L 10 R 2512/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 16 R 3680/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 2512/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Wird die Wirksamkeit einer fiktiven Berufungsrücknahme gemäß § 156 Abs. 2 SGG infrage gestellt, so ist der Rechtstreit zunächst zu dieser Frage weiterzuführen. Bei wirksamer Rücknahmefiktion ist festzustellen, dass der Rechtstreit erledigt ist.
2. Eine Betreibensaufforderung kann auch die Vorlage einer Berufungsbegründung zum Gegenstand haben.
3. Im Fall der Verfahrensfortführung mit anschließendem streitigen Feststellungsurteil, dass das Berufungsverfahren beendet ist, ist eine Kostenentscheidung nach § 193 SGG zu treffen. Die Regelung des § 156 Abs. 3 Satz 2 SGG betrifft diesen Fall nicht.

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 20.04.2021 (L 10 R 1907/21) gilt als zurückgenommen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten.



Tatbestand

Der Kläger begehrt der Sache nach die Fortführung des durch eine Berufungsrücknahmefiktion beendeten Rechtsstreits (L 10 R 1907/21).

Der 1944 geborene Kläger bezieht von der Beklagten seit dem 01.02.2009 Altersrente und im Übrigen seit mehreren Jahren Leistungen der Grundsicherung im Alter (s. Landessozialgericht - LSG - Baden-Württemberg 27.08.2014, L 5 R 155/14; 08.12.2021, L 2 SO 897/21). Die Beklagte gewährt ihm im Rahmen der Rente auch einen Beitragszuschuss zur privaten Krankenversicherung. Ein Rechtsstreit des Klägers gegen die Landeshauptstadt S1 als Sozialhilfeträger wegen Übernahme von Beiträgen
zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung hatte keinen Erfolg (s. LSG Baden-Württemberg 23.04.2015, L 7 SO 5932/10). 

Mit Bescheid vom 10.01.2020 nahm die Beklagte eine Neuberechnung der Regelaltersrente des Klägers für die Zeit ab dem 01.01.2020 vor (Änderung des Zuschusses zur privaten Krankenversicherung nach Beitragssatzänderung; nunmehr 45,69 € monatlich) und hob im Zuge dessen den vorangegangenen Bescheid hinsichtlich der Höhe des Zuschusses zur Krankenversicherung nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) insoweit auf. Der dagegen vom Kläger unter dem 18.02.2020 erhobene, trotz Ankündigung nicht begründete, Widerspruch hatte nach Sachprüfung der Beklagten keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 12.08.2020).

Dagegen erhob der Kläger am 10.09.2020 beim Sozialgericht Stuttgart (SG) „vorsorglich zur Wahrung der Frist“ Klage. Er wolle zunächst die Antwort der Beklagten auf seinen dortigen Antrag vom 07.09.2020 auf „Rücknahme des rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes“ abwarten.

Während des Klageverfahrens berechnete die Beklagte mit Bescheid vom 23.12.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.06.2021 die Altersrente des Klägers für die Zeit ab dem 01.01.2021 neu (Änderung des Zuschusses zur privaten Krankenversicherung nach erneuter Beitragssatzänderung; nunmehr 47,87 € monatlich). Auch dagegen hatte der Kläger Widerspruch erhoben und mitgeteilt, dass ihm eine Begründung „verwehrt“ sei, da er nicht erkennen könne, dass der „rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakt“ zurückgenommen worden sei.

