L 9 EG 15/21 FG

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 20 EG 15/19 FG
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 9 EG 15/21 FG
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Art. 68 VO(EG) Nr. 883/2004 muss im Lichte des Art. 10 VO (EG) Nr. 883/2004 dahingehend ausgelegt werden, dass nur Familienleistungen gleicher Art die Prioritätsregeln auslösen.
2. Für die Prüfung, ob Familienleistungen gleicher Art nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedsländer zusammentreffen, ist maßgeblich auf Sinn und Zweck, Berechnungsgrundlage und die Voraussetzungen für ihre Gewährung abzustellen.
3. Das bayerische Familiengeld und das österreichische Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens sind nicht Familienleistungen gleicher Art.

 

I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 12. Oktober 2021 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in der Berufungsinstanz.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.


T a t b e s t a n d :

Die Beteiligten streiten über den Anspruch auf Familiengeld für den Zeitraum 08.09.2018 bis 07.01.2019.

Der Kläger beantragte am 07.09.2018 Familiengeld nach dem Bayerischen Familiengeldgesetz (BayFamGG) für den am 08.01.2016 geborenen Sohn K für den 33. bis 36. Lebensmonat (08.09.2018 bis 07.01.2019). Der Kläger besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit, lebt gemeinsam mit der Mutter des Sohnes in A, Bayern, und ist berufstätig in Österreich. Auch die Mutter des Sohnes ist in Österreich berufstätig.

Mit Bescheid vom 03.12.2018 wurde der Antrag abgelehnt. Zur Vermeidung von Doppelleistungen würden die europarechtlichen Kollisionsnormen beim Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen eine Rangfolge der Leistungsansprüche gegenüber den betroffenen Mitgliedstaaten vorsehen. Nach Art. 68 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 (sic) sei im Fall des Klägers Österreich vorrangig für die Gewährung von Familienleistungen zuständig, von Deutschland sei gegebenenfalls noch ein Unterschiedsbetrag zu zahlen. Der Unterschiedsbetrag werde durch einen Vergleich der in Österreich zustehenden Familienleistungen (Kinderbetreuungsgeld) und dem deutschen Elterngeld ermittelt. Da in Deutschland kein Elterngeld beantragt worden sei, sei davon auszugehen, dass die Leistung aus Österreich (Kinderbetreuungsgeld) höher sei und somit kein Unterschiedsbetrag von Deutschland zu zahlen sei.

Hiergegen legte der Kläger am 18.12.2018 Widerspruch ein. Die Voraussetzungen des Art. 2 BayFamGG seien erfüllt. In Österreich gebe es keine Leistungen, welche dem Bayerischen Familiengeld vergleichbar seien. Damit sei Art. 4 BayFamGG nicht einschlägig. Das bayerische Familiengeld sei eine Leistung, welche durch den Wohnsitz zustehe. Gemäß Art. 68 der Verordnung (EG) 883/2004 habe der Wohnsitzstaat bei Ansprüchen, welche durch den Wohnsitz ausgelöst würden, die Leistungszuständigkeit. Nach dem Gutachten der Bayerischen Staatsregierung zur Frage der Anrechenbarkeit des Familiengeldes auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II vom 21.09.2018 handele es sich bei der Leistung des BayFamGG um eine eigenständige Leistung zur Förderung individueller Bedürfnisse von Kindern, welche nicht auf andere existenzsichernde Sozialleistungen anzurechnen seien. Eine existenzsichernde Sozialleistung wäre beispielsweise das Elterngeld, bei dem der Staat einen Einkommensersatz leiste. Dies sei vergleichbar mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld.

Mit Schreiben vom 28.01.2019 wurden Gehaltsabrechnungen der Ehefrau für die 12 Monate vor Beginn des Monats mit Wochengeldbezug sowie die Einkommensteuerbescheide für das Kalenderjahr 2015 sowie die Bescheide über Kinderbetreuungsgeld und Wochengeld angefordert.

Mit Schreiben vom 17.02.2019 teilte der Kläger mit, dass er die angeforderten Unterlagen nicht vorlegen werde. Diese seien nicht erforderlich für die Prüfung des Anspruchs auf bayerisches Familiengeld.

Mit Widerspruchsbescheid vom 26.02.2019 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Nach Art. 11 VO (EG) Nr. 883/2004 (VO) bestünden Ansprüche auf Familienleistungen im Beschäftigungsland Österreich und im Wohnland Deutschland/Bayern. Art. 60 Abs. 1 und 2 VO (EG) Nr. 987/2009 regele das Verfahren bei Anwendung von  Art. 67 und 68 der Grundverordnung. Danach sei Österreich vorrangig für die Gewährung von Familienleistungen zuständig und Deutschland nachrangig zur Zahlung eines Unterschiedsbetrages verpflichtet. Die Familienleistungen anlässlich der Geburt des Sohnes K umfassten das Elterngeld und das bayerische Familiengeld in Deutschland und seien dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld gegenüberzustellen. Nachdem in Deutschland kein Antrag auf Elterngeld gestellt worden sei, werde davon ausgegangen, dass die österreichischen Familienleistungen höher als die deutschen Familienleistungen seien. Aufgrund des Widerspruchs habe geprüft werden sollen, ob im Nachgang eine Ausgleichszahlung des bayerischen Familiengeldes gewährt werden könne. Da die dafür notwendigen Unterlagen nicht vorgelegt worden seien, sei davon auszugehen, dass kein Anspruch auf Zahlung eines Unterschiedsbetrages bestehe.

Hiergegen erhob der Kläger am 20.03.2019 Klage zum Sozialgericht München (SG). Der Kläger und seine Ehefrau seien in Österreich unselbständig sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Da Österreich vorrangig für Familienleistungen zuständig sei, hätten der Kläger und seine Ehefrau keinen Antrag für das deutsche Elterngeld gestellt und das bayerische Familiengeld sei separat in Bayern beantragt worden. In Österreich gebe es keine dem bayerischen Familiengeld vergleichbare Leistung. Der Kläger bekomme für sein Kind die österreichische Familienbeihilfe und als Ausgleichszahlung das deutsche Kindergeld. Weitere Leistungen hätten der Kläger und seine Ehefrau im Jahr 2018 nicht bezogen. Ein zeitliches Zusammentreffen des bayerischen Familiengeldes mit anderen Familienleistungen außer dem Kindergeld (inklusive österreichischer Familienbeihilfe) läge beim Kläger im Zeitraum 01.09.2018 bis 07.01.2019 nicht vor.

Da der Beklagte die Zahlung an den Kläger von einer Prüfung des österreichischen Kinderbetreuungsgeldes im Verhältnis zum deutschen Elterngeld abhängig machen wolle, werde die Zahlung von der Höhe des Ersatzeinkommens (Kinderbetreuungsgeld) beeinflusst. Hierin sehe der Kläger eine Diskriminierung. Das bayerische Familiengeld werde unabhängig vom Einkommen an alle Familien gezahlt. Vorgelegt wurde ein Bescheid der Salzburger Gebietskrankenkasse vom 05.11.2018, mit dem dem Kläger Kinderbetreuungsgeld als Entgeltersatz im Zeitraum 08.01.2017 bis 07.03.2017 in Höhe von täglich 65,42 Euro bewilligt wurde.

Der Beklagte beantragte Klageabweisung. Nach der Zweckbestimmung solle das bayerische Familiengeld die Kosten für die Betreuung - so der Beklagte - und Erziehung ausgleichen und die finanzielle Belastung mildern. Es diene nicht der Existenzsicherung und sei dementsprechend keine besondere beitragsunabhängige Geldleistung im Sinne von Art. 70 VO (EG) Nr. 883/2004. Es sei eine Familienleistung im Sinne von Art. 3 Abs. 1j VO (EG) Nr. 883/2004 und unterliege damit grundsätzlich der Koordinierung nach Art. 67 und 68 VO (EG) Nr. 883/2004. Kindergeld diene der Existenzsicherung des minderjährigen Kindes, Elterngeld sei eine Leistung, die den Eltern bei der Sicherung ihrer Lebensgrundlage helfen solle, wenn sie sich im ersten Lebensjahr des Neugeborenen vorrangig der Betreuung ihres Kindes widmen würden. Damit seien Kindergeld und Elterngeld keine Leistungen gleicher Art. Beim bayerischen Landeserziehungsgeld handele es sich um eine dem Elterngeld vergleichbare Leistung. Dies müsse auch für seine Weiterentwicklung, das Familiengeld, gelten. Sowohl das Elterngeld als auch das bayerische Familiengeld würden nach Lebensmonaten des Kindes gezahlt und bezögen sich auf die Frühphase der Entwicklung des Kindes. Damit spreche nach Abwägung aller Gesichtspunkte alles dafür, im Rahmen der Koordinierung von Familienleistungen nach der VO (EG) Nr. 883/2004 das bayerische Familiengeld mit Familienleistungen der Mitgliedstaaten der EU zu vergleichen, die dem Elterngeld vergleichbar seien. Das österreichische Kinderbetreuungsgeld sei eine dem Elterngeld vergleichbare Leistung und damit auch eine dem Familiengeld vergleichbare Leistung.

