S 28 KA 428/23 ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 28 KA 428/23 ER
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss


I. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Beschluss des Antragsgegners zu 1. vom 17.05.2023 (Bescheid vom 02.06.2023) wird abgelehnt.

II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.


Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Entziehung seiner Zulassung, deren sofortige Vollziehung der Antragsgegner zu 1. (Zulassungsausschuss) angeordnet hat.

Der Antragsteller (geb. 1944) wurde zum 09.09.1981 als mit Schwerpunkt Pneumologie zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Zunächst nahm er sowohl an der haus- als auch an der fachärztlichen Versorgung teil. Seit dem 01.01.1996 nimmt er nur noch an der hausärztlichen Versorgung teil. Er ist in I-Stadt niedergelassen und betreibt dort eine Einzelpraxis.

Mit bestandskräftigem Disziplinarbescheid vom 08.05.2019 verhängte die Beigeladene zu 1. gegen den Antragsteller wegen der Verletzung der vertragsärztlichen Pflichten eine Geldbuße in Höhe von 2.500 €. Dem Antragsteller wurde zu Last gelegt, dass er vom Quartal 1/2009 bis zum Quartal 1/2016 durchgehend und in erheblichem Umfang gegen das Gebot der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise verstoßen habe. Der Antragsteller hatte in dem Verfahren weder schriftlich noch mündlich Stellung genommen.

Mit Beschluss vom 13.01.2022 stellte das Landgericht M-Stadt fest, dass sich der Antragsteller eines Verstoßes gegen die Berufsordnung für die Ärzte Bayern schuldig gemacht hat und verurteilte ihn deshalb zu einer Geldbuße von 2.000 €. Nach den Feststellungen des Gerichts hatte der Antragsteller seinen Beruf nicht gewissenhaft ausgeübt und dem ihm im Zusammenhang mit dem Beruf entgegengebrachten Vertrauen nicht entsprochen; der Antragsteller habe sich entgegen seiner ärztlichen Pflichten geweigert, einen Befundbericht für die Versicherung seines Patienten auszustellen, die Behandlung nicht ordnungsgemäß dokumentiert und die Schreiben der Berufsvertretung nicht beantwortet. Im berufsgerichtlichen Verfahren hatte der Antragsteller nicht Stellung genommen.

Mit Schreiben vom 07.06.2022 unterrichtete die Beigeladene zu 1. die Generalstaatsanwaltschaft  N-Stadt über den möglichen Anfangsverdacht eines Abrechnungsbetruges des Antragstellers.

Die Beigeladene zu 1. leitete für das Quartal 2/2020 eine Plausibilitätsprüfung wegen überhöhten Abrechnungshäufigkeiten ein; hierüber informierte sie den Antragsteller mit Schreiben vom 10.02.2022.

Am 27.10.2022 erließ die Beigeladene zu 1. einen (bestandskräftigen) Honoraraufhebungsbescheid für das Quartal 2/2020. Zugleich kündigte sie an, dass die Neufestsetzung des Honorars zu einem späteren Zeitpunkt in einem gesonderten Bescheid erfolgen würde.