Nach Aufforderung des SG, die Klage zu begründen bzw. mitzuteilen, warum der Bescheid vom 10.01.2020 fehlerhaft sein solle (Verfügungen vom 08.12.2020 und 30.03.2021) thematisierte der Kläger u.a., dass ein „der Rentenversicherung“ in Kopie im April 2009 übersandter „Antrag auf Entrichtung freiwilliger Beiträge“ an das Bezirksamt S2 nicht an das Personalamt der Landeshauptstadt S1 weitergeleitet worden sei, ebenso wenig wie ein Antrag auf „Vorschussleistung nach § 42 SGB 1“. Grundlage dessen sei ein „Betreuungsauftrag mit Bescheid der Kriegsopferfürsorge“ sowie eine „Zusage der Stadt nach erhobener Feststellungsklage“ beim Verwaltungsgericht, die er „zurückziehen“ solle, gewesen. In „Treu und Glauben“ sei er „der Hoffnung auf Leistungen der Stadt dem Versprechen der Stadt gefolgt“, das dann aber nicht umgesetzt worden sei; er habe keinerlei Nachricht mehr erhalten, obwohl er auch „den Antrag auf Vorschussleistung“ gestellt habe. Er werde massiv „unter Druck gesetzt (erpresst)“, einen Antrag auf Grundsicherung zu stellen, „auf deren Grundlage seine Anträge umgedeutet worden seien“. Auch liege ein Beratungsverschulden hinsichtlich freiwilliger Beiträge „bis zur Ausgestaltung eines Arbeitsvertrages“ vor, da die Stadt über ihn verfügt und somit die „Funktion eines Arbeitgebers“ für erbrachte Leistungen „im Auftrag der Kriegsopferfürsorge“ für die Betreuung seines Bruders nach dessen vorzeitiger Entlassung aus der Bundeswehr trotz Antrag auf Kriegsdienstverweigerung und zweimaliger Einberufung und Verlust seiner Anstellungen in Deutschland und der Schweiz ausgeübt habe. Die Beklagte habe ihm „nach erfolgter Zahlung der freiwilligen Beiträge“ eine monatliche Altersrente von 1.800 € errechnet. Auch bestehe eine Informationspflichtverletzung.

Nach Anhörung der Beteiligten wies das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 20.04.2021 ab. Zur Begründung führte es aus, dass der angefochtene Bescheid vom 10.01.2020 nicht zu beanstanden sei; entgegenstehende Gründe habe der Kläger auch nicht genannt. Sein übriges Vorbringen lasse keinen Zusammenhang mit diesem Bescheid der Beklagten erkennen, sondern betreffe das Verhältnis des Klägers zur Landeshauptstadt S1 im Zusammenhang mit der dortigen Zahlung von freiwilligen Beiträgen.

Gegen den ihm am 28.04.2021 zugestellten Gerichtsbescheid legte der Kläger am 27.05.2021 beim SG Berufung ein (L 10 R 1907/21). Er erklärte dabei, dass „die Begründung“ in einem „gesonderten Schriftsatz“ ergehen werde. Mit Verfügung vom 15.06.2021 wurde der Kläger gebeten, seine Berufungsbegründung binnen vier Wochen vorzulegen und mit Verfügung vom 14.07.2021 wurde er an seine Berufungsbegründung erinnert. Mit Schreiben vom 15.07.2021 bat er - ohne weitere Begründung - um „wohlwollende“ Verlängerung der Frist „für die Übersendung der Berufungsbegründung“. Ihm wurde sodann die Frist zur Vorlage der Berufungsbegründung bis 16.08.2021 verlängert. Mit Schreiben vom 16.08.2021 - bei Gericht per Telefax am 17.08.2021 eingegangen - ersuchte der Kläger erneut um Fristverlängerung und gab zur Begründung an: „wegen Anwaltssuche in K1 vor dem Verfahren des Bundesgerichtshofs und eines umfangreichen Schriftsatzes“. Die Frist zur Berufungsbegründung wurde bis 25.09.2021 verlängert (s. Verfügung vom 19.08.2021). Mit Schreiben vom 25.09.2021 beantragte der Kläger schließlich erneut die Verlängerung der Frist. Zur Begründung führte er dieses Mal aus, dass inzwischen eine Berliner Firma mit „Tricksen und Täuschen“ Forderungen an seinen Bruder gestellt habe und diese Firma auch nicht davor zurückschrecke, diese mittels gerichtlichem Mahnbescheid einzufordern. Daraufhin wurde dem Kläger mitgeteilt, dass die Frist zur Begründung der Berufung letztmalig bis 14.10.2021 verlängert werde (Verfügung vom 30.09.2021). Mit Schreiben vom 14.10.2021 erbat der Kläger „zur Fertigstellung der Begründung seiner Berufungsklage“ - ohne weitere Begründung - eine wohlwollende Fristverlängerung „von ca. 1 Woche“.

Mit Schreiben vom 10.11.2021 teilte der Kläger sodann mit, dass ihm das Inkassounternehmen der E1 zwischenzeitlich eine unberechtigte Forderung gestellt habe. Er schilderte in diesem Zusammenhang einen - nach seiner eigenen Wortwahl - „zweifelhaften Sachverhalt“, weswegen er gezwungen gewesen sei, das Amtsgericht S1 einzuschalten. Jetzt sei ihm unter Gewährung einer „Notfrist“ von zwei Wochen aufgegeben worden, zu einem anwaltlichen Schreiben Stellung zu nehmen. Für diesen „zur Unzeit abgenötigten Zeitaufwand“ bitte er um „wohlwollendes Verständnis“. Er werde „danach unverzüglich an seiner Begründung für das Landessozialgericht weiterarbeiten“.

Mit Schreiben vom 15.03.2022 - bei Gericht am 17.03.2022 eingegangen - erklärte der Kläger sodann, dass er „als Folge der unterlassenen Entrichtung der Rentenversicherungsbeiträge an die Deutsche Rentenversicherung“ seinen Beitragsverpflichtungen gegenüber der H1 Krankenversicherung a.G. nicht mehr habe nachkommen können und mit einem „nicht unerheblichen Beitragsrückstand bis zur Zwangsvollstreckung getrieben“ worden sei. Daher habe er an seiner Berufungsbegründung nicht mehr weiterarbeiten können, was er aber tun werde, sobald ihm die Gelegenheit „geboten“ werde.

Der Berichterstatter des Senats gab dem Kläger mit Verfügung vom 21.03.2022 (am 23.03.2022 mittels Postzustellungsurkunde zugestellt) auf, seine Berufung nunmehr zu begründen, einen sachdienlichen Antrag zu stellen und diejenigen Tatsachen mitzuteilen, die geeignet seien, die Fehlerhaftigkeit der angefochtenen Entscheidungen zu begründen. Er wies den Kläger unter Benennung der Regelung des § 156 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) darauf hin, dass, sollte er dieser Betreibensaufforderung nicht nachkommen, die Berufung als zurückgenommen gelte und der Senat davon ausgehe, dass an der Fortführung des Berufungsverfahrens kein Interesse mehr bestehe, wenn das Verfahren ab Zustellung dieser Verfügung länger als drei Monate nicht betrieben werde.

Mit Schreiben vom 05.04.2022 - bei Gericht per Telefax am 14.04.2020 eingegangen - teilte der Kläger mit, dass er „bis 24.03.22 mit einer extrem ausführlichen Stellungnahme an den Bundesgerichtshof beschäftigt“ gewesen sei. Außerdem sei er wegen der an ihn gerichteten Forderungen („E1“, „b1“) „gesundheitlichen Belastungen“ ausgesetzt. Auch habe er sich mit den Forderungen seines privaten Krankenversicherungsunternehmens „auseinanderzusetzen“. Er werde „jetzt unverzüglich“ nach „seiner Genesung“ an der Berufungsbegründung weiterarbeiten. Der Berichterstatter wies den Kläger darauf hin (Verfügung vom 25.04.2022), dass es bei den bereits erteilten Hinweisen verbleibe. Mit Telefaxschreiben unter dem 30.04.2022 verwies der Kläger auf Zwangsvollstreckungsverfahren gegen sich und meinte, dass er „nichts lieber getan“ hätte, als seine Begründung „fortzusetzen“, an der er gehindert gewesen sei. „Nun“ hätten sich „seine Beschwerden seit 08.04.22 bestätigt und verschlimmert“. Er übersandte dazu eine Bescheinigung der Hautärzte Innenstadt S1, aus der sich ergibt, dass der Kläger „wegen einer akuten Hauterkrankung anamnestisch am 08.04.2022“ in der dortigen Praxis gewesen sei.

Mit Verfügung des Berichterstatters vom 06.05.2022 wurde der Kläger unter Hinweis und unter Bezugnahme auf die Verfügung vom 21.03.2022 darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei der dort genannten Frist um eine Ausschlussfrist handele, die insbesondere nicht verlängerbar sei.

Mit Telefaxschreiben vom 20.05.2022 brachte der Kläger sein „aufrichtiges Bedauern“ zum Ausdruck, dass er noch keine Berufungsbegründung habe liefern können. Er verwies erneut auf seine Streitigkeiten mit den Energieversorgern und seinem privaten Krankenversicherungsunternehmen sowie auf ein amtsgerichtliches Verfahren. Den „letzten Schriftsatz“ habe er „dem BGH in Sachen Besorgnis der Befangenheit und unterlassener Selbstanzeige mit deren Folgen“ geliefert. Er bitte nun um „Fürsorgepflicht“, Sicherstellung seines rechtlichen Gehörs sowie darum, das Verfahren „einstweilig ruhen zu lassen“, um nicht ständig eine Verlängerung beantragen zu müssen. All seine Belastungen führten auch dazu, dass seine Haut „hierauf reagiere“.

Daraufhin wies der Berichterstatter des Senats den Kläger erneut auf die Verfügung vom 21.03.2022 hin und darauf, dass ihm bereits mitgeteilt worden sei, dass eine Verlängerung der dort genannten Frist von Gesetzes wegen nicht in Betracht komme (Verfügung vom 24.05.2022).

Der Kläger wandte sich sodann wiederum an den Senat (Schreiben vom 28.05.2022), erkundigte sich nach der gesetzlichen Grundlage und „den Zusammenhang“ der Verfügung vom 21.03.2022 und nach seinem „Ruhensantrag“. Da er mit seiner Begründung „schon begonnen“, diese aber „leider“ habe „unterbrechen“ müssen, werde er sie „alsbald liefern“.

Mit Berichterstatterverfügung vom 02.06.2022 wurde dem Kläger unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Verfügung vom 21.03.2022 mitgeteilt, dass die gesetzliche Grundlage für die Betreibensaufforderung dieser Verfügung zu entnehmen sei, dass - wie ebenfalls schon mitgeteilt - eine Verlängerung der dort gesetzten Frist, da Ausschlussfrist, nicht in Betracht komme und damit ebenso wenig ein „Ruhen“ oder dergleichen und dass der Kläger entsprechend der Verfügung vom 21.03.2022 weiterhin bis zum Ablauf des 23.06.2022 Gelegenheit habe, der Betreibensaufforderung nachzukommen.

Mit Beschluss vom 30.06.2022 stellte der Senat durch den Berichterstatter auf der Grundlage des § 156 Abs. 2 Satz 3 SGG (deklaratorisch) fest, dass die Berufung als zurückgenommen gelte. Dieser Beschluss wurde dem Kläger am 02.07.2022 zugestellt.

Mit Schreiben vom 28.06.2022 (bei Gericht am 01.07.2022 eingegangen) erkundigte sich der Kläger nach seinem Ruhensantrag und verwies auf die Regelung des § 224 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) sowie auf Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Zu einer Ausschlussfrist habe er keine Kommentierung finden können, wohl aber Rechtsprechung und Literatur zur Verlängerung von Fristen. Die Möglichkeit der Verkürzung gesetzlicher Fristen sei in der VwGO nicht vorgesehen.