Es sei davon auszugehen, dass der Gesamtanspruch auf österreichisches Kinderbetreuungsgeld den Anspruch auf deutsche Familienleistungen (hier Elterngeld nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) sowie Familiengeld nach dem BayFamGG) übersteige. Bei dem Familiengeld handele es sich um eine Familienleistung im Sinne von Art. 3 Absatz 1j, Art. 1z VO (EG) 883/2004. Die VO (EG) Nr. 883/2004 enthalte keine Regelung, dass zwischen Familienleistungen zu differenzieren sei. Dies ergebe sich weder aus dem Wortlaut des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 noch aus den Erwägungsgründen der VO. Nach den Erwägungsgründen Nr. 34 oder 35 seien Familienleistungen, die sehr vielfältig seien, in ihrer Gesamtheit zu regeln. Der Grenzgänger solle in Bezug auf Familienleistungen weder bevorzugt noch benachteiligt werden. Die Familienleistungen seien in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Das Urteil des EuGH (C-347/12, Wiering) sei zur alten Rechtslage nach der VO (EWG) Nr. 1408/71 ergangen. In dieser Verordnung sei in Art. 1u zwischen Familienleistungen und Familienbeihilfen differenziert worden. Diese Unterscheidung würde in der VO (EG) Nr. 883/2004 aufgegeben. Art. 1z VO (EG) Nr. 883/2004 verstehe unter Familienleistungen alle Sach- und Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschuss und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen. Damit werde ein umfassender Ansatz zur begrifflichen Bestimmung der Familienleistungen gewählt. Unter Geltung der VO (EG) Nr. 883/2004 hätte die Rechtssache Wiering anders entschieden werden müssen. Dies ergebe sich auch aus der geplanten Änderung der VO (EG) Nr. 883/2004. Danach solle für die Berechnung des Unterschiedsbetrages, das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-347/12, Wiering, berücksichtigend, eine erforderliche Klarstellung und Vereinfachung vorgenommen werden. Es solle zwischen zwei Kategorien von Familienleistungen differenziert werden, die sich aufgrund ihres Hauptzweckes, ihrer Ziele und der Basis, auf der sie gewährt würden, voneinander unterscheiden. Familienleistungen in Form einer Geldleistung, die in erster Linie dazu dienten, Einkommensverluste wegen der Kindererziehung teilweise oder vollständig zu ersetzen, sollten von anderen Familienleistungen zum Ausgleich von Familienlasten unterschieden werden. Art. 68 Abs. 2 VO (EG) Nr. 883/2004 solle eine geänderte Fassung erhalten, wonach nach Satz 2 Ansprüche auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden Rechtsvorschriften für gleichartige Leistungen bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrages ausgesetzt würden. Diese geplante Gesetzesänderung unterstreiche, dass nach aktueller Rechtslage keine Unterteilung der Familienleistungen zulässig sei. Unstrittig seien das Kinderbetreuungsgeld und das Elterngeld gleichartige Familienleistungen im Sinne der VO (EG) Nr. 883/2004. Ein nicht unerheblicher Anteil des Elterngeldes habe jedoch nicht den Charakter einer Entgeltersatzleistung, so würden als Anerkennung für die Betreuungsleistungen 300.- Euro Elterngeld gezahlt, unabhängig von der Einkommenssituation. Auch das Familiengeld stelle unabhängig vom gewählten Lebensmodell der Familien eine gesonderte Anerkennung der Erziehungsleistung dar. Damit sei eine Vergleichbarkeit der Familien-leistung (bayerisches) Familiengeld mit der Familienleistung Kinderbetreuungsgeld und Elterngeld gegeben. Es sei ausdrücklich Wille des Gesetzgebers gewesen, dass es sich (bei dem bayerischen Familiengeld) um eine Weiterentwicklung des Landeserziehungsgeldes handele.

Unabhängig vom Zeitraum, für den österreichisches Kinderbetreuungsgeld gewährt worden sei, scheide hier eine Gewährung von Familiengeld aus. Eine Kumulierung von Familienleistungen solle verhindert und ungerechtfertigte Doppelleistungen sollten vermieden werden. Die Antikumulierungsregelungen sollten dem Empfänger von von mehreren Mitgliedstaaten gezahlten Leistungen einen Gesamtbetrag an Leistungen garantieren, der gleich dem Betrag der günstigen Leistung sei, die ihm nach dem Recht nur eines dieser Staaten zustehe. Die gesamte Situation der Familie sei vom zuständigen Träger zu berücksichtigen. Der Begriff "Zeitraum" müsse so interpretiert werden, dass der gesetzlich mögliche Zeitraum, nicht der von den Berechtigten jeweils aufgrund ihres Gestaltungsrechts gewählte Zeitraum verglichen werde. Es könne nicht sein, dass eine Person Familienleistungen doppelt erhalte, beispielsweise für die ersten 10 Lebensmonate Kinderbetreuungsgeld und anschließend den vollen Bezug von Elterngeld. Diese ausdrücklich nicht gewollte Doppelleistung können nur durch eine teleologische Auslegung des Begriffes "Zeitraum" aufgelöst werden, sodass damit der gesetzlich mögliche Zeitraum gemeint sei. Dies seien beim (österreichischen) Kinderbetreuungsgeld bis zu 1063 Tage ab der Geburt des Kindes, beim (deutschen) Elterngeld bis zum 46. Lebensmonat, beim (bayerischen) Familiengeld bis zum 36. Lebensmonat. Der Vermeidung von Doppelleistungen könne dadurch Rechnung getragen werden, dass die Anspruchsbeträge gegenübergestellt würden. Ein rechnerischer Vergleich habe nicht vorgenommen werden können, da die Höhe des österreichischen Kinderbetreuungsgeldes von Frau A nicht belegt worden sei.

Nach mündlicher Verhandlung am 12.10.2021 verurteilte das SG den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 03.12.2018 sowie des Widerspruchsbescheides vom 26.02.2019, dem Kläger Familiengeld für seinen Sohn K in Höhe von 250.- Euro monatlich ab dem 08.09.2018 bis zum 07.01.2019 zu gewähren. Zur Überzeugung des Gerichts bestehe ein Anspruch auf Familiengeld in Höhe von 250.- Euro monatlich ab dem 08.09.2018 bis zum Ablauf des 36. Lebensmonats. Gemäß Art. 9a Abs. 1 BayFamGG gelte das BayFamGG für ab dem 01.10.2015 geborene Kinder und werde frühestens ab dem 01.09.2018 gezahlt. Der Kläger erfüllte unstreitig die Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 1 Satz 1 BayFamGG. Er habe seine Hauptwohnung im Freistaat Bayern, lebe mit seinem am 08.01.2016 geborenen Kind in einem Haushalt, erziehe dieses Kind selbst und sorge für eine förderliche frühkindliche Betreuung des Kindes. Nach dem im BayFamGG geltenden Lebensmonatsprinzip bestehe damit ein Anspruch ab dem 08.09.2018. Wie vom Beklagten zutreffend ausgeführt, sei vorliegend die VO (EG) Nr. 883/2004 einschlägig. Gemäß Art. 68 dieser VO seien Prioritätsregeln anzuwenden, wenn für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren seien. Fraglich sei, ob Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 hier überhaupt angewendet werden dürfe oder ob bereits mangels Vergleichbarkeit der Familienleistungen österreichisches Kinderbetreuungsgeld und bayerisches Familiengeld die Antikumulierungsregel des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 nicht eingreife. Aus dem Wortlaut der VO (EG) Nr. 883/2004 ergebe sich nach strenger Auslegung keine Lösung. Das österreichische Kinderbetreuungsgeld sei aus Sicht des Gerichts mit dem Elterngeld vergleichbar, es werde für Zeiten der Unterbrechung der Erwerbstätigkeit bzw. Verminderung der Erwerbstätigkeit gezahlt. Das bayerische Familiengeld werde jedoch unabhängig von einer etwaigen Unterbrechung oder Verminderung der Erwerbstätigkeit geleistet und diene gemäß Art. 1 BayFamGG dem Zwecke, eine vom gewählten Lebensmodell der Familie unabhängige, gesonderte Anerkennung der Erziehungsleistung zu gewähren. Gemäß Art. 1 Satz 2 BayFamGG sollten Eltern den nötigen Gestaltungsspielraum erhalten, Früherziehung und Bildung der Kinder einschließlich gesundheitsförderlicher Maßnahmen in der jeweils von ihnen gewählten Form zu ermöglichen, zu fördern und insbesondere auch entsprechend qualitativ zu gestalten. Das Familiengeld diene damit nicht der Existenzsicherung, es solle auf existenzsichernde Sozialleistungen nicht angerechnet werden. Der EuGH habe nach früherer Rechtslage unter Geltung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und Art. 10 Abs. 1 der VO Nr. 574/72 die Anwendung von Antikumulierungsregelungen nur für gleichartige Familienleistungen befürwortet, vergl. Urteil des EuGH vom 08.05.2014, C-347/12, Wiering. Auch nach der früheren Rechtslage sei dies nicht explizit in den genannten Vorschriften so ausgeführt gewesen. Aus Sicht des Gerichts spreche der Rechtsgedanke des genannten EuGH-Urteils aus dem Jahr 2014 dafür, auch bei Anwendung von Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 die Antikumulierungsregelungen nur bei gleichartigen Familienleistungen anzuwenden. Dies werde auch bezüglich des Kindergeldanspruches in Deutschland und des Anspruches auf niedrigere Familienbeihilfe in Österreich so gehandhabt, sodass der Kläger hier nach seinen Angaben eine Ausgleichszahlung bezüglich des höheren Kindergeldes erhalte. Eine Berücksichtigung von daneben zustehenden Ansprüchen auf Elterngeld oder österreichisches Betreuungsgeld finde offensichtlich nicht statt. Auch in der Entscheidung des österreichischen Obersten Gerichtshofs (OGH) vom 26.05.2020,10 ObS 1/20z, dort strittig die Anrechnung von bayerischem Familiengeld auf die der dortigen Klägerin gewährte Ausgleichszahlung zum österreichischen pauschalen Kinderbetreuungsgeld, werde auf die Vergleichbarkeit beider Leistungen abgestellt und eine Anrechnung verneint. Zwar sei vorliegend Art. 10 VO (EG) Nr. 883/2004 nicht unmittelbar anwendbar, da die in Rede stehenden österreichischen Leistungen des Kinderbetreuungsgeldes und der Familienbeihilfe ebenso wenig auf Pflichtversicherungszeiten beruhten wie das bayerische Familiengeld. Dem österreichischen OGH werde jedoch im Ergebnis zugestimmt, dass es nach dem Rechtsgedanken des  Art. 10 VO (EG) Nr. 883/2004 auch vorliegend auf eine Vergleichbarkeit der Leistungen ankomme. Auch die vom Beklagten zitierte beabsichtigte Änderung des Art. 68 Abs. 2 VO (EG) Nr. 883/2004 einschließlich eines neuen Absatzes 2a und damit die neuerliche Hinwendung zur Rechtsprechung des EuGH verdeutliche, dass nach der VO (EG) Nr. 883/2004 die Vergleichbarkeit ausdrücklich berücksichtigt werden solle und dies nun künftig auch wieder klar in der Verordnung zum Ausdruck kommen solle. Dafür spreche auch der geplante Erwägungsgrund 35a, in dem ausdrücklich auf die Entscheidung Wiering Bezug genommen werde. Es werde dort von den erforderlichen Klarstellungen und Vereinfachungen gesprochen. Die beabsichtigten Neuerungen in der VO sollten damit keine neue, veränderte Rechtslage schaffen, sondern dienten der Verdeutlichung der auch bisher intendierten Rechtsanwendung. Damit sei beim Zusammentreffen von bayerischem Familiengeld und österreichischem Kinderbetreuungsgeld für die Frage, ob die Antikumulierungsregelungen überhaupt eingreifen, zunächst auf die Vergleichbarkeit abzustellen. Aus Sicht des Gerichts seien die beiden Leistungen nicht miteinander vergleichbar. Das österreichische Kinderbetreuungsgeld werde für Zeiten der Unterbrechung der Erwerbstätigkeit gewährt, das bayerische Familiengeld jedoch völlig unabhängig von dem gewählten Modell der Kindererziehung. Gestützt werde dieses Argument auch dadurch, dass eine Anrechnung von bayerischem Familiengeld auf Elterngeld oder Elterngeld Plus nicht stattfinde. Die Argumentation des Beklagten, dass sich auch der Mindestbetrag des Elterngeldes in Höhe von 300.- Euro unabhängig von zuvoriger Erwerbstätigkeit ergebe, vermöge nicht zu überzeugen. Das Elterngeld in Höhe dieses Mindestbetrages werde eben nur bei Unterbrechung der Erwerbstätigkeit bzw. Reduzierung der Erwerbstätigkeit gewährt, wohingegen diese letztgenannten Faktoren für den Bezug von Familiengeld keine Rolle spielten. Mangels Vergleichbarkeit komme es damit auf eine etwaige Kongruenz von Leistungszeiträumen nicht mehr an.

Gegen das am 28.10.2021 zugestellte Urteil des SG legte der Beklagte am 23.11.2021 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG) ein.

Das Urteil des EuGH (Wiering) beziehe sich auf die Vorgängerregelung der VO (EG) Nr. 883/2004. Diesem Urteil könne nicht ein Rechtsgedanke bezüglich der hier zugrunde zu legenden Rechtslage entnommen werden. Es hätte zumindest erläutert werden müssen, weshalb hier ein allgemeingültiger Rechtsgedanke gegeben sei, der für eine andere Rechtsnorm geltend gemacht werde. In Art. 10 VO (EG) Nr. 883/2004 sei das Merkmal der Gleichartigkeit benannt, im hier entscheidenden Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 hingegen nicht. Auf die sich aufdrängende Annahme, dass Art. 10 und 68 VO (EG) Nr. 883/2004 in einem Spezialitätsverhältnis stehen würden und das Erfordernis der gleichen Art nicht einfach in Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 hineingelesen werden könne, gehe das Gericht nicht ein. Die Frage, weshalb das Merkmal der Gleichartigkeit an der einen Stelle definiert sei und an der anderen Stelle nicht, sei aber die entscheidende Vorfrage für die Beurteilung, ob und in welchem Umfang Rechtsgedanken aus Normen mit vergleichbaren Rechtsfolgen oder Urteilen zu anderen Rechtsnormen für die Auslegung der jeweils anderen Norm nutzbar gemacht werden könnten. Die Verordnung begreife unter Familienleistungen alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten. Es erschließe sich nicht, weshalb das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Gleichartigkeit den Kreis der zu koordinierenden Familienleistungen anhand von einzelnen Tatbestandsmerkmalen der Leistungen so viel enger ziehen solle. Hinzu komme, dass auch die Zweckrichtung des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004, die Vermeidung von Doppel-Leistungen, eine entsprechend eng gefasste Beurteilung der Gleichartigkeit fernliegend erscheinen lasse. Dass das Familiengeld unabhängig vom gewählten Modell der Kinderbetreuung bezogen werde, sei als Merkmal in der VO nicht angelegt und komme daher als maßgebliches Unterscheidungskriterium nicht in Betracht. Hingegen dienten beide Leistungen dem Familienlastenausgleich im Sinne der VO. Es sei nicht erkennbar, weshalb sich die Frage der Unzulässigkeit der Kumulierung an der Frage entscheiden solle, ob das jeweilige Leistungsgesetz ein bestimmtes Betreuungsmodell vorgebe oder nicht. Anders als die tatbestandliche Ausgestaltung sei die Zweckrichtung der Leistung, hier jeweils der Ausgleich von Familienlasten, für die Frage der Zulässigkeit der Kumulierung ein erkennbar relevantes Merkmal. Das Argument des SG, dass das bayerische Familiengeld auch nicht auf den Anspruch nach dem BEEG angerechnet werden könne, sei nicht nachvollziehbar, denn hier stelle sich die Frage der Gleichartigkeit im Sinne des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 gar nicht. Es existiere schlicht keine Anrechnungsregelung, die eine Anrechnung in die eine oder andere Richtung zuließe. Zusammengefasst sei das Tatbestandsmerkmal der Gleichartigkeit regelmäßig aus der Zweckrichtung herzuleiten. Die Leistungen seien damit zu koordinieren, ein Anspruch auf bayerisches Familiengeld bestehe danach nicht.

Vorgelegt wurde ein im Auftrag des Beklagten von Professor E am 27.04.2022 erstellter Schriftsatz. Die Ausführungen dieses Schriftsatzes machte sich der Beklagte zu eigen.

Professor E führt aus: Aufgrund der EuGH-Entscheidung Wiering bestehe die Pflicht des Beklagten, einen Vergleich zwischen dem bayerischen Familiengeld und dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vorzunehmen. Die EuGH-Entscheidung gebiete, Familienleistungen unterschiedlicher Mitgliedstaaten nur dann nicht gegenseitig anzurechnen, wenn sie erwiesenermaßen nicht vergleichbar seien.

Der österreichische OGH habe in seiner Entscheidung vom 26.05.2020 nur die zwischen den Leistungen bestehenden Unterschiede hervorgehoben. Die Abwägung übersehe den gemeinsamen Zweck der Leistung. Die monatlichen Geldzahlungen sollten das Haushaltseinkommen der Eltern von Säuglingen und kleinen Kindern bei Wahrnehmung ihrer Erziehungsaufgabe aufbessern und damit die Erziehungsbedingungen für Eltern und Kind verbessern. Angesichts dieses gemeinsamen Leistungszweckes finde sich in dem Urteil keine Aussage dazu, inwieweit die vom Gericht herausgestellten Unterschiede die Zweckbestimmung der Leistung oder nur Unterschiede in deren sachlicher Ausgestaltung beträfen. Dieser Unterschied sei jedoch entscheidend, da zwei Familienleistungen nicht durch ihre Unterschiede in der Ausgestaltung, sondern in den Leistungszwecken unvergleichbar würden. Nur wenn grundsätzliche Differenzen in den Leistungszwecken bestehen würden, wäre eine Gleichwertigkeit und Gleichartigkeit beider Leistungen zu verneinen.

Für die im Berufungsverfahren zu überprüfende Ausgangsentscheidung des SG sei vor allem fraglich, ob die aufgezeigten Unterschiede im Sinne der vom EuGH in der Entscheidung Wiering aufgestellten Kriterien ausreichten, um beide Leistungen für nicht gleichartig und -wertig zu erachten. Nach der EuGH-Rechtsprechung seien Leistungen als gleichartig zu betrachten, wenn ihr Sinn und Zweck, ihre Berechnungsgrundlage und die Voraussetzungen für ihre Gewährung gleich seien. Rein formale Merkmale seien nicht als wesentliche Tatbestandsmerkmale für die Einstufung der Leistungen anzusehen. Es sei angesichts der zahlreichen Unterschiede nicht zu verlangen, dass Grundlagen und Voraussetzungen für die Leistungsberechnung völlig gleich sein müssten.

Aus einem Vergleich ergebe sich, dass beide Leistungen die Eltern von Säuglingen oder Kleinkindern durch wiederkehrende Geldzahlungen fördern würden. Die Zahlung anerkenne die von den Eltern dem Kind erbrachten Erziehungsleistungen, kompensiere Mehraufwendungen für die Erziehung und gleiche mögliche erziehungsbedingte Einkommensverluste aus der Erwerbsarbeit aus. Die Leistungen unterschieden sich in Einzelmodalitäten. Während das Kinderbetreuungsgeld eine einkommensproportionale Zahlung darstelle, sehe des Familiengeld eine pauschale Abgeltung vor. Unterschiedlich sei auch die Wirkung beim Bezug von Sozialhilfe und die Laufzeit. Kinderbetreuungsgeld werde unmittelbar nach der Geburt des Kindes gezahlt, die Zahlung von Familiengeld setze dagegen regelmäßig nach Abschluss dieser Phase ab dem 13. Lebensmonat des Kindes ein und werde bis zum 36. Lebensmonat des Kindes geleistet.

Die Leistungen seien gleichwertig und gleichartig. Sie seien in ihrer Ausgestaltung verschieden, deckten sich aber in ihrem Zweck. Beide Leistungsgattungen würden Eltern bei der Erziehung von Kindern in deren erster Lebensphase durch periodische Geldzahlungen fördern. Dahinter würden die Unterschiede in der Ausgestaltung für die Beurteilung zurücktreten. Sie seien daher bei der Beurteilung der Gleichwertigkeit und Gleichartigkeit zu vernachlässigen.

Der Kläger wandte hiergegen ein, dass die Anwendbarkeit des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 voraussetze, dass mehrere Leistungen im selben Zeitraum zusammenträfen. Ein solches Zusammentreffen liege in dem hier zu verhandelnden Fall überhaupt nicht vor. Der Bezug von österreichischem Kinderbetreuungsgeld habe im beantragten Zeitraum für das bayerische Familiengeld nicht stattgefunden. Insofern gehe das Gutachten von Professor Dr. Dr. h. c. Eichenhofer von unrichtigen Tatsachen aus. Der Bezug von österreichischem einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld durch die Ehefrau des Klägers habe am 07.01.2017 geendet, der Bezug durch den Kläger habe im Zeitraum 08.01.2017 bis 07.03.2017 stattgefunden. Auch seien die Leistungen des bayerischen Familiengeldes mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld nicht vergleichbar. Zweck, Anknüpfungspunkt, Leistungs- und Bezugshöhe unterschieden sich. Das österreichische Kinderbetreuungsgeld stelle wie das deutsche Elterngeld einen Einkommensersatz dar, das bayerische Familiengeld nicht.

Der Beklagte replizierte, dass die Ausgestaltung einzelner Merkmale der jeweiligen nationalen Leistung nicht entscheidend für die Vergleichbarkeit sein könne, wenn sich der Zweck der Leistungen gleiche. Denn es bliebe bei einer solchen Auslegung des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 in aller Regel unklar, ob bzw. ab wann unterschiedliche Voraussetzungen im Hinblick auf den Tatbestand oder die potentielle Leistungshöhe auch vor dem Hintergrund von möglichen Wahlrechten einer Vergleichbarkeit der nationalen Leistungen entgegenstünden. Es sei hervorzuheben, dass das Kriterium der Vergleichbarkeit in der Verordnung keinen unmittelbaren Niederschlag finde. Zutreffend hebe Herr Professor E hervor, dass sich die Leistungen in der Zweckrichtung der Förderung elterlicher Erziehung in der frühkindlichen Lebensphase gleichen würden. Einkommensersatz und Leistungshöhe seien keine geeigneten Abgrenzungskriterien. Bei Familienleistungen würden immaterielle Anerkennung einerseits und materielle Absicherung andererseits als Zwecksetzung regelmäßig nebeneinanderstehen und könnten nicht voneinander abgegrenzt betrachtet werden. Auch das Elterngeld sei nicht notwendig eine Einkommensersatzleistung. Es stehe in Höhe eines Mindestbetrages von 300.- Euro auch dann zu, wenn vor der Geburt kein Einkommen bezogen worden sei. Auch dem Elterngeld wohne also eine immaterielle Komponente der Anerkennung der Erziehungsleistung inne. Die Differenzierung der Zwecksetzung in Ausgleich der Erwerbsminderung einerseits und frühkindliche Förderung andererseits überzeuge nicht. Das Argument der finanziellen Benachteiligung von Grenzpendlern könne nicht nachvollzogen werden. Bei ordnungsgemäßer Abwicklung der Ansprüche ergebe sich eine solche Ungleichbehandlung gerade nicht. Es würden mögliche Leistungsansprüche aus österreichischen Familienleistungen einerseits und deutschen und bayerischen Familienleistungen andererseits gegenübergestellt und es werde, würden die deutschen und bayerischen Familienleistungen die österreichische Leistung übersteigen, ein sich ergebender Spitzbetrag ausgekehrt. Die Gleichstellung von Inlands- und Auslandssachverhalten und Vermeidung einer Besser- oder Schlechterstellung sei gerade eine Zwecksetzung der Anrechnung. Dass kein bayerisches Familiengeld bzw. nur ein geringerer Spitzbetrag zustehe, sei regelmäßig die Folge davon, dass die österreichische Leistung höher sei als die mögliche Anspruchshöhe nach dem BEEG. Es spiele auch keine Rolle, für welche Zeiträume die österreichische Leistung bzw. die deutsche/bayerische Leistung tatsächlich bezogen worden sei. Denkbares Ausschlusskriterium einer Vergleichbarkeit und einer Koordinierung wäre höchstens, dass beide Leistungen von vornherein nicht für denselben Zeitraum bezogen werden könnten.

Der Kläger habe hier einen Vorteil gegenüber einer Familie ohne Bezug zu Österreich, denn das österreichische Kinderbetreuungsgeld sei höher als die Summe von Elterngeld und Familiengeld. Es sei richtig, dass bei der Koordinierung EU-weit innerhalb der Familienleistungen im Sinne der Art. 67 bis 69 VO (EG) Nr. 883/2004 zwischen Familienbeihilfen wie dem Kindergeld und anderen Familienleistungen unterschieden werde. Innerhalb dieser beiden Kategorien werde jeweils koordiniert. Eine weitere Unterdifferenzierung finde jedoch gerade nicht statt. Im Gegensatz zur VO (EWG) 1408/71 werde im Wortlaut des Art. 68 VO (EG) 883/2004 nicht mehr zwischen Familienbeihilfen und anderen Familienleistungen unterschieden. Es erscheine damit selbst bei historischer Auslegung geboten, für die Frage der Koordinierung keine weitergehende Aufsplitterung der Familienleistungen als nach altem Recht durchzuführen und dementsprechend die Vergleichbarkeit weit auszulegen. Gegen eine weitere Unterdifferenzierung spreche klar auch der Wortlaut des Erwägungsgrundes 34 VO (EG) Nr. 883/2004. Für Leistungen, die auf die ersten bis dritten Lebensjahre der Kinder begrenzt seien, erscheine es fernliegend, eine Vergleichbarkeit zu verneinen, unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Leistungen. Das bayerische Familiengeld sei demnach mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbar und zu koordinieren.

In der mündlichen Verhandlung am 19.12.2023 beantragte der Vertreter des Beklagten,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 12.10.2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragte,
die Berufung zurückzuweisen.

Zur Vervollständigung des Sachverhalts wird auf die Verfahrensakten beider Instanzen sowie die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die zulässige Berufung des Beklagten erweist sich in der Sache ohne Erfolg.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 03.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.02.2019. In der Sache streitig ist die Gewährung von bayerischem Familiengeld im Zeitraum 08.09.2018 bis 07.01.2019.

Der Rechtsweg zu den Sozialgerichten ist gem. Art. 8 BayFamGG eröffnet. Die Berufung des Beklagten ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht gem. § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) am 23.11.2021 gegen das am 28.10.2021 zugestellte Urteil des SG beim LSG eingelegt. Die Berufung ist auch ohne Zulassung durch das SG gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulässig, da im Streit die Gewährung von bayerischem Familiengeld für vier Monate in Höhe von monatlich 250.- Euro, damit insgesamt in Höhe von 1.000.- Euro steht und somit der Wert des Beschwerdegegenstandes 750.- Euro übersteigt.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG hat zutreffend der Klage des Klägers stattgegeben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger bayerisches Familiengeld im Zeitraum 08.09.2018 bis 07.01.2019 zu gewähren.

Der Kläger hat Anspruch auf bayerisches Familiengeld im streitigen Zeitraum. Der Kläger erfüllte die Voraussetzungen für den Anspruch auf Familiengeld nach Art. 2 BayFamGG im streitigen Zeitraum. Er hatte seinen Wohnsitz im Freistaat Bayern, lebte mit seinem Kind, für das er Familiengeld begehrt, in einem Haushalt, erzog dieses Kind selbst und sorgte für eine förderliche frühkindliche Betreuung.

Der Anspruch ist entgegen der Auffassung des Beklagten nicht deshalb ausgeschlossen, da vorrangig Leistungen nach dem österreichischen Kinderbetreuungsgeldgesetz zu zahlen wären. Der Kläger lebt, genau wie seine Ehefrau und Mutter des Kindes und sein Sohn in Bayern. Er selbst und seine Ehefrau arbeiten jedoch in Österreich, sodass sie sog. Grenzgänger im Sinne von Art. 1f VO (EG) Nr. 883/2004 sind. Der Kläger und seine Ehefrau haben österreichisches Kinderbetreuungsgeld im Beschäftigungsland Österreich bezogen, sodass zu prüfen ist, ob das bayerische Familiengeld und diese Leistungen als Familienleistungen nach der VO (EG) Nr. 883/2004 zu koordinieren sind. Nach dieser Verordnung sollen die sozialen Sicherungssysteme der einzelnen Mitgliedsstaaten koordiniert werden, wenn ein Bürger in verschiedenen Mitgliedstaaten arbeitet und lebt oder gearbeitet oder gelebt hat. Nach Art. 11 Abs. 1 Satz 1 VO (EG) Nr. 883/2004 sollen Personen, für die diese Verordnung gilt, nur den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates unterliegen. Ziel dieses zentralen Prinzips der sozialrechtlichen Koordinierung ist es, zu verhindern, dass eine Person ohne sozialen Schutz bleibt und dass Leistungen mit gleicher Zielrichtung oder Belastungen mit doppelten Beiträgen vermieden werden. Das Prinzip des einheitlichen Sozialrechtsstatuts wird ergänzt durch das in Art. 10 VO (EG) Nr. 883/2004 erhaltene Kumulierungsverbot (Fuchs in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht, 8. Aufl., Art. 1RdNr. 54 ff.).

Vorliegend ist der sachliche Anwendungsbereich der VO (EG) Nr. 883/2004 eröffnet, da es sich sowohl beim bayerischen Familiengeld als auch beim österreichischen Kinderbetreuungsgeld um Familienleistungen im Sinne des Art. 3 Absatz 1j VO (EG) Nr. 883/2004 handelt. Der Begriff der Familienleistungen ist in Art. 1z VO (EG) Nr. 883/2004 definiert. Danach sind Familienleistungen alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschuss und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I. Die noch in der VO (EWG) Nr. 1408/71 vorgenommene Unterscheidung zwischen Familienleistungen und Familienbeihilfen in Artikel 1u i) und ii) wurde in der VO (EG) Nr. 883/2004 aufgegeben. Nach der VO (EG) Nr. 883/2004 sollen Familienleistungen in ihrer Gesamtheit geregelt werden (Erwägungsgrund 34). Familien-leistungen sind im wesentlichen Geldleistungen, die als periodische Zahlungen dazu dienen, Familien finanziell zu unterstützen. Auch steuerrechtliche Vorteile können dazu zählen, wenn dadurch ein staatlicher Beitrag zum Familienbudget geleistet wird. Familienleistungen liegen stets vor, wenn sie für die Gewährung von Familienunterhalt gezahlt werden. Der EuGH hat bereits entschieden, dass das österreichische Kinderbetreuungsgeld nach dem Kinderbetreuungsgeldgesetz eine Familienleistung darstellt (EuGH, Urteil vom 07.06.2005, C-543/03 RdNr. 50). Auch das bayerische Familiengeld, das periodisch vom ersten Tag des 13. Lebensmonat bis zur Vollendung des 36. Lebensmonat des Kindes bezogen werden kann (Art. 3 Abs. 3 BayFamGG) und eine Anerkennung der Erziehungsleistung darstellen und eine Vergrößerung des finanziellen Gestaltungsspielraum für die frühe Erziehung und Bildung des Kindes ermöglichen soll (Art. 1 BayFamGG), stellt eine Familienleistung im Sinne des Artikel 1z VO (EG) Nr. 883/2004 dar.

Den persönlichen Anwendungsbereich der VO (EG) Nr. 883/2004 erfüllt der Kläger als deutscher Staatsangehöriger gemäß Art. 2 VO (EG) Nr. 883/2004.

Damit ist Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 grundsätzlich anwendbar, in dem Prioritätsregeln festgelegt sind, wenn für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen (Familien-)Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind. Art. 68 Absatz 1a VO (EG) Nr. 883/2004 stellt eine Rangfolge auf, wenn Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen zu gewähren sind. An erster Stelle stehen danach die durch eine Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit ausgelösten Ansprüche, darauf folgen die durch den Bezug einer Rente ausgelösten Ansprüche und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche. Das bayerische Familiengeld, das alleine aufgrund des Wohnorts in Bayern gewährt wird, wäre damit, wenn die Voraussetzungen des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 gegeben wären, nachrangig gegenüber dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld, das jedenfalls in der vom Kläger bezogenen Form aufgrund der Beschäftigung in Österreich und somit aus einem anderen Grund gewährt wird. Bei Anwendung von Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 bestünde damit lediglich ein Anspruch auf Differenzleistungen nach Art. 68 Abs. 2 VO (EG) Nr. 883/2004, wenn die österreichischen Leistungen geringer wären als das bayerische Familiengeld.

Vorliegend kann jedoch nicht von einem Zusammentreffen von Ansprüchen ausgegangen werden, die die Anwendung der Prioritätsregeln auslösen. Dabei ist auf die gesamte Familie abzustellen, sodass bei der Ermittlung der Ansprüche aller Familienmitglieder fingiert wird, dass alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedsstaates fallen und dort wohnen (sogenannte Familienbetrachtungsweise, Art. 60 Abs. 1 VO (EG) Nr. 987/2009. Die Leistungen müssen für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen gewährt werden.

Im zu entscheidenden Fall wurden bereits keine Leistungen für denselben Zeitraum gewährt. Der Kläger hat österreichisches Kinderbetreuungsgeld im Zeitraum 08.01.2017 bis 07.03.2017 erhalten. Die Ehefrau des Klägers hat vom 08.01.2016 bis zum 07.01.2017 österreichisches Kinderbetreuungsgeld erhalten. Der Beginn des Zeitraums, für den bayerisches Familiengeld beantragt wurde (08.09.2018) liegt 1,5 Jahre nach dem Ende des Bezugs von österreichischem Familiengeld. Damit kann ein zeitliches Zusammentreffen der Leistungen aus Bayern und Österreich nicht angenommen werden.

Auch der Rechtsauffassung des Beklagten folgend wurden keine Leistungen für denselben Zeitraum gewährt. Danach soll die Koordinierungsvoraussetzung "für denselben Zeitraum" weit dahingehend ausgelegt werden, sodass es nicht auf den Zeitraum des tatsächlichen Bezuges ankommt, sondern darauf abgestellt wird, dass beide Leistungen für denselben Zeitraum bezogen werden könnten. Denn andernfalls hinge die Anwendbarkeit von Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 davon ab, wie ein evtl. vorhandenes Wahlrecht bezüglich der Gestaltung konkret ausgeübt werde. Eine Leistungskumulation liegt nach Meinung des Beklagten auch dann vor, wenn beide Leistungen in hintereinanderliegenden Zeiträumen bezogen werden könnten. Dies müsse durch eine teleologische Auslegung des Begriffes "Zeitraum" aufgelöst werden. Der Begriff "Zeitraum" könne nur so ausgelegt werden, dass er den gesetzlich möglichen Zeitraum meine. Der Gesamtbetrag der Leistungen müsse dem Betrag der günstigsten Leistungen des jeweiligen Landes entsprechen.

Vorliegend konnte der Kläger für den Zeitraum, für den er bayerisches Familiengeld beantragt hatte, nach der gesetzlichen Regelung des österreichischen Kinderbetreuungsgeldgesetzes kein österreichisches Kinderbetreuungsgeld beziehen. Das Kinderbetreuungsgeld nach dem österreichischen Kinderbetreuungsgeldgesetz wird entweder in Form eines pauschalen Kinderbetreuungsgeldes als Konto nach Abschnitt 2 oder in Form von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz für das Erwerbseinkommen nach Abschnitt 5 des Kinderbetreuungsgeldgesetzes gewährt (§ 1 Satz 2 österreichisches Kinderbetreuungsgeldgesetz). Während das pauschale Kinderbetreuungsgeld als Konto bis maximal 1063 Tage ab der Geburt des Kindes gewährt werden kann (§ 5 Abs. 2 Satz 2 österreichisches Kinderbetreuungsgeldgesetz), wird Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens nach § 24b Abs. 2 Satz 1 österreichisches Kinderbetreuungsgeldgesetz bis maximal 426 Tage ab der Geburt des Kindes gewährt. Ein Anspruch bestand damit für den am 08.01.2016 geborenen Sohn bis maximal 09.03.2017. Ein Anspruch auf bayerisches Familiengeld bestand vorliegend erst ab dem 08.09.2018. Im Zeitpunkt der Beendigung des Anspruchs auf österreichisches Kinderbetreuungsgeld war das BayFamGG noch gar nicht in Kraft. Es ist erst zum 01.08.2018 in Kraft getreten.

Auch nach der Rechtsauffassung der Beklagten kann damit im vorliegenden Fall nicht davon ausgegangen werden, dass eine zeitliche Kongruenz der Leistungen nach Art. 68 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 gegeben ist.

Es muss damit nicht entschieden werden, ob der Begriff "für denselben Zeitraum" in Art. 68 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/200 dahingehend zu bestimmen ist, dass es auf den tatsächlichen Bezug ankommt, oder ob er erweiternd so ausgelegt werden muss, dass auch Zeiträume, für die nach der gesetzlichen Konzeption der konkret zu betrachtenden Familien-leistungen ein Leistungsanspruch des nach Art. 68 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 vorrangigen Landes im gleichen Zeitraum wie für die Familienleistung des nach Art. 68 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 nachrangingen Landes bestehen kann, hierunter zu zählen sind. Denn vorliegend war ein Leistungsbezug im selben Zeitraum gesetzlich nicht möglich.

Weiterhin sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der Antikumulierungsregelung des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 auch deshalb nicht gegeben, da es sich bei dem bayerischen Familiengeld und dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld nicht um vergleichbare Leistungen handelt und dies für die Anwendung der Prioritätsregelungen des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 erforderlich ist.

Art. 68 VO (EG) 883/2004 muss im Lichte des Art. 10 VO (EG) Nr. 883/2004, wonach ein Anspruch auf mehrere Leistungen gleicher Art (aus derselben Pflichtversicherungszeit) weder erworben noch aufrechterhalten werden darf, dahingehend ausgelegt werden, dass nur Familienleistungen gleicher Art die Prioritätsregeln auslösen.

Der EuGH hat in der Entscheidung Wiering (Urteil vom 08.05.2014, C-347/12) zur Vorläufer-VO zur VO (EG) Nr. 883/2004, der VO (EWG) Nr. 1408/71, sowie zur Vorläufer-VO zur VO (EG) Nr. 987/2009, der VO (EWG) Nr. 574/72, entschieden, dass bei der Anwendung der Antikumulierungsregel nach Art. 10 Absatz 1b i) VO (EWG) 574/72 im Rahmen der Berechnung des Unterschiedsbetrages, der einem Wanderarbeitnehmer möglicherweise in seinem Beschäftigungsmitgliedsstaat geschuldet wird, unter den verschiedenen Familienleistungen des Beschäftigungsstaates und den Familienleistungen des Wohnmitgliedsstaates diejenigen erkannt werden müssen, die unter Berücksichtigung ihres Sinn und Zwecks, ihrer Berechnungsgrundlage und der Voraussetzungen für ihre Gewährung sowie ihrer Leistungsberechtigten Leistungen "gleicher Art" im Sinne von Art. 12 VO (EWG) Nr. 1408/71 sind. Im Tenor hat der EuGH entschieden, dass Artikel 1u i) und Art. 4 Abs. 1h VO (EWG) Nr. 1408/71 und Art. 10 Absatz 1b i) VO (EWG) Nr. 574/72 dahingehend auszulegen sind, dass nicht sämtliche an die Familie eines Wanderarbeitnehmers nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates gezahlten Leistungen als gleichartige Familienleistungen zu berücksichtigen sind, da das nach deutschem Recht vorgesehene Elterngeld keine Leistung gleicher Art im Sinne von Art. 12 VO (EWG) Nr. 1408/71 wie das nach deutschem Recht vorgesehene Kindergeld und die nach luxemburgischem Recht vorgesehenen Familienzulagen ist. Mit der Vorlagefrage des luxemburgischen Kassationsgerichts wollte dieses die Frage geklärt haben, ob Artikel 1u i), Art. 4 Absatz 1h und Art. 46 VO (EWG) Nr. 1408/71 sowie Art. 10 Absatz 1b i) VO (EWG) Nr. 574/72 dahingehend auszulegen sind, dass bei der Berechnung des einem Wanderarbeitnehmer in seinem Beschäftigungsmitgliedstaat eventuell zu zahlenden Unterschiedsbetrags sämtliche nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates gezahlte Leistungen, im vorliegenden Fall das nach deutschem Recht vorgesehene Elterngeld und Kindergeld, als gleichartige Familienleistungen zu berücksichtigen sind. Der EuGH hat hierauf geantwortet, dass Art. 73 VO (EWG) Nr. 1408/71 im Bereich der Familienleistungen zwar eine allgemeine, aber keine absolute Regel darstelle. Denn nach Art. 12 VO (EWG) Nr. 1408/71 könne ein Anspruch auf mehrere Leistungen gleicher Art aus derselben Pflichtversicherungszeit aufgrund dieser Verordnung weder erworben noch aufrechterhalten werden. Art. 73 VO (EWG) Nr. 1408/71 sei daher, falls eine Kumulierung von Ansprüchen nach den Rechtsvorschriften des Wohnstaates mit den Ansprüchen nach den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaates eintreten könne, den Antikumulierungsregeln der Art. 76 VO (EWG) Nr. 1408/71 und Art. 10 VO (EWG) Nr. 574/72 gegenüberzustellen. Da die in Rede stehenden deutschen Familienleistungen nicht aufgrund von Erwerbstätigkeit gewährt würden, sei Art. 10 der VO (EWG) Nr. 574/72 anzuwenden. Nach dieser Vorschrift sei die Bundesrepublik Deutschland vorrangig zuständig. Es sei zu prüfen, ob im Rahmen des Art. 10 Absatz 1b i) VO (EWG) Nr. 574/72 sämtliche im Wohnmitgliedstaat der Familie des Wanderarbeitnehmers gezahlten Familienleistungen für die Berechnung des Unterschiedsbetrages berücksichtigt werden müssten. Die in Art. 12 VO (EWG) Nr. 1408/71, der im Titel I "Allgemeine Vorschriften" enthalten sei, aufgestellten Grundsätze seien sowohl auf die Prioritätsregeln des Art. 76 VO (EWG) Nr. 1408/71 als auch auf diese des Art. 10 VO (EWG) Nr. 574/72 anzuwenden. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe sich, dass Leistungen der sozialen Sicherheit unabhängig von den besonderen Eigenheiten der Rechtsvorschriften der verschiedenen Mitgliedstaaten als Leistungen gleicher Art zu betrachten seien, wenn ihr Sinn und Zweck sowie ihre Berechnungsgrundlage und die Voraussetzungen für ihre Gewährung übereinstimmten. Verschiedene Familienleistungen die nach den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaates oder des Wohnmitgliedstaates gezahlt würden, müssten nicht zwangsläufig Leistungen gleicher Art im Sinne von Art. 12 VO (EWG) Nr. 1408/71 sein. Bei der Anwendung der Antikumulierungsregelung nach Art. 10 Absatz 1b i) VO (EWG) Nr. 574/72 müssten somit im Rahmen der Berechnung des Unterschiedsbetrages unter den verschiedenen Familienleistungen, auf die der Wanderarbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsmitgliedsstaates und den Familienleistungen, die dem betreffenden Arbeitnehmer nach dem Recht des Wohnmitgliedstaates gezahlt würden, diejenigen erkannt werden, die unter Berücksichtigung ihres Sinn und Zwecks, ihrer Berechnungsgrundlage und der Voraussetzungen für ihre Gewährung sowie ihrer Leistungsberechtigten Leistungen gleicher Art im Sinne von Art. 12 der VO (EWG) Nr. 1408/71 sind. Es sei Sache des vorlegenden Gerichts, somit des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob das Elterngeld als Leistung gleicher Art wie die luxemburgischen Familienzulagen angesehen werden könne. Der EuGH gibt im Folgenden Hinweise, dass das Elterngeld wohl nicht nach diesen Vorgaben als Leistung gleicher Art wie das Kindergeld und die luxemburgische Familienzulage anzusehen ist. Auch wenn er dabei darstellt, dass es sich bei dem Kindergeld und der luxemburgischen Familienzulage um Familienbeihilfen im Sinne von Artikel 1u ii) VO (EWG) Nr. 1408/71 handelt und beim Elterngeld um eine Familienleistung im Sinne von Artikel 1u i) VO (EWG) Nr. 1408/71, wird diese Unterscheidung nicht als maßgeblich für die Entscheidung, ob es sich um Leistungen gleicher Art im Sinne von Art. 12 der VO (EWG) Nr. 1 408/71 handelt, angesehen, sondern es wird vom EuGH anhand der von ihm vorgegebenen Kriterien geprüft.

Diese Entscheidung des EuGH ist auf die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage, die in Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 vorgegebenen Prioritätsregeln, übertragbar. Auch in Art. 68 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 ist hinein zu lesen, dass die Prioritätsregeln voraussetzen, dass Leistungen gleicher Art nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zusammentreffen.

Dies ergibt sich daraus, dass die maßgeblichen Regelungen in der VO (EG) Nr. 883/2004 inhaltlich nicht von den der Entscheidung Wiering zugrundeliegenden Rechtsnormen abweichen. Zwar wird in Artikel 1z VO (EG) Nr. 883/2004 nicht mehr unterschieden zwischen Familienleistungen und Familienbeihilfen, sondern diese insgesamt als Familien-leistungen bezeichnet. Dies ist jedoch nicht entscheidungsrelevant. Auch Art. 10 VO (EWG) Nr. 574/72 galt für Familienleistungen und Familienbeihilfen. Der EuGH hat in seiner Entscheidung auch nicht darauf abgestellt, dass Familienleistungen und Familienbeihilfen nicht miteinander koordiniert werden dürften. Auch wenn der EuGH die im Streit stehenden Leistungen, das deutsche Kindergeld und das deutsche Elterngeld sowie die luxemburgische Familienzulage entsprechend einordnet, bezieht sich seine Entscheidung alleine auf die generelle Vergleichbarkeit von Familienleistungen. Die Einordnung spielt auch für die konkrete Prüfung der Vergleichbarkeit in der Entscheidung des EuGH keine Rolle, sondern wird nur als weiteres Argument genutzt. Auch Art. 10 VO (EG) Nr. 883/2004 entspricht Art. 12 Abs. 1 Satz 1 VO (EWG) 1408/71. Der Grundsatz, dass ein Anspruch auf mehrere Leistungen gleicher Art weder erhoben noch aufrechterhalten werden kann, ist unverändert. Ebenso ergeben sich keine maßgeblichen inhaltlichen Änderungen dadurch, dass die Prioritätsregeln für Familienleistungen nun insgesamt in Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 zusammengeführt wurden. Es gibt daher keinen Anhalt, weshalb man vorliegend von einem Systemwechsel ausgehen sollte, der dazu führen würde, dass ein methodisch tragfähiger Ansatz für einen Rückgriff auf die Entscheidung Wiering des EuGH für die Auslegung des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 nicht mehr vorhanden wäre (ebenso Österreichischer OGH, Beschluss vom 24.01.2017, 10 ObS 146/16t; Österreichischer OGH, Beschluss vom 13.09.2019, 10 ObS 110/19b; offengelassen vom BFH, Urteil vom 25.07.2019, III R 34/18, RdNr.25, da Vergleichbarkeit der im Streit stehenden Leistungen; nicht thematisiert, da vergleichbare Leistungen: BFH, Urteil vom 20.04.2023, III R 4/20 RdNr. 18; ebenso FG Münster, Urteil vom 31.05.2022, 11 K 3305/18 Kg, AO; ebenso Becker in Hauck/Noftz, EU-Sozialrecht, 13. Ergl, Art. 68 EGV 883/2004, RdNr. 8; a. A.: Schreiber in Kassler Kommentar, EL 122, Mai 2023, Art. 68 VO (EG) 883/2004 RdNr. 4; a. A. ohne Begründung Fuchs in NZS 2015, 121 ff., in einer Besprechung der Entscheidung Wiering; ohne eigene Schlussfolgerung Marhold in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht, 8. Aufl., Art. 68, RdNr. 4)

Damit war vorliegend zu prüfen, ob das bayerische Familiengeld und das österreichische Kinderbetreuungsgeld als Einkommensersatz nach dem österreichischen Betreuungsgeldgesetz i. d F. vom 01.09.2018 - obwohl der Kläger Leistungen ab diesem Zeitpunkt weder bezogen noch beansprucht hat - Leistungen gleicher Art sind, die die Anwendung der Prioritätsregelung des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 zulassen.

Dies ist nicht der Fall. Der EuGH hat in der Entscheidung Wiering Kriterien für die Prüfung, ob Leistungen gleicher Art vorliegen, aufgestellt. Danach sind für die Prüfung der Vergleichbarkeit maßgeblich Sinn und Zweck, Berechnungsgrundlage und die Voraussetzungen für ihre Gewährung.

Zwischen dem bayerischen Familiengeld und dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld bestehen erhebliche Unterschiede in der konkreten Ausgestaltung der Leistungen betreffend ihre Leistungsvoraussetzungen und Berechnung der Leistungshöhe:

Das bayerische Familiengeld wird in Höhe von 250.- Euro für das erste und zweite Kind des Berechtigten und in Höhe von 300.- Euro für das dritte und jedes weitere Kind des Berechtigten pro Monat vom ersten Tag des 13. Lebensmonats bis zur Vollendung des 36. Lebensmonats des Kindes gewährt (Art. 3 BayFamGG). Das bayerische Familiengeld ist unabhängig von der Einkommens- und Vermögenssituation und unabhängig von der Erwerbstätigkeit des Beziehers. Es ist alleine daran geknüpft, dass der Bezieher seine Hauptwohnung oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat Bayern hat, mit seinem Kind in einem Haushalt lebt und dieses Kind selbst erzieht und für eine förderliche frühkindliche Betreuung des Kindes sorgt (Art. 2 BayFamGG).

