L 6 P 34/23 NZB

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Pflegeversicherung
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 8 P 32/21
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 P 34/23 NZB
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Die Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde beim Sozialgericht ist, da es in § 145 SGG an einer § 151 Abs. 2 Satz 1 SGG entsprechenden Regelung fehlt, nicht fristwahrend. Bei einem Eingang beim Sozialgericht erst am Tag des Fristablaufs kann auch eine Weiterleitung des Rechtsmittelschreibens an das Landessozialgericht noch innerhalb der Frist nicht erwartet werden.


I.    Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kassel vom 5. September 2023 – S 8 P 32/21 – wird als unzulässig verworfen.

II.    Die Beteiligten haben einander auch für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde keine Kosten zu erstatten.


Gründe

I.

Der Beklagte wehrt sich in der Sache gegen seine Verurteilung zur Zahlung rückständiger Beiträge zur privaten Pflegepflichtversicherung für den Zeitraum vom 1. Oktober 2019 bis zum 30. April 2020 in Höhe von insgesamt 672,25 Euro (zuzüglich laufender Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit dem 22. September 2020 sowie weiterer, zuvor vom 1. Oktober 2019 bis 21. September 2020 aufgelaufener Zinsen in Höhe von 20,67 Euro).

Zwischen den Beteiligten war bereits wiederholt streitig, ob ein vor dem Hintergrund einer früheren selbständigen Tätigkeit des Beklagten geschlossener Versicherungsvertrag in der privaten Pflegepflichtversicherung und daher eine Pflicht zur Beitragszahlung des Beklagten fortbesteht. Konkret erließ das Amtsgericht Hünfeld auf Antrag der Klägerin am 24. September 2020 einen Mahnbescheid wegen der im hiesigen Verfahren streitigen Forderung. Nach Widerspruch des Beklagten und Abgabe an das Sozialgericht Kassel hat dieses den Beklagten durch Gerichtsbescheid vom 5. September 2023 entsprechend verurteilt. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche seien schlüssig dargelegt und nach Überprüfung der Kammer – auch der Höhe nach – nicht zu beanstanden. Eine Änderung der Beurteilung gegenüber früheren, im Gerichtsbescheid näher dargestellten Entscheidungen der 12. Kammer des Sozialgerichts Kassel in vorangegangenen Verfahren der Beteiligten sei weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht geboten. Weder habe der Beklagte seine Versicherung bisher gekündigt noch gegenüber der Klägerin oder auch dem Gericht durch Vorlage entsprechender Bescheinigungen einer gesetzlichen Pflegekasse konkret nachgewiesen, dass er, und gegebenenfalls seit wann, wo und auf der Grundlage welchen Tatbestandes, anderweitig pflichtversichert sei. Hierzu habe er seit Jahren Gelegenheit, weigere sich aus vermeintlichen Datenschutzgründen aber beharrlich. Damit werde nicht in Abrede gestellt, dass er vielleicht tatsächlich seit Jahren in der Sozialen Pflegeversicherung pflichtversichert sei, er müsse dies – wie ihm gegenüber wiederholt deutlich gemacht worden sei – jedoch durch die Vorlage entsprechender Unterlagen nachweisen, was er wider besseren Wissens aus für die entscheidende Kammer nicht nachvollziehbaren Gründen nicht tue. 

Nach Zustellung des Gerichtsbescheides bei ihm am 7. September 2023 hat sich der Beklagte mit einem am 9. Oktober 2023, einem Montag, eingegangenen Schreiben vom 3. Oktober 2023 an das Sozialgericht gewandt und formuliert, er möchte „zu Ihrer Anmerkung (Rechtsmittelbelehrung) […] Beschwerde einreichen, obwohl Sie hier schon gleich eine Berufung ablehnen“. „Selbstverständlich“ sei es möglich, „in ein Berufungsverfahren zu gehen, und ich habe dies auch bereits an einen Anwalt übergeben“. Das Sozialgericht hat das Schreiben mit Eingang am 11. Oktober 2023 an das Hessische Landessozialgericht weitergeleitet. 

Der Kläger hat sich – auf Bitte des Senats um Klarstellung, ob sein Rechtsbehelf als Berufung oder als Nichtzulassungsbeschwerde zu verstehen sei – kritisch zu einem amtsgerichtlichen Verfahren geäußert. Auf einen Hinweis des Senats, dass das hiesige Verfahren sich auf die Entscheidung des Sozialgerichts beziehe, hat er nicht reagiert.

Der Beklagte beantragt sinngemäß,
die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kassel vom 5. September 2023 zuzulassen.

Die Klägerin hat sich zu der Nichtzulassungsbeschwerde nicht geäußert.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der gerichtlichen Verfahrensakten Bezug genommen.


II.

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kassel vom 5. September 2023 – S 8 P 32/21 – ist bereits unzulässig, da die Monatsfrist zu ihrer Einlegung nicht gewahrt ist. Zudem liegt ein Zulassungsgrund nicht vor.

1. Bei einer an den Interessen des Beklagten orientierten Auslegung lässt sich dessen Schreiben vom 3. Oktober 2023 trotz seiner missverständlichen Formulierung als Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung gegen den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid verstehen. 

Jedenfalls bei unvertretenen und selbst nicht rechtskundigen Beteiligten gebietet es der das sozialgerichtliche Verfahren beherrschende Meistbegünstigungsgrundsatz Rechtsbehelfserklärungen, sofern das möglich ist, so auszulegen, dass das erkennbare Rechtsschutzbegehren des Beteiligten zum Tragen kommt und nicht an formellen Hürden scheitert. Ohnehin ist das Gericht nicht an die vom Beteiligten gewählte Fassung der Rechtsbehelfserklärung gebunden (vgl. – für Klageansprüche – § 123 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Hiervon ausgehend ist das Schreiben vom 3. Oktober 2023 als Nichtzulassungsbeschwerde zu verstehen, auch wenn der Beklagte offenbar keinen vollständigen Überblick über die verschiedenen Verfahren, an denen er beteiligt ist, hat, sein Rechtsmittel dem Wortlaut nach auf die „Anmerkung (Rechtsmittelbelehrung)“ des Sozialgerichts im angegriffenen Gerichtsbescheid bezogen hat und davon auszugehen scheint, dass eine Berufung ohne Weiteres und also ohne Zulassungsentscheidung gegeben ist. Angesichts des Wertes des Beschwerdegegenstandes in der Hauptsache ist die Berufung gegen den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid jedoch nicht von Gesetzes wegen statthaft (vgl. § 143, § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG). Die Sonderregelung aus § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG bezieht sich nur auf laufende oder wiederkehrende Leistungen, nicht auf die hier streitigen Beiträge. Bei einer Auslegung als Berufung wäre der Rechtsbehelf des Beklagte daher unzulässig. Ein entsprechendes Verständnis ist aber nicht zwingend geboten: Der Beklagte hat sein Rechtsmittel als „Beschwerde“ bezeichnet und deutlich zu erkennen gegeben, dass er den Gerichtsbescheid beseitigen will. Nachdem er dies nur über den Zwischenschritt einer Nichtzulassungsbeschwerde erreichen kann und der Wortlaut seines Schreibens ein entsprechendes Verständnis nicht ausschließt, ist dieses entsprechend auszulegen.

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1, § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG statthaft. Sie ist jedoch nicht fristgerecht erhoben. 

Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist binnen einer Frist von einem Monat nach Zustellung des vollständigen Urteils beziehungsweise des an die Stelle eines Urteils tretenden Gerichtsbescheids (vgl. § 105 Abs. 3 Halbsatz 1 SGG) schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten bei dem Landessozialgericht einzulegen (§ 145 Abs. 1 Satz 2 SGG). Darüber ist der Beklagte in der dem angegriffenen Gerichtsbescheid beigefügten Rechtsmittelbelehrung zutreffend belehrt worden; namentlich ist er deutlich darauf hingewiesen worden, dass die Nichtzulassungsbeschwerde beim Landessozialgericht einzulegen ist und es für die Fristwahrung auf den Eingang dort ankommt.

Eine nach Monaten bestimmte und an ein konkretes Ereignis anknüpfende Frist wie die hier in Frage stehende endet nach § 64 Abs. 2 Satz 1 SGG mit dem Ablauf desjenigen Tages des (letzten) Monats, welcher nach seiner Zahl dem Tag entspricht, in den das für den Fristbeginn maßgebliche Ereignis fällt. Sofern das danach bestimmte Ende der Frist auf einen Sonntag, einen gesetzlichen Feiertag oder einen Sonnabend fällt, endet die Frist gemäß § 64 Abs. 3 SGG mit Ablauf des nächsten Werktags.

Angesichts der Zustellung des Gerichtsbescheides bei dem Beklagten am 7. September 2023 hätte die Nichtzulassungsbeschwerde daher spätestens am Montag, den 9. Oktober 2023, bei dem Landessozialgericht eingehen müssen. Tatsächlich hat der Beklagte das als Nichtzulassungsbeschwerde zu verstehende Schreiben jedoch an diesem Tage an das Sozialgericht übermittelt. Das ist nicht ausreichend, da eine § 151 Abs. 2 Satz 1 SGG entsprechende Regelung, die es genügen lässt, wenn die Berufung innerhalb der Monatsfrist bei dem Sozialgericht eingeht, für die Nichtzulassungsbeschwerde fehlt (vgl. auch Schreiber, in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl. 2020, § 145, Rn. 11; H. Müller in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 3, 2. Aufl., § 145 SGG – Stand: 5. Oktober 2023 – Rn. 58 f.; Sommer, in: beck-online Großkommentar, § 145 SGG – Stand: 1. August 2023 – Rn. 12). Auf Grund des klaren Wortlauts von § 145 Abs. 1 Satz 2 SGG und fehlender Anhaltspunkte für eine versehentlich lückenhafte gesetzliche Regelung ist nach Auffassung des Senats auch kein Raum für eine analoge Anwendung § 151 Abs. 2 Satz 1 SGG.

Das Sozialgericht hat die Nichtzulassungsbeschwerde pflichtgemäß an das Landessozialgericht weitergeleitet, wo sie am 11. Oktober 2023 eingegangen ist. Das genügt zur Fristwahrung nicht und begründet, da eine Weiterleitung binnen zweier Werktage sich im üblichen Geschäftsgang hält, auch keinen Wiedereinsetzungsgrund nach § 67 Abs. 1 SGG: Bei einem Eingang erst am Tag des Fristablaufs ist eine Weiterleitung des Rechtsmittelschreibens noch innerhalb der Frist an das zuständige Gericht nicht erwartbar (vgl. zur Weiterleitung im üblichen Geschäftsgang: BSG, Beschluss vom 10. Dezember 1974 – GS 2/73 –, BSGE 38, 248 und nochmals H. Müller in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 3, 2. Aufl., § 145 SGG – Stand: 5. Oktober 2023 – Rn. 59). Auch sonst sind Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht erkennbar.

Die für die Klageerhebung geltende Regelung des § 91 SGG schließlich hilft dem Beklagten nicht, da diese im Verfahren vor dem Landessozialgericht nicht anwendbar ist (vgl. ausdrücklich § 153 Abs. 1 SGG und dazu u.a. Wehrhahn, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 145 SGG – Stand: 15. Juni 2022 – Rn. 16).

3. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist überdies unbegründet. Keiner der abschließend in § 144 Abs. 2 SGG aufgeführten Zulassungsgründe ist gegeben.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG. Weder hat der Beklagte eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung formuliert noch ist sonst für den Senat ersichtlich, dass sich vorliegend eine ungeklärte Rechtsfrage mit Breitenwirkung stellen könnte, die im hiesigen Rechtsstreit klärungsbedürftig und klärungsfähig wäre. Ob das Sozialgericht im Einzelfall zutreffend entschieden hat – wobei der Senat insoweit keinen Anlass zu Zweifeln sieht –, ist für die Zulassung der Berufung nicht maßgeblich. 

Auch eine Abweichung der angegriffenen Entscheidung von einer Entscheidung der in § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte lässt sich weder dem Vorbringen des Beklagten entnehmen noch ist sie sonst ersichtlich. 

Schließlich hat der Beklagte keinen Verfahrensfehler im Sinne von § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG geltend gemacht, auf dem die angegriffene Entscheidung beruhen könnte. Vielmehr hat er sich in seiner Reaktion auf das Schreiben des Berichterstatters, mit dem ihm Gelegenheit gegeben wurde, die Nichtzulassungsbeschwerde bis 13. November 2023 näher zu begründen, nur mit einem amtsgerichtlichen Verfahren befasst. Ein Verfahrensfehler des Sozialgerichts kann sich hieraus ganz offensichtlich nicht ergeben.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
 

Rechtskraft
Aus
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