unsicherheiten. Eine schriftliche Gefährdungsbeurteilung hat der Kläger nicht vorgelegt.

Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung am 15. September 2023 Beweis erhoben und hierzu Frau C. M. als Zeugin vernommen. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift verwiesen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird auf den Inhalt der Verfahrensakte und der Verwaltungsakte sowie die Gerichtsakte im Verfahren S 34 KR 2391/20 ER Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

Streitgegenständlich ist der Bescheid vom 28. April 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Dezember 2020 den der Kläger mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage nach §§ 54 Abs. 1 und 4, 56 SGG angreift. Das Schreiben der Beklagten vom 22. Juli 2020 stellt aus Sicht der Kammer keinen (weiteren) Verwaltungsakt i.S.d. § 31 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) dar, da die Beklagte lediglich ihre Rechtsauffassung mitgeteilt hat ohne eine erneute Entscheidung zu treffen. Die Zahlung von Mutterschutzlohn über den Monat Februar 2020 bzw. ab März 2020 hatte sie bereits im Bescheid vom 28. April 2020 endgültig abgelehnt und lediglich dann diese Entscheidung für die weiteren Monate ab März 2020 umgesetzt. 

Der Bescheid der Beklagten vom 28. April 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Dezember 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er kann von der Beklagten nicht die Erstattung des an die Versicherte im Zeitraum 1. März bis 30. November 2020 gezahlten Mutterschutzlohns fordern.

Gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 2 AAG haben die Krankenkassen den Arbeitgebern in vollem Umfang das vom Arbeitgeber nach § 18 MuSchG bei Beschäftigungsverboten gezahlte Arbeitsentgelt zu erstatten (sog. U2-Verfahren). Nach § 18 S. 1 MuSchG erhält eine Frau, die wegen eines Beschäftigungsverbots außerhalb der Schutzfristen vor oder nach der Entbindung teilweise oder gar nicht beschäftigt werden darf, von ihrem Arbeitgeber Mutterschutzlohn.

Dabei scheidet eine Zahlungspflicht der Beklagten nicht bereits deshalb aus, weil, wie die Beklagte meint, die Zahlung von Mutterschutzlohn aufgrund von § 7 Abs. 2 MuSchG über die ersten 12 Lebensmonate des Kindes ausgeschlossen wäre. Während § 7 Abs. 2 MuSchG eine Entgeltfortzahlung für Stillpausen vorsieht, geht es bei einem Beschäftigungsverbot nach den §§ 9, 12, 23 MuSchG um den Gesundheitsschutz. Da Kinder in der Regel nach den ersten 12 Lebensmonaten Beikost erhalten und meist nur noch abends oder nachts gestillt werden, erscheint es gerechtfertigt, zum Ausgleich der Interessen des Arbeitgebers und der stillenden Frau keine Entgeltfortzahlung mehr bei Stillpausen zu gewähren. Der Gesundheitsschutz betrifft jedoch Gefahren, die für die stillende Frau entstehen bspw. durch Infektionen, die über die Muttermilch übertragen werden und betrifft somit den gesamten Zeitraum des Stillens (vgl. insoweit ausführlich: SG Nürnberg, Urteil vom 4. August 2020 – S 7 KR 303/20, juris). 

Es kommt daher allein darauf an, ob in dem streitgegenständlichen Zeitraum ein Beschäftigungsverbot für die Versicherte bestand. Ein Beschäftigungsverbot i.S.d. § 13 Abs. 1 Nr. 3 MuSchG lag jedoch zur Überzeugung der Kammer nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht vor. § 13 Abs. 1 MuSchG normiert:

Werden unverantwortbare Gefährdungen im Sinne von § 9, § 11 oder § 12 festgestellt, hat der Arbeitgeber für jede Tätigkeit einer schwangeren oder stillenden Frau Schutzmaßnahmen in folgender Rangfolge zu treffen:
1.    Der Arbeitgeber hat die Arbeitsbedingungen für die schwangere oder stillende Frau durch Schutzmaßnahmen nach Maßgabe des § 9 Absatz 2 umzugestalten.
2.    Kann der Arbeitgeber unverantwortbare Gefährdungen für die schwangere oder stillende Frau nicht durch die Umgestaltung der Arbeitsbedingungen nach Nummer 1 ausschließen oder ist eine Umgestaltung wegen des nachweislich unverhältnismäßigen Aufwandes nicht zumutbar, hat der Arbeitgeber die Frau an einem anderen geeigneten Arbeitsplatz einzusetzen, wenn er einen solchen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen kann und dieser Arbeitsplatz der schwangeren oder stillenden Frau zumutbar ist.
3.    Kann der Arbeitgeber unverantwortbare Gefährdungen für die schwangere oder stillende Frau weder durch Schutzmaßnahmen nach Nummer 1 noch durch einen Arbeitsplatzwechsel nach Nummer 2 ausschließen, darf er die schwangere oder stillende Frau nicht weiter beschäftigen.

Ein Beschäftigungsverbot i.S.d. § 13 Abs. 1 Nr. 3 MuSchG ist dann gegeben, wenn eine unverantwortbare Gefährdung vorliegt und diese weder durch Schutzmaßnahmen bzw. Umgestaltung der Arbeitsbedingungen noch durch eine Beschäftigung an einem anderen zumutbaren Arbeitsplatz ausgeschlossen werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es Ziel des Mutterschutzgesetzes ist, der Frau auch während der Schwangerschaft, nach der Entbindung und in der Stillzeit die Fortführung ihrer Tätigkeit zu ermöglichen (§ 9 Abs. 1 S. 3 MuSchG).

Eine Gefährdung im arbeitsschutzrechtlichen Sinn liegt vor, wenn eine gesundheitliche Beeinträchtigung möglich ist. Besondere Anforderungen an das Ausmaß der Gefährdung oder die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts bestehen nicht (Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 12. August 2008 – 9 AZR 1117/06, juris). Eine Gefährdung ist nach § 9 Abs. 2 S. 2 MuSchG unverantwortbar und damit vom Arbeitgeber auszuschließen, wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit so hoch ist, dass sie wegen der Schwere des möglichen Gesundheitsschadens nicht hinnehmbar ist. Vorausgesetzt ist also eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Eintritts im Zusammenwirken mit einer erhöhten Schwere der möglichen Gesundheitsbeeinträchtigung. Die Eintrittswahrscheinlichkeit muss umso größer sein, je geringer der mögliche Gesundheitsschaden ist, während bei einem schwerwiegenden möglichen Gesundheitsschaden bereits eine geringe Eintrittswahrscheinlichkeit genügt (Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) 27. Mai 1993 – 5 C 42/89, NJW 1994, S. 401f.). § 9 Abs. 2 Satz 3 MuSchG definiert eine unverantwortbare Gefährdung unter bestimmten Voraussetzungen als ausgeschlossen. Das setzt voraus, dass etwaige einschlägige Vorgaben eingehalten werden. § 12 MuSchG enthält eine Positivliste der Tätigkeiten, die für eine Stillende unzulässig sind. Der Maßstab ist ein anderer als derjenige bei schwangeren Frauen, denn die Gefährdungen für eine heranwachsende Leibesfrucht sind vielfältiger als die Gefährdungsmöglichkeiten beim Stillen. Sobald die Stillende dem Arbeitgeber mitteilt, dass sie stillt, muss die Prüfung erfolgen, ob eine unzulässige Tätigkeit vorliegt und wie eine eventuelle Gefährdungslage zu beseitigen ist (LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 10. August 2021 – 11 SaGa 1/21, juris). Der Kläger durfte also nicht auf die Gefährdungsbeurteilung (§ 10 MuSchG) hinsichtlich der Schwangerschaft der Versicherten zurückgreifen, sondern vielmehr hätte er bezüglich der Stillzeit der Versicherten eine gesonderte Beurteilung vornehmen müssen. § 12 MuSchG bestimmt spezialgesetzlich unzulässige Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen für stillende Frauen im Hinblick auf allgemeine Gefahrstoffe (Abs. 1), Biostoffe (Abs. 2), physikalische Einwirkungen (Abs. 3) etc. Die sich aus der Vorschrift ergebenden Verbote schließen jedoch eine Weiterbeschäftigung nicht generell aus (LAG Baden-Württemberg, aaO).

Vorliegend fehlt es bereits an der unverantwortbaren Gefährdung i.S.d. § 9 Abs. 2 S. 2 MuSchG

Bei der Versicherten handelte es sich im streitgegenständlichen Zeitraum um eine stillende Frau i.S.d. § 12 MuSchG. Ein Kind wird gestillt, wenn es Muttermilch erhält – die Art und Weise ist für die Schutzwürdigkeit der stillenden Person irrelevant; etwa, ob mit abgepumpter Milch oder, ob mit Beikost (Dahm, in: BeckOK ArbR, 69. Edition, Stand: 1. September 2023, MuSchG § 12 Rn. 7). Insoweit spielt es keine Rolle, zu welcher Zeit das Kind gestillt wird. Anders als bei der Freistellung von ihrer Tätigkeit für Stillpausen gemäß § 7 Abs. 2 MuSchG zielt der Gesundheitsschutz nach den §§ 9, 12, 13 MuSchG darauf ab zu verhindern, dass Gefahrstoffe, denen die Mutter ausgesetzt ist, über die Muttermilch auf das Kind übertragen werden. Diesbezüglich kann es dann aber nur darauf ankommen, dass eine Frau stillt und nicht wann sie ihr Kind stillt. Zwar hat der Arbeitgeber über den gesamten Zeitraum den Gesundheitsschutz der Stillenden zu gewährleisten, hinsichtlich der Gefährdungen für Mutter und Kind und der zu treffenden Schutzmaßnahmen ist jedoch das Alter des Kindes bzw. die Dauer des Stillens zu berücksichtigen. Nach 12 Monaten ist das Stillen weder aus ernährungsphysiologischer noch aus immunologischer Sichte für das Kind notwendig und das Stillen ist über 12 Monate hinaus auch nicht im gesundheitlichen Interesse der Mutter erforderlich (die Muttermilchproduktion beschleunigt die Rückbildung der Gebärmutter, den Abbau von in der Schwangerschaft angelegten Fettreserven und verringert das Risiko, an Brust- und Eierstockkrebs, Osteoporose, Diabetes Typ 2 oder Übergewicht zu erkranken (Dahm, in: BeckOK ArbR, 69. Edition, Stand: 1. September 2023, MuSchG § 12 Rn. 8 m.w.Nw. unter anderem Verweis auf die World Health Organisation (WHO)). Die Versicherte hat bei ihrer Vernehmung als Zeugin in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt, dass sie ihr Kind auch in der streitgegenständlichen Zeit, meist abends und während der Schließzeiten der Kindertagesstätte anlässlich der Corona-Pandemie auch teilweise tagsüber gestillt habe, da das Kind mit Beikost schwierig gewesen sei und diese teilweise verweigert habe. Dabei erscheint es nicht ungewöhnlich, dass ein Kind auch nach Vollendung seines ersten Lebensjahres in der Nach gestillt wird.

Eine unverantwortbare Gefährdung der Versicherten durch Gefahrstoffe i.S.d. § 12 Abs. 1 MuSchG ist jedoch weder ersichtlich, noch dargelegt. Eine unverantwortbare Gefährdung für eine stillende Frau oder ihr Kind wird insbesondere dann angenommen, wenn sie Gefahrstoffen ausgesetzt ist oder sein kann, die nach den Kriterien der Verordnung (EG) Nummer 1272/2008 (CLP-Verordnung) als reproduktionstoxisch nach der Zusatzkategorie für Wirkungen auf oder über die Laktation zu bewerten sind (vgl. hierzu ausführlich: Ad-hoc-Arbeitskreis Stillschutz, Hinweise und Empfehlungen zum Schutz stillender Frauen vor einer unverantwortbaren Gefährdung durch Gefahr- und Biostoffe, insbesondere im Hinblick auf eine Wirkung auf oder über die Laktation, Stand: November 2019, S. 6ff. sowie Arbeitshilfe Gefährdungsbeurteilung Stillzeit für beschäftigte stillende Frauen in zahnmedizinischen Praxen, Stand: April 2022, S. 5f., beides abrufbar unter: https://rp.baden-wuerttemberg.de). Dabei sind auch Gefahrstoffe als kritisch anzusehen, die als krebserzeugend oder keimzellenmutagen eingestuft sind, wie bspw. Quecksilber. Eine Exposition mit Quecksilber kommt in einer Zahnarztpraxis dann in Betracht, wenn Amalgamfüllungen gelegt werden (vgl. Arbeitshilfe Gefährdungsbeurteilung Stillzeit für beschäftigte stillende Frauen in zahnmedizinischen Praxen, S. 5). Insoweit ist der Kontakt mit Amalgam zu meiden (vgl. auch LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 10. August 2021 – 11 SaGa 1/21, juris: dort hatte bereits die Vorinstanz anerkannt, dass das Legen von Amalgamfüllungen in der Stillzeit zu vermeiden sei). Die Versicherte hat bei ihrer Vernehmung als Zeugin ausgeführt, dass zu 99% Kunststofffüllungen gelegt würden und in der Praxis des Klägers nicht mit Amalgamfüllungen gearbeitet werden. Eine Exposition der Versicherten mit Quecksilber ist somit ausgeschlossen. Weitere Gefahrstoffe sind weder dargelegt und auch nicht ersichtlich. Die Versicherte hat zudem in ihrer Zeugenvernehmung ausgeführt, dass Vollnarkosen vor der Behandlung von Patienten durch einen Anästhesisten vorgenommen wurden, sodass hier ebenfalls kein Risiko durch Kontakt mit Narkosemitteln bestand. 

Eine unverantwortbare Gefährdung durch Biostoffe i.S.d. § 12 Abs. 2 MuSchG ist ebenfalls nicht gegeben. Anders als bei schwangeren Frauen, bei denen das Kind über die Nabelschnur mit der Mutter verbunden ist und damit bei Erkrankungen und Infektionen der Mutter besonders gefährdet ist, ist beim Stillen eine erhöhte Infektionsgefährdung am Arbeitsplatz der stillenden Mutter in Hinblick auf solche Erreger zu beurteilen, die über die Muttermilch oder Blut (Verletzungen beim Stillprozess oder erregerhaltige Hautläsionen an der Brust der stillenden Frau) auf das Kind übertragbar sind bzw. die bei Erkrankung der Mutter negative Auswirkungen auf die Milchbildung und -abgabe (Laktation) haben und dadurch die Stillqualität beeinträchtigen können (vgl. ausführlich zur Gefährdung durch Biostoffe: Ad-hoc-Arbeitskreis Stillschutz, S. 12ff. sowie Arbeitshilfe Gefährdungsbeurteilung Stillzeit für beschäftigte stillende Frauen in zahnmedizinischen Praxen, S. 2 ff.). Es sind allerdings nur diejenigen Übertragungswege zum Kind zu berücksichtigen, die mit dem Vorgang des Stillens direkt verbunden sind. Übertragungen, die nur aufgrund des engen Kontakts des Kindes mit der stillenden Frau aufgrund des Stillvorgangs bestehen, bleiben unberücksichtigt. Es fehlt am mutterschutzrechtlich erforderlichen Stillbezug (Arbeitshilfe Gefährdungsbeurteilung Stillzeit für beschäftigte stillende Frauen in zahnmedizinischen Praxen, S. 3). Aus diesem Grund kann eine Gefährdung durch SARS-CoV-2 während der Corona-Pandemie, die während des streitgegenständlichen Zeitraums herrschte, nicht angenommen werden. Das Risiko einer Übertragung des Virus über Muttermilch ist unklar, aber unwahrscheinlich, sodass keine Regelvermutung für eine unverantwortbare Gefährdung besteht. Vielmehr ist die Hauptinfektionsgefahr der enge Kontakt und die damit verbundene Gefahr der Schmier- und Tröpfcheninfektion (vgl. Dahm, in: BeckOK ArbR, 69. Edition, Stand: 1. September 2023, MuSchG § 12 Rn. 20ff. m.w.Nw.). Die Infektionsgefahr durch engen Kontakt fällt nicht in den Schutzzweck des Mutterschutzgesetzes. Eine Gefahr durch Biostoffe kommt allerdings durch die Infektionsgefahr mit Hepatitis B- und C-Infektionen sowie potentielle Infektion mit dem HI-Virus in Betracht. Gegen Hepatitis B ist eine Impfung möglich. Insoweit ist zu beachten, dass ein ausreichender Immunschutz eine unverantwortbare Gefährdung ausschließt (§ 12 Abs. 2 S. 4 MuSchG). HIV-Infektionen können durch Blut, wesentlich seltener auch durch die Muttermilch auf das Kind übertragen werden (Arbeitshilfe Gefährdungsbeurteilung Stillzeit für beschäftigte stillende Frauen in zahnmedizinischen Praxen, S. 4). Eine unverantwortbare Gefährdung kann allerdings durch Schutzmaßnahmen ausgeschlossen werden, also durch das Tragen von Masken, Schutzbrillen, Handschuhen und Schutzkitteln) (Arbeitshilfe Gefährdungsbeurteilung Stillzeit für beschäftigte stillende Frauen in zahnmedizinischen Praxen, S. 3). Selbst bei einer potentiellen Infektion bzw. des Verdachts einer Infektion wie nach Nadelstich- oder Schnittverletzungen ist es möglich, eine Gefährdung des Kindes vorläufiges Aussetzen des Stillens oder notfalls eine Beendigung des Stillens zu vermeiden (Arbeitshilfe Gefährdungsbeurteilung Stillzeit für beschäftigte stillende Frauen in zahnmedizinischen Praxen, S. 3). Eine unbemerkte Infektion ist bei Infektionsgefahr durch Körperflüssigkeiten nicht anzunehmen. Es ist hinsichtlich der Versicherten zu berücksichtigen, dass der Schutz des Stillens nach dem ersten Lebensjahr des Kindes abnimmt, zumal eine Ernährung durch Beikost o.ä. dann in Betracht kommt. Daher ist es wichtig, ob es sich um einen Stillvorgang in den ersten Lebensmonaten oder einen (weit) über den ersten Geburtstag des Kindes hinaus handelt. Der Versicherten wäre es im Falle einer potentiellen Infektion durchaus zumutbar gewesen, den Stillvorgang zu beenden. Die Versicherte hat in ihrer Zeugenvernehmung ausgesagt, dass sie ihr Kind nur noch in der Nacht stille. Eine Gabe von Beikost war daher zwingend notwendig und eine alleinige Ernährung durch das Stillen ist insoweit auch nicht behauptet worden. Das Kind habe zumindest „Fingerfood“ gegessen. Somit scheidet eine unverantwortbare Gefährdung aus. Zudem wäre es neben Schutzmaßnahmen auch möglich gewesen, dass die Versicherte lediglich bestimmte Tätigkeiten mit hohem Infektionsrisiko nicht mehr ausführt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hatte die Versicherte verschiedentliche Aufgaben, so bspw. auch die Tätigkeit im Bereich der ästhetischen Zahnheilkunde oder auch bei der Anleitung von Auszubildenden zur Zahnarzthelferin. Vor diesem Hintergrund ist die Annahme eines vollständigen Beschäftigungsverbots i.S.d. § 13 Abs. 1 Nr. 3 MuSchG weder geboten noch nachvollziehbar. 

Physikalische Gefährdungen sind ebenfalls nicht ersichtlich. In einer Zahnarztpraxis kommen physikalische Gefährdungen allenfalls über Röntgenstrahlungen in Betracht. Allerdings ist eine Gefährdung bei Einhaltung der durch den Arbeitsschutz gebotenen Schutzmaßnahmen nicht anzunehmen (vgl. Arbeitshilfe Gefährdungsbeurteilung Stillzeit für beschäftigte stillende Frauen in zahnmedizinischen Praxen, S. 5). Die Versicherte hat nicht angegeben, dass sie das Röntgen von Patienten vornehme bzw. dass die Praxis des Klägers über ein Röntgengerät verfüge.

Gefährdende Arbeitsbedingungen i.S.d. § 12 Abs. 5 MuSchG sind nicht anzunehmen. Danach können diese entstehen durch Arbeiten, bei denen durch ein höheres Arbeitstempo auch ein höheres Arbeitsentgelt erzielt werden kann. Insoweit kann eine Gefährdung bspw. durch fehlende Pausen entstehen (Dahm, in: BeckOK ArbR, 69. Edition, Stand: 1. September 2023, MuSchG § 12 Rn. 7). Die allein umsatzbezogene Vergütung der Versicherten fördert zwar ein schnelleres Arbeiten, eine Gefährdung ist dadurch nicht ersichtlich. Zum einen hat die Kammer bereits erhebliche Zweifel, ob der Versicherten die vielfältigen Boni überhaupt gezahlt wurden, die insoweit einen weiteren Anreiz zu einem erhöhten Arbeitstempo darstellen könnten. Die Versicherte hat sich in ihrer Vernehmung als Zeugin dergestalt geäußert, dass sie sich an einen monatlichen Bonus nicht habe erinnern können. Auch habe es angeblich einen Jahresbonus gegeben, insoweit war sie sich aber nicht mehr sicher, wann dieser gezahlt worden sei. Von einem Steigerungsbonus war hingegen gar keine Rede. Auch ergibt sich aus dem vorgelegten Arbeitsvertrag keine Regelung zu einem etwaigen Bonus. Jedenfalls kann allein der Umstand, dass möglicherweise das erhöhte Arbeitstempo keine Pausen zuließe bei der Versicherten, die ihr Kind hauptsächlich nachts stillt, keine relevante Gefährdung darstellen.

Auch wenn es bereits an der Darlegung eines Beschäftigungsverbotes fehlt, ist die Höhe des Mutterschutzlohnes durch den Kläger fehlerhaft berechnet. So ist das durchschnittliche Arbeitsentgelt für den Mutterschutzlohn i.S.d. § 18 MuSchG nach § 21 MuSchG zu ermitteln. Gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 1 bleibt für die Ermittlung des durchschnittlichen Arbeitsentgelts für die Leistungen nach den §§ 18 bis 20 einmalig gezahltes Arbeitsentgelt im Sinne von § 23a des Vierten Buches Sozialgesetzbuch unberücksichtigt (Nr. 1). So sind Einmalzahlungen i.d.S.: Regelmäßig zu Anfang eines Jahres gezahlte Gewinnbeteiligungen für das Vorjahr sowie ein regelmäßig in der Mitte eines Jahres gezahltes Urlaubsgeld, eine Urlaubsabgeltung ebenso das regelmäßig am Ende des Jahres gezahlte Weihnachtsgeld. (vgl. Zieglmeier, in: BeckOGK (Kasseler Kommentar), Stand: 15. August 2023, SGB IV § 23a Rn. 10). Damit sind weder eine gezahlte Urlaubsabgeltung noch Jahres- und Steigerungsbonus in die Berechnung des Mutterschutzlohns mit einzubeziehen. Ob der monatliche Bonus gezahlt wurde, ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme jedenfalls sehr zweifelhaft (s.o.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
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