Das österreichische Kinderbetreuungsgeld wird entweder in Form eines pauschalen Kinderbetreuungsgeldes als Konto oder als Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens gewährt (§ 1 Satz 2 österreichisches Kinderbetreuungsgeldgesetz). Es handelt sich hierbei um zwei unterschiedliche Systeme, die für beide Eltern zusammen gewählt werden müssen. Das pauschale Kinderbetreuungsgeld als Konto ist davon abhängig, dass für das Kind ein Anspruch auf Familienbeihilfe besteht und diese bezogen wird, der Elternteil mit dem Kind in einem gemeinsamen Haushalt lebt, der Gesamtbetrag der Einkünfte einen Grenzbetrag von jährlich 16.200.- Euro (im Regelfall) nicht übersteigt, der Elternteil und das Kind den Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet haben und sie sich rechtmäßig in Österreich aufhalten (§ 2 Abs. 1 österreichisches Kinderbetreuungsgeldgesetz). Das pauschale Kinderbetreuungsgeld als Konto beträgt bei einer Anspruchsdauer von bis zu 365 Tagen ab der Geburt des Kindes 33,88 Euro täglich. Bei Bezug von beiden Elternteilen verlängert sich die Anspruchsdauer auf maximal bis zu 456 Tage ab der Geburt des Kindes (§ 3 Abs. 1 und 2 österreichisches Kinderbetreuungsgeldgesetz). Die Anspruchsdauer kann nach § 5 österreichisches Kinderbetreuungsgeldgesetz verlängert werden auf bis zu 851 Tage ab Geburt des Kindes, wodurch sich der Tagesbetrag im gleichen Verhältnis verringert. Bei abwechselndem Bezug beider Elternteile kann die Anspruchsdauer auf bis zu 1063 Tage ab der Geburt des Kindes verlängert werden. Das österreichische Kinderbetreuungsgeldgesetz sieht im Abschnitt 3 eine Beihilfe zum pauschalen Kinderbetreuungsgeldgesetz voraus, wenn der Elternteil alleinstehend ist oder der Ehegatte nicht mehr als 16.200.- Euro jährlich an Einkünften hat.

Alternativ hierzu kann das Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens bezogen werden, wenn unmittelbar vor der Geburt des Kindes in den letzten 182 Kalendertagen eine durchgehende Erwerbstätigkeit bestand und während der Zeit des Bezugs keine Erwerbseinkünfte erzielt werden (mit Ausnahme von Einkünften in Höhe von 6.800.- Euro pro Kalenderjahr). Das Kinderbetreuungsgeld beträgt dann 80 % des auf den Kalendertag entfallenden Wochengeldes, das gegebenenfalls fiktiv zu berechnen ist (§ 24a österreichisches Kinderbetreuungsgeldgesetz). Das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld kann von einem Elternteil längstens für 365 Tage ab Geburt des Kindes bezogen werden, bei abwechselndem Bezug beider Elternteile kann die Anspruchsdauer auf bis zu 426 Tage ab Geburt des Kindes verlängert werden (§ 24b österreichisches Kinderbetreuungsgeldgesetz).

Für den vorzunehmenden Vergleich ist auf das konkret gewählte Modell des Kinderbetreuungsgeldes abzustellen, hier die Form des Kinderbetreuungsgeldes als Ersatz des Erwerbseinkommens.

Ein Vergleich des bayerischen Familiengeldes mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens ergibt, dass sie sowohl in ihrer Berechnungsgrundlage als auch in ihren Voraussetzungen für die Gewährung höchst unterschiedlich sind. Während das bayerische Familiengeld als pauschale Geldleistung lediglich an den Wohnort in Bayern sowie die Erziehung und frühkindliche Förderung anknüpft, setzt das österreichische Kinderbetreuungsgeld als Entgeltersatzleistung den (nahezu vollständigen) Ausfall von Erwerbseinkünften und eine Erwerbstätigkeit vor der Geburt des Kindes voraus. Auch in der Bezugsdauer und in der Leistungshöhe bestehen erhebliche Unterschiede. Während das bayerische Familiengeld für den 13. bis 36. Lebensmonat in pauschaler Höhe geleistet wird, ist das österreichische Kinderbetreuungsgeld in der Variante als Einkommensersatz auch in der Höhe abhängig vom Einkommen und wird für 365 Tage, bei Bezug beider Elternteile bis maximal 426 Tage ab Geburt geleistet.

Aus diesen Unterschieden ist die Zweckrichtung der beiden Leistungen zu entnehmen. Das bayerische Familiengeld beschreibt seinen Zweck zudem in Art. 1 BayFamGG. Während das bayerische Familiengeld damit eine Anerkennung unabhängig vom gewählten Lebensmodell für die Erziehungsleistung darstellt und Eltern gleichzeitig einen nötigen Gestaltungsspielraum für frühe Erziehung und Bildung der Kinder einschließlich gesundheitsförderlicher Maßnahmen in der jeweils von ihnen gewählten Form ermöglichen möchte und explizit nicht der Existenzsicherung dient, ist Sinn und Zweck des österreichischen Kinderbetreuungsgeldes als Einkommensersatz die finanzielle Absicherung nach der Geburt eines Kindes im ersten Lebensjahr bzw. in den ersten rund 14 Monaten ab Geburt bei Unterbrechung der Erwerbstätigkeit. Das österreichische Kinderbetreuungsgeld als Einkommensersatz entspricht damit in seiner Zielrichtung dem Elterngeld nach dem BEEG. Die Betreuung des Kindes durch Reduzierung der Arbeitszeit soll durch die Entgeltersatzleistung ermöglicht werden. Bayerisches Familiengeld stellt eine zusätzliche Anerkennungsleistung des Freistaats Bayern für Familien dar, die regelmäßig im Anschluss an das Elterngeld ab dem 13. Lebensmonat bezogen werden kann und damit gerade nicht für die Zeit unmittelbar nach der Geburt und im erste Lebensjahr, in der verstärkt ein Einkommensausfall aufgrund von Kinderbetreuung rund um die Uhr vorhanden ist. Es geht daher gerade nicht darum, als Einkommensersatz zu fungieren und die elterliche Betreuung der Kinder zu fördern. Die Eltern sollen durch die Geldleistung alleine in ihrer Erziehungsaufgabe unterstützt werden.

Alleine der Umstand, dass beide Leistungen Eltern durch periodische Geldzahlungen fördern, machen die zu beurteilenden Leistungen nicht vergleichbar. Es ist davon auszugehen, dass alle Familienleistungen das Ziel haben, die Familie und damit die Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder zu fördern. Der maßgebliche Unterschied zwischen dem bayerischen Familiengeld und dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens besteht darin, dass letzteres den Ausfall des Erwerbseinkommens in Zeiten der Unterbrechung der Erwerbstätigkeit aufgrund der Kinderbetreuung kompensieren soll und das bayerische Familiengeld unabhängig von der konkreten familiären Situation und den Einkommensverhältnissen als Anerkennung für die erbrachte Erziehungsleistung gewährt wird. Dass hier Existenzsicherung bzw. Kompensation von Einkommensausfall keine Rolle spielt, ist aus der in Art. 1 BayFamGG niedergelegten Zweckrichtung, dem Zeitraum der Leistungsgewährung und der Höhe der Leistung ersichtlich.

Es handelt sich damit auch unter Berücksichtigung der Vorgabe des EuGH, dass Berechnungsgrundlagen und Voraussetzung der Leistungsgewährung nicht völlig gleich sein müssen (EuGH, Wiering, RdNr. 55) nicht um Leistungen gleicher Art, so dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anwendung der Prioritätsregeln des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 nicht gegeben sind.

Dieses Ergebnis führt auch nicht zu einer europarechtlich nicht gewollten Besserstellung des Klägers als Grenzgänger. Das bayerische Familiengeld wird neben dem Bezug des Elterngeldes gewährt. Auch das Elterngeld hat eine Einkommensersatzfunktion vergleichbar mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens. Damit ist es auch im Sinne der europarechtlichen Gleichbehandlung geboten, den Bezug des bayerischen Familiengeldes neben dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens zuzulassen.

Auch Art. 4 BayFamGG, der ohnehin aufgrund des Vorranges von Europarecht ggf. von einer widersprechenden europarechtlichen Regelung verdrängt würde, setzt für eine Anrechnung von Leistungen auf das bayerische Familiengeld die Vergleichbarkeit der Leistungen voraus. Auch unter Zugrundelegung dieser Regelung verbliebe es damit beim gefundenen Ergebnis, da bayerisches Familiengeld und österreichisches Kinderbetreuungsgeld als Einkommensersatz nicht vergleichbar sind (s. o.).

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG vom 12.10.2021 ist damit ohne Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht gegeben.

 

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