Der (vormalige) Senatsvorsitzende teilte dem Kläger daraufhin abschließend mit (Verfügung vom 05.07.2022), dass § 156 Abs. 2 Satz 1 SGG eine gesetzliche Ausschlussfrist enthalte, die nicht durch das Gericht verlängert werden könne. Danach gelte die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibe. Diese Ausschlussfrist sei vorliegend maßgeblich und auf die Regelung in § 156 Abs. 2 Satz 1 SGG sei der Kläger bereits mit Verfügung vom 21.03.2022 hingewiesen worden.

Mit Schreiben vom 10.08.2023 (bei Gericht per Telefax am 29.08.2023 eingegangen) hat der Kläger geltend gemacht, dass seine Berufung am 30.06.2022 ohne mündliche Verhandlung als zurückgenommen festgestellt worden sei. Dies bedeute eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, weswegen er eine mündliche Verhandlung beantrage.

Der Senat hat dem Kläger im Anschluss daran mitgeteilt (nunmehr unter dem Az. L 10 R 2512/23), dass sein Begehren als Antrag auf Fortführung des Berufungsverfahrens L 10 R 1907/21 angesehen werde.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Berufungsverfahren L 10 R 1907/21 fortzuführen und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 20.04.2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10.01.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.08.2020 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend und hat hinsichtlich der Fortführung des Berufungsverfahrens von einer weiteren Stellungnahme abgesehen.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakten erster und zweiter Instanz (einschließlich L 10 R 1907/21) verwiesen.

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte in der mündlichen Verhandlung am 16.11.2023 in Abwesenheit der Beteiligten über das Begehren des Klägers entscheiden, da sie ordnungsgemäß zum Termin geladen und in der Ladung darauf hingewiesen worden sind, dass auch im Falle des Ausbleibens von Beteiligten bzw. Bevollmächtigten Beweis erhoben, verhandelt und entschieden werden kann (vgl. § 110 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Gemäß § 156 Abs. 2 Satz 1 SGG gilt die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Der Berufungskläger ist in der Aufforderung auf die Rechtsfolgen hinzuweisen, die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 155 Abs. 2 VwGO ergeben (§ 156 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das Gericht stellt durch Beschluss fest, dass die Berufung als zurückgenommen gilt (§ 156 Abs. 2 Satz 3 SGG). Hierfür ist gemäß § 155 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGG der Berichterstatter zuständig, wenn - wie hier - ein solcher bestellt ist. Der Beschluss ist deklaratorischer Natur, da die Rücknahmefiktion bei Vorliegen der Voraussetzungen ipso iure eintritt (zu allem s. nur Bundessozialgericht - BSG -
08.12.2020, B 4 AS 280/20 B, in juris, Rn. 7 m.w.N.).

Auf der Grundlage dessen und der an den Kläger gerichteten Betreibensaufforderung vom 21.03.2022 (dem Kläger am 23.03.2022 zugestellt) hat der Senat vorliegend durch den Berichterstatter mit Beschluss vom 30.06.2022 festgestellt, dass die Berufung des Klägers (L 10 R 1907/21) als zurückgenommen gilt.

Der am 29.08.2023 bei Gericht eingegangene Antrag des Klägers vom 10.08.2023 auf „Durchführung einer mündlichen Verhandlung“ ist bei dieser Sachlage - worauf der Kläger vorab hingewiesen worden ist - zu seinen Gunsten als Antrag auf Fortführung des Berufungsverfahrens L 10 R 1907/21 auszulegen (§ 123 SGG), weil andernfalls gerade in Ansehung der Beendigung des Berufungsverfahrens mit Verlust des Rechtsmittels (§ 156 Abs. 3 Satz 1 SGG) von vornherein keine Grundlage für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestünde.

Bei einem Antrag auf Fortführung des Berufungsverfahrens hat das Rechtsmittelgericht das Berufungsverfahren in der Sache fortzuführen, wenn die Voraussetzungen der Berufungsrücknahmefiktion nicht vorliegen, oder - wie vorliegend - durch Urteil (bzw. ggf. durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG) festzustellen, dass die Berufung als zurückgenommen gilt, das Berufungsverfahren also beendet ist (vgl. dazu nur BSG 08.12.2020, B 4 AS 280/20 B, a.a.O.; 19.03.2020, B 4 AS 4/20 R, in juris, Rn. 18 m.w.N.).

Der Senat lässt vorliegend offen, ob der vom Kläger unter dem 10.08.2023 - mehr als ein Jahr nach Zustellung des Beschlusses vom 30.06.2022 am 02.07.2022 - gestellte Antrag wegen Verwirkung bereits unzulässig ist (in diesem Sinne LSG Niedersachsen-Bremen 11.06.2020, L 15 AS 281/18, in juris, Rn. 20 f.; krit. dazu Burkiczak in jurisPK-SGG, 2. Aufl. 2022, § 156 Rn. 107 f. m.w.N., Stand 10.07.2023 und § 102 Rn. 116.2, Stand 06.10.2023; wie hier offenlassend auch BSG 08.12.2020, B 4 AS 280/20 B, a.a.O. Rn. 7). Denn eine Fortführung des Berufungsverfahrens L 10 R 1907/21 kommt jedenfalls in der Sache nicht in Betracht, weil die Berufung des Klägers als zurückgenommen gilt.


Die Berufungsrücknahmefiktion des § 156 Abs. 2 Satz 1 SGG, die der Verfahrensbeschleunigung dienen und damit zur Entlastung der Landessozialgerichte beitragen soll (BSG 08.12.2020, B 4 AS 280/20 B, a.a.O. Rn. 9 unter Hinweis auf BT-Drs. 17/6764, S. 27), setzt zunächst voraus, dass die Dreimonatsfrist durch eine gerichtliche Betreibensaufforderung in Gang gesetzt worden ist.

Zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung müssen bestimmte, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Berufungsklägers bestehen, ohne dass es auf die Gründe dieses fehlenden Interesses ankommt (BSG a.a.O. Rn. 8). Unter anderem kann die Nichtvorlage einer Berufungsbegründung Anlass für und die Aufforderung zur Vorlage einer solchen Gegenstand einer Betreibensaufforderung sein. Bei der Klärung des Gegenstands der Berufung und der wesentlichen Einwendungen ist der Kläger nicht von Mitwirkungsobliegenheiten freigestellt (arg. ex § 151 Abs. 3 SGG). Die fehlende Vorlage einer Berufungsbegründung kann insbesondere dann Anlass für eine Betreibensaufforderung sein, wenn die Berufungsbegründung trotz Ankündigung oder trotz Fristsetzung nicht vorgelegt wird (zu allem s. nur BSG a.a.O. Rn. 13 m.w.N., auch zur Rspr. des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG -).

Diese Voraussetzungen für eine Betreibensaufforderung lagen hier vor. Der Kläger hatte bereits mit Einlegung seiner Berufung Ende Mai 2021 ausdrücklich eine Begründung angekündigt und diese Ankündigung in der Folge immer wiederholt, obgleich ihn der Senat mehrmals erinnerte und ihm auch mehrmals die reklamierten Fristverlängerungen gewährte. Er hatte im Zeitraum von Ende Mai 2021 bis zum
21.03.2022 - also fast ein Jahr lang - hinreichend Gelegenheit, sein Rechtsmittel entsprechend seiner Ankündigung zu begründen. Dass dazu auch hinreichend Anlass vorlag, ergibt sich schon daraus, dass erhebliche Zweifel daran bestanden, welches Ziel der Kläger mit seinem Rechtsmittel überhaupt verfolgte und wogegen er sich genau wandte, nachdem das SG ihn in der angefochtenen Entscheidung darauf hingewiesen hatte, dass sein sachlich-inhaltliches Vorbringen - das der Kläger auch im SG-Verfahren trotz entsprechender Ankündigung erst nach mehrmaliger Aufforderung und auch erst nach Ankündigung, den Rechtsstreit durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, artikulierte - keinerlei Bezug gerade zur Beklagten und zu dem von ihr erlassenen und angefochtenen Bescheid vom 10.01.2020 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.08.2020) erkennen lasse.

Die Einlassungen des Klägers im seinerzeitigen Berufungsverfahren auf die wiederholten Aufforderungen des Senats, seine (angekündigte) Berufungsbegründung vorzulegen, beschränkten sich ausschließlich auf immer neue, pauschale Begründungen, warum er zeitlich noch nicht dazugekommen sei, seine Berufungsbegründung „abzuliefern“, wobei er auch die von ihm selbst reklamierten Fristverlängerungen verstreichen ließ und die von ihm angegebenen „Verhinderungsgründe“ überwiegend nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar waren (namentlich Angabe im Schreiben vom 10.11.2021, er müsse innerhalb einer „Notfrist von zwei Wochen“ in einem Verfahren vor dem Amtsgericht zu etwas Stellung nehmen, dann aber erst wieder Reaktion gegenüber dem Senat Mitte März 2022 mit einer neuen Begründung). Dieses gesamte, oben im Tatbestand im Einzelnen dokumentierte, Verhalten des Klägers im Berufungsverfahren zwischen der Berufungseinlegung am 27.05.2021 und der Betreibensaufforderung vom 21.03.2022 legte den Gedanken nahe, dass es dem Kläger nur noch darum ging, das Berufungsverfahren irgendwie „am Laufen zu halten“ und dass er an der Fortführung kein wirkliches Interesse hatte.

In einem solchen Fall ist das Berufungsgericht zur Klärung dieser Frage durch Aufforderung zur Vorlage einer Berufungsbegründung berechtigt, bevor es eine Sachprüfung aufnimmt; die personellen Ressourcen der Justiz müssen so eingesetzt werden, dass möglichst viele Verfahren einerseits zeitsparend, andererseits in einem rechtsstaatlichen Anforderungen genügenden Rahmen behandelt und entschieden werden (BSG a.a.O. Rn. 15 m.w.N. zur Rspr. des BVerfG).

Es ist vorliegend auch weder ersichtlich noch dargetan, warum es dem Kläger nicht möglich oder nicht zumutbar gewesen sein sollte, eine zumindest kurze Berufungsbegründung vorzulegen, zumal er gerade in der Lage war, seine „Verhinderungsgründe“ breit darzulegen.

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung stellt es keine unzumutbare, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigende Erschwerung des Rechtsschutzes dar, wenn einem Berufungsführer angesonnen wird, die Gründe für die Einlegung seines Rechtsmittels darzutun, und das Verfahren als erledigt angesehen wird, wenn er innerhalb einer Frist von drei Monaten diesem Ansinnen nicht nachgekommen ist. Eine Berufungsbegründung wird auch nicht dadurch entbehrlich, dass bereits eine erstinstanzliche Entscheidung vorliegt, denn gerade diese Entscheidung bewirkt eine Zäsur und gibt den Beteiligten Anlass und Gelegenheit, die Argumente des SG zu wägen und über die Fortführung des Verfahrens zu befinden (BSG a.a.O.), zumal wenn - wie hier - schon das Erstgericht den Kläger darauf hingewiesen hatte, dass sein Vorbringen keinen konkreten Bezug zu den angefochtenen Verwaltungsentscheidungen erkennen lasse.

Die Betreibensaufforderung vom 21.03.2022 genügte auch den an sie zu stellenden Anforderungen. Sie benannte den Anlass - die fehlende Berufungsbegründung -, forderte zur Vorlage derselben auf und wies auf die Rechtsfolgen - nämlich die Berufungsrücknahmefiktion - im Fall der Nichtvorlage innerhalb der Frist von drei Monaten nach Zugang des Schreibens hin. Eines Hinweises auf eine Kostenfolge bedurfte es nicht, da es sich nicht um ein nach § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG kostenpflichtiges Verfahren handelt (zu allem s. nur BSG a.a.O. Rn. 18 m.w.N.).

Die Betreibensaufforderung setzt eine gesetzliche Frist in Gang und ist daher gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 SGG zuzustellen, was vorliegend geschah (mittel Postzustellungsurkunde am 23.03.2022). Die Dreimonatsfrist endete mithin gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 SGG mit Ablauf des 23.06.2022.

Der Kläger betrieb das Verfahren binnen der durch die Betreibensaufforderung in Gang gesetzten Frist nicht. Den Maßstab bildet insofern insbesondere die Betreibensaufforderung selbst (BSG a.a.O. Rn. 21). Die (auch weiterhin angekündigte) Berufungsbegründung gab der Kläger bis zum Ablauf der Frist am 23.06.2023 nicht ab, sondern brachte weitere, nicht nachvollziehbare (namentlich „mit einer extrem ausführlichen Stellungnahme an den Bundesgerichtshof beschäftigt“, einmaliger Hautarztbesuch am 08.04.2022) Gründe vor, warum er daran gehindert sei. Inhaltliche Ausführungen zu seiner Berufung bzw. dazu, was an der angefochtenen Verwaltungsentscheidung bzw. dem Gerichtsbescheid des SG falsch sein sollte und was er eigentlich von der Beklagten genau begehrte, hat der Kläger zu keinem Zeitpunkt im Berufungsverfahren geliefert.

Bei der Frist nach § 156 Abs. 2 Satz 1 SGG handelt es sich im Übrigen um eine gesetzliche Ausschlussfrist (BSG a.a.O. Rn. 22), die nicht verlängert werden kann (s. dazu nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 64 Rn. 2; Littmann in Berchtold, SGG, 6. Aufl. 2021, § 64 Rn. 2 m.w.N.), worauf der Kläger vor Fristablauf ausdrücklich hingewiesen wurde, ebenso wie darauf, dass ein Ruhen des Verfahrens nicht in Betracht kam, zumal die Voraussetzungen dafür (§ 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 251 Satz 1 ZPO) zu keinem Zeitpunkt vorlagen.

Der Hinweis des Klägers (nach Fristablauf) auf § 224 Abs. 2 ZPO, § 124a Abs. 3 Satz 3 und § 139 Abs. 3 Satz 3 VwGO sowie auf die in seinem Schreiben vom 28.06.2022 angeführten Fundstellen liegt gänzlich neben der Sache und seine Behauptung, ihm sei kein rechtliches Gehör gewährt worden, entbehrt jeglicher Grundlage; das Gegenteil ist vielmehr der Fall.

Gilt die Berufung des Klägers somit kraft Fiktion als zurückgenommen (§ 156 Abs. 2 Satz 1 SGG), hat dies den Verlust des klägerischen Rechtsmittels zur Folge (§ 156 Abs. 3 Satz 1 SGG); damit entfiel die Rechtshängigkeit ex nunc und der angefochtene Gerichtsbescheid des SG wurde rechtskräftig (§ 141 Abs. 1 Nr. 1 SGG; statt vieler nur Burkiczak in jurisPK-SGG, a.a.O., § 156 Rn. 88, 88.2, 90 f. m.w.N.; Binder in Berchtold, a.a.O., § 156 Rn. 17).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 183 Satz 1 i.V.m. § 193 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 SGG. Die Regelung des § 156 Abs. 3 Satz 2 SGG betrifft nicht den Fall der hier vorliegenden Verfahrensfortführung mit anschließendem streitigen Feststellungsurteil, dass das Berufungsverfahren beendet ist. Insoweit greift vielmehr der Regelfall des § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG, dass das Gericht (von Amts wegen) im Urteil zu entscheiden hat, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.



 

Rechtskraft
Aus
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