Mit Schreiben vom 27.02.2023 beantragte die Beigeladene zu 1., dem Antragsteller die Zulassung wegen gröblicher Verletzung vertragsärztlicher Pflichten zu entziehen. Der Antragsteller habe gegen seine Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung verstoßen. Die Prüfung im Quartal 2/2020 habe gezeigt, dass sich die abgerechneten Leistungen anhand der Patientenunterlagen nicht nachvollziehen ließen. Meist befänden sich nur allgemeine Notizen sowie die Abrechnungsziffern in den Unterlagen, welche überwiegend aus einfachen, zusammengeschriebenen und kopierten, karierten Blockblättern bestünden. Konkret durchgeführte Leistungsinhalte seien dagegen in praktisch keinem der geprüften Fälle vorhanden gewesen, so dass häufig bereits der obligate persönliche Arzt-Patienten-Kontakt nicht nachvollziehbar gewesen sei. Weder die allgemeinen noch die besonderen Dokumentationspflichten seien beachtet worden und auch im Übrigen seien keine Angaben und/oder Notizen über konkrete Behandlungsmaßnahmen sowie Leistungsinhalte vorhanden. Auf die Beispiele im Aufhebungsbescheid vom 27.10.2022 werde Bezug genommen. Anhand der unzureichenden Dokumentation lasse sich die ordnungsgemäße Leistungserbringung nicht nachvollziehen und ein Verstoß gegen die Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung liege vor. Neben der Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung habe der Antragsteller auch gegen seine Dokumentationspflicht verstoßen. Weder die allgemeinen noch die besonderen Dokumentationspflichten seien beachtet worden. Überhaupt habe es an Angaben und/oder Notizen über konkrete Behandlungsmaßnahmen gefehlt. Die Patientenunterlagen hätten lediglich aus allgemeinen Notizen und Abrechnungsziffern bestanden, überwiegend auf einfachen, zusammengeschriebenen und kopierten, karierten Blockblättern. Dieses Vorgehen genüge nicht den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Dokumentation und stelle für sich genommen bereits einen Verstoß gegen vertragsärztliche Pflichten dar, ungeachtet der Frage, ob hiervon losgelöst eine Abrechnung der Leistungen möglich sei. In der Dokumentationspflichtverletzung liege auch ein Verstoß gegen Berufsrecht. Ein solcher sei auch in dem Sachverhalt zu sehen, welcher bereits Gegenstand des berufsgerichtlichen Verfahrens vor dem Landgericht M-Stadt gewesen sei. Es läge auch eine gröbliche Verletzung vertragsärztlicher Pflichten vor. Sowohl die Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung als auch die Dokumentationspflichten stellten zentrale Pflichten des Vertragsarztrechts dar. Sie dienten der Sicherung des Systems der vertragsärztlichen Versorgung sowie der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Obwohl vorliegend bisher lediglich ein Quartal betroffen sei, wiege der Sachverhalt derart schwer, dass bereits eine Gröblichkeit anzunehmen sei. Die Prüfung habe ergeben, dass es sich nicht um einen oder wenige Einzelfälle einer unzureichenden Dokumentation und in Folge Falschabrechnung handele, sondern sämtliche geprüften Fälle seien grob fehlerhaft, unvollständig oder nicht vorhanden gewesen. In diesem Zusammenhang sei auch die Aussage der Arzthelferin schlüssig, dass der Antragsteller seit ca. zwei Jahren nurmehr "alles im Kopf" mache. Es sei auch nicht im Ansatz ausreichend, wenn der Arzt lediglich eine Diagnose notiere und die Arzthelferinnen im Nachgang schriftliche Notizen vornehmen und entsprechende Gebührenordnungspositionen ansetzen würden. Derlei Tätigkeiten gehörten zu den originären Aufgaben des behandelnden Arztes und könnten nur im Sinne einer administrativen Tätigkeit (quasi als Schreibkraft o.ä.) an Mitarbeiter delegiert werden. Umgekehrt dürfe kein nicht-ärztlicher Mitarbeiter die Dokumentation eigenständig, sprich ohne konkrete Vorgabe durch den behandelnden Arzt, vornehmen. Sinn und Zweck einer ordnungsgemäßen Patientendokumentation sei unter anderem, den Behandlungsverlauf, insbesondere Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen, Ergebnisse, Befunde, Therapien und ihre Wirkungen zu dokumentieren. Sie dienten nicht nur als Gedächtnisstütze für den Arzt selbst, sondern auch als Grundlage für den weiterbehandelnden Arzt. Sei eine Dokumentation unzureichend oder fehlerhaft, könnten hieraus Folgefehler bei der Weiterbehandlung entstehen, im schlimmsten Falle eine massive Patientengefährdung bis hin zum Tod nach sich ziehen. Auch der Fall, welcher bereits vom Berufsgericht verhandelt worden sei, zeige, dass fehlerhafte oder unzureichende Dokumentationen für den Patienten erhebliche Folgen haben könnten, wenn - wie im vorliegenden Fall - eine Berufsunfähigkeitsversicherung Erkundigungen einholen möchte. Fehler könnten dazu führen, dass Patienten gegebenenfalls Probleme beim Abschluss einer Versicherung rund um Leben und Gesundheit bekämen (z.B. Private Krankenversicherung, -pflegeversicherung, Berufsunfähigkeitsversicherung, Kapital-/Risikolebensversicherung, Sterbegeldversicherung, Zahnzusatzversicherung). Patienten bemerkten diese im Zweifel allerdings erst Jahre oder Jahrzehnte später, so dass für diese kaum mehr nachvollziehbar sei, wie es zu einer fehlerhaften Eintragung in die Patientenakte gekommen sei bzw. sei es dann nur mit erheblichem Aufwand möglich, eine Patientendokumentation wieder zu korrigieren und die Folgen zu beseitigen. Obwohl es für den Tatbestand einer gröblichen Pflichtverletzung im Sinne von § 95 Abs. 6 SGB V nicht erforderlich sei, dass den Vertragsarzt ein Verschulden treffe, stehe zur Überzeugung der Beigeladenen zu 1. fest, dass der Antragsteller zumindest grob fahrlässig gegen vertragsärztliche Pflichten verstoßen habe, was für die subjektive Vorwerfbarkeit entsprechend schwer wiege. Die Dokumentationspflicht sei mehrfach gesetzlich verankert und es könne aufgrund der langjährigen Berufserfahrung des Antragstellers davon ausgegangen werden, dass ihm dies grundsätzlich bekannt sei. Darüber hinaus lasse der bisher festgestellte Sachverhalt allerdings keinen sicheren Rückschluss zu, ob die Dokumentation sowie Falschabrechnung gegebenenfalls (zumindest bedingt) vorsätzlich erfolgt sei. Angesichts der Schwere der begangenen Pflichtverstöße sei das erforderliche Vertrauensverhältnis zwischen der Beigeladenen zu 1. und dem Antragsteller wesentlich gestört. Durch sein Verhalten habe er sich als für die Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung ungeeignet erwiesen. Eine weitere Zusammenarbeit sei nicht mehr zumutbar. Der Antragsteller habe vorliegend massiv gegen fundamentale vertragsärztliche Pflichten verstoßen. Obwohl nach bisherigem Kenntnisstand lediglich ein Quartal betroffen sei, habe der Antragsteller seine vertragsärztlichen Pflichten in erheblicher Weise verletzt. Das erforderliche Vertrauensverhältnis zwischen ihm, der Beigeladenen zu 1. und den Krankenkassen sei derart tiefgreifend und nachhaltig gestört, dass eine weitere Zusammenarbeit mit ihm nicht mehr zumutbar sei. Schon aus generalpräventiven Gründen könne dieses Verhalten nicht geduldet werden, so dass hier eine weitere verhältnismäßig "mildere" Disziplinarmaßnahme nicht mehr als ausreichend erachtet werde. Auch unter Berücksichtigung des sog. Ultima-ratio-Prinzips werde ein Disziplinarverfahren oder ein Ruhen der Zulassung als nicht mehr ausreichend erachtet. Es handele sich hier um massive Pflichtverletzungen, die auch nicht lediglich als Fehlverhalten aus Unachtsamkeit zu bewerten seien, was bei geringer Erfahrung mit dem System der vertragsärztlichen Versorgung gegebenenfalls angenommen werden könnte. Der Antragsteller sei bereits seit 1981 zugelassen und damit mit den Pflichten und Regeln der vertragsärztlichen Versorgung bestens vertraut. Zusammenfassend stelle der Zulassungsentzug das einzig gebotene Mittel dar. Zudem sei die sofortige Vollziehung der Entziehung der Zulassung des Antragstellers anzuordnen, da das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung die Individualinteressen des Antragstellers überwiege. Gründe der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung stünden der Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht entgegen. Der Sofortvollzug der Entziehung der Zulassung komme im Hinblick auf den hohen Anteil der gesetzlich krankenversicherten Patienten einem Berufsverbot zumindest nahe und bedeute deshalb einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht des Arztes aus Art. 12 Abs. 1 GG. Der Sachverhalt stehe nach diesseitiger Überzeugung fest. Dass der Antragsteller nicht bzw. völlig unzureichend dokumentiert habe, sei anhand der durchgeführten Stichproben festgestellt worden. Bestätigt werde dies insbesondere auch durch die Aussage der Arzthelferin, wonach es sich hierbei um keinen Einzelfall handele, sondern der Antragsteller offenbar bereits seit ca. zwei Jahren alles "nur im Kopf" mache. Zwar bedürfe dies noch einer genaueren Prüfung, so dass hinsichtlich der Frage des Sofortvollzugs nur auf das tatsächlich geprüfte Quartal 2/2020 abzustellen sei, gleichwohl ergebe sich in einer Gesamtschau, nicht zuletzt auch im Hinblick auf das berufsgerichtliche Verfahren, dass der Antragsteller seine vertragsärztlichen Pflichten gröblich verletzt habe. Zweifel an dem festgestellten Sachverhalt bestünden somit keine. Die vorliegend im Raum stehenden Pflichtverletzungen begründeten eine Gefahr für Leib und Leben unmittelbar von Patienten sowie der Allgemeinheit und berührten deren Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG. Dem Grundrecht auf Leben komme - als Voraussetzung aller übrigen Grundrechte - und ebenso wie dem Grundrecht auf körperliche Integrität wegen des Bezugs zur Menschenwürde höchster Rang zu; im Widerstreit betroffener Grundrechte sei diesem Recht der Patienten Vorrang vor der Berufsfreiheit des Vertragsarztes einzuräumen. Eine Beeinträchtigung der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG liege bereits bei einer konkreten Gefährdung der genannten Rechtsgüter vor. Eine solche Gefährdung sei anzunehmen, wenn ein Vertragsarzt wider besseren Wissens oder zumindest grob fahrlässig keine oder nur eine völlig unzureichende Dokumentation vornehme. Sinn und Zweck einer ordnungsgemäßen Dokumentation sei unter anderem, den Behandlungsverlauf für den weiterbehandelnden Arzt festzuhalten. Sei diese unzureichend oder falsch, könnten hieraus Folgefehler entstehen, die eine Patientengefährdung bis hin zum Tod des Patienten nach sich ziehen könnten. Auch das Grundrecht eines Patienten auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) sei durch eine fehlerhafte Diagnose tangiert, da jede Weitergabe von Informationen über eine Behandlung und der dort gewonnenen Daten einen Eingriff in dieses Grundrecht darstellten. Zudem sei hervorzuheben, dass die spezifische Gefahrenlage bei der vertragsärztlichen Tätigkeit gerade auch darin bestehe, dass der Vertragsarzt in freier Praxis und damit ohne Aufsicht tätig sei, so dass die Möglichkeit einer Kontrolle durch Dienstvorgesetzte - wie z.B. bei Krankenhausärzten - nicht bestehe. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit führe zu keinem anderen Ergebnis. Es seien keine geeigneten Mittel ersichtlich, die der dargelegten Gefahr für Leben und Gesundheit von Patienten sowie der Allgemeinheit vorbeugten und gleichzeitig die Grundrechtspositionen von dem Antragsteller aus Art. 12 Abs. 1 GG weniger stark beeinträchtigten als die vorliegende Anordnung des Sofortvollzugs. Schließlich käme auch die Beiordnung einer ständigen Aufsichtsperson in der Praxis des Antragstellers als milderes Mittel nicht in Betracht.

Der Antragsteller nahm in dem Verfahren nicht Stellung.

Der Antragsgegner zu 1. entzog mit Beschluss vom 17.05.2023 (Bescheid vom 02.06.2023) vollständig die Zulassung des Antragstellers wegen gröblicher Verletzung vertragsärztlicher Pflichten und ordnete die sofortige Vollziehung an. An dem von der Beigeladenen zu 1. vorgelegten Sachverhalt sei nicht zu zweifeln. Auch die von der Beigeladenen zu 1. getroffenen rechtlichen Wertungen seien vollständig korrekt und rechtmäßig. Der Zulassungsausschuss folge damit den Ausführungen der Beigeladenen zu 1. Insbesondere sei die vollständige Entziehung der Zulassung auch verhältnismäßig. Die Entziehung der Zulassung von Vertragsärzten, die wie vorliegend derart gravierende Pflichtverstöße verwirklichten, diene der Sicherung der vertragsärztlichen Versorgung sowie Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Versorgung der gesetzlich versicherten Patienten. Da mit der Entziehung der Zulassung künftige Gefährdungen des vertragsärztlichen Versorgungssystems durch den Antragsteller ausgeschlossen werden könnten, sei dem Erfordernis der Geeignetheit hier genüge getan. Der hier vorliegende Sachverhalt lasse ein milderes Mittel - etwa eine nur hälftige Zulassungsentziehung, Disziplinarmaßnahmen oder eine Ruhensanordnung - vor dem Hintergrund des zu erreichenden Zwecks, der Sicherstellung des auf Vertrauen basierenden Abrechnungssystems, nicht erkennen. Weder eine hälftige Zulassungsentziehung noch die Anordnung des Ruhens der Zulassung seien im vorliegenden Fall zweckdienlich. Auch die Beiordnung einer ständigen Aufsichtsperson in der Praxis des Antragstellers komme als milderes Mittel nicht in Betracht. Die vollständige Entziehung der Zulassung sei somit im vorliegenden Fall erforderlich. Bei der Angemessenheitsprüfung bzw. Proportionalität sei zu ermitteln, ob der Grundrechtseingriff und die damit für den betroffenen Arzt verbundene Beeinträchtigung mit dem Zweck des Eingriffs in einem wohlabgewogenen Verhältnis stehe. Auf Seiten des Arztes könne der Zulassungsausschuss in Ermangelung an Einlassung durch den Antragsteller lediglich die vorliegenden Unterlagen berücksichtigen. Neben dem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG sei auch die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG bei einer Zulassungsentziehung betroffen, denn die auf Basis der (als solcher nicht eigentumsfähigen) Zulassung aufgebaute und betriebene Arztpraxis unterfalle dem sog. Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Insoweit sei durchaus in Rechnung zu stellen, dass die (vollständige) Zulassungsentziehung für den Vertragsarzt in nicht wenigen Fällen eine existenzvernichtende Wirkung haben dürfte. Die Reichweite des entsprechenden Eigentumsschutzes werde jedoch unterschiedlich bewertet. Im Übrigen habe das BSG erneut klargestellt, dass es sich bei der Zulassung nicht um einen "Vermögensgegenstand" handele, über den frei verfügt werden könne. Das Interesse des Antragstellers müsse gegenüber den hier einschlägigen öffentlichen Gütern und Interessen insgesamt zurückstehen. Das Interesse an der Erfüllung der vertragsärztlichen Pflichten überwiege das Interesse des Antragstellers am Erhalt seiner Zulassung deutlich. Gerade die korrekte Abrechnung und Dokumentation seien grundlegende Pflichten, da dies weitgehend im Vertrauen den Vertragsärzten obliege. Auf Pflichtverstöße in diesem Bereich müssten harte Konsequenzen folgen, da ansonsten dieses gesamte vertrauensbasierte Abrechnungssystem gefährdet werde. Entscheidend für eine flächendeckende angemessene Versorgung mit vertragsärztlichen Leistungen sei insoweit, dass die zugelassenen Ärzte auch richtig abrechneten und dokumentierten. Auch wäre das System der gesetzlichen Krankenversicherung auf Dauer nicht finanzierbar und könnte seinem (gesetzlichen und vertraglichen) Anspruch einer qualitativ und quantitativ hochwertigen Versorgung nicht gerecht werden, wenn ungerechtfertigte Leistungen bezogen würden. Die Zulassungsentziehung diene insbesondere dazu, das System der vertragsärztlichen Versorgung vor Störungen zu bewahren und insgesamt funktionsfähig zu halten; Ärzte, die zur vertragsärztlichen Tätigkeit objektiv ungeeignet seien - etwa, weil durch Falschabrechnungen Zahlungen ohne Rechtsanspruch geflossen seien oder durch fehlende/ungenügende Dokumentationen keine Nachvollziehbarkeit bestehe - sollten keine Zulassung innehaben.
Die sofortige Vollziehung der Entziehung der Zulassung des Antragstellers werde angeordnet. Das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung überwiege die Individualinteressen des Antragstellers. Gründe der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung stünden der Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht entgegen. Die Praxis des Antragstellers liege bei den Behandlungszahlen etwa 20% unter dem Fachgruppendurchschnitt. Der Planungsbereich Stadt A-Stadt weise hinsichtlich der Gruppe der Hausärzte 83,0 Zulassungen bzw. Anstellungen, bei einem Versorgungsgrad von 103,02 % auf. Mithin herrsche Normalversorgung und es bestünden 6,0 Zulassungsmöglichkeiten (Stand 31.01.2023). Der Sachverhalt stehe nach Überzeugung des Zulassungsausschusses fest. Dass der Antragsteller nicht bzw. völlig unzureichend dokumentiere, sei anhand der durchgeführten Stichproben festgestellt worden. Bestätigt werde diese insbesondere auch durch die Aussage der Arzthelferin, wonach es sich hierbei um keinen Einzelfall handele, sondern der Antragsteller offenbar bereits seit etwa zwei Jahren alles "nur im Kopf" mache. Zwar bedürfe dies noch einer genaueren Prüfung, so dass hinsichtlich der Frage des Sofortvollzugs nur auf das tatsächlich geprüfte Quartal 2/2020 abgestellt werde. Gleichwohl ergebe sich in einer Gesamtschau, nicht zuletzt auch im Hinblick auf das berufsgerichtliche Verfahren, dass der Antragsteller seine vertragsärztlichen Pflichten gröblich verletzt habe. Das Gremium habe somit keine Zweifel an dem dargelegten Sachverhalt. Die vorliegend im Raum stehenden Pflichtverletzungen begründeten eine Gefahr für Leib und Leben unmittelbar von Patienten sowie der Allgemeinheit und berührten deren Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG. Dem Grundrecht auf Leben komme - als Voraussetzung aller übrigen Grundrechte - und ebenso wie dem Grundrecht auf körperliche Integrität wegen des Bezugs zur Menschenwürde höchster Rang zu; im Widerstreit betroffener Grundrechte sei diesem Recht der Patienten Vorrang vor der Berufsfreiheit des Vertragsarztes einzuräumen. Eine Beeinträchtigung der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG liege bereits bei einer konkreten Gefährdung der genannten Rechtsgüter vor. Eine solche Gefährdung sei anzunehmen, wenn ein Vertragsarzt wider besseres Wissen oder zumindest grob fahrlässig keine oder nur eine völlig unzureichende Dokumentation vornehme. Sinn und Zweck einer ordnungsgemäßen Dokumentation sei unter anderem, den Behandlungsverlauf für den weiterbehandelnden Arzt festzuhalten. Sei diese unzureichend oder falsch, könnten hieraus Folgefehler entstehen, die eine Patientengefährdung bis hin zum Tod des Patienten nach sich ziehen könnten. Auch das Grundrecht eines Patienten auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) sei durch eine fehlerhafte Diagnose tangiert, da jede Weitergabe von Informationen über eine Behandlung und der dort gewonnenen Daten einen Eingriff in dieses Grundrecht darstelle. Zudem sei hervorzuheben, dass die spezifische Gefahrenlage bei der vertragsärztlichen Tätigkeit gerade auch darin bestehe, dass der Vertragsarzt in freier Praxis und damit ohne Aufsicht tätig sei, so dass die Möglichkeit einer Kontrolle durch Dienstvorgesetzte wie z.B. bei Krankenhausärzten nicht bestehe. Auch bei dieser Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entziehung sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet. Es seien keine geeigneten Mittel ersichtlich, die der dargelegten Gefahr für Leben und Gesundheit von Patienten sowie der Allgemeinheit vorbeugten und gleichzeitig die Grundrechtsposition des Antragstellers aus Art. 12 Abs. 1 GG weniger stark beeinträchtigten als eine Anordnung des Sofortvollzugs.

Mit Schreiben vom 04.07.2023 legten die Bevollmächtigten des Antragstellers Widerspruch gegen den Bescheid des Antragsgegners zu 1. ein und beantragten zugleich die Aussetzung der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Beschlusses des Antragsgegners zu 1.

Der Antragsgegner zu 2. hat mit Schreiben vom 18.07.2023 mitgeteilt, dass er sich nur in Sitzungen als Gremium mit den Verfahren befassen und beschließen könne. Die nächsten Sitzungstermine stünden bisher nicht fest, würde allerdings frühestens im 4. Quartal 2023 stattfinden.

Die Bevollmächtigten des Antragstellers haben am 20.07.2023 beim Sozialgericht München Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt und beantragt, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs anzuordnen. Die erforderliche Interessenabwägung ergebe, dass das öffentliche Interesse am Sofortvollzug gegenüber dem Interesse des Antragstellers nicht vorrangig sei. Die Rechtsausführungen des Antragsgegners zu 1. träfen zwar grundsätzlich zu, seine Tatsachenfeststellungen erfüllten diese rechtlichen Voraussetzungen jedoch nicht. Der Antragsgegner zu 1. führe insbesondere aus, dass der Sachverhalt nach seiner Überzeugung feststehe. Dass sich die einzige durchgeführte Plausibilitätsprüfung bei dem Antragsteller lediglich auf das Quartal 2/2020 erstrecke, das nun mehr als drei Jahre zurückliege, räume der Antragsgegner zu 1. selbst ein. Ferner führe der Antragsgegner zu 1. aus, dass aufgrund der bisherigen Feststellungen die Prüfung weiterer Quartale geplant sei, es hierzu aber aktuell noch keinerlei Erkenntnisse gebe. Etwaige weitere Prüfungsergebnisse lägen mithin zweifelsohne nicht vor, so dass solche auch nicht zum Nachteil des Antragstellers verwertet werden dürften. Dass eine Zulassung aufgrund eines einzigen geprüften und festgestellten Verstoßes, noch dazu in einem drei Jahre zurückliegenden Quartal 2/2020, ohne weitere nachgewiesene Verstöße nicht nur durch Beschluss entzogen, sondern dazu auch noch gleichzeitig die Anordnung der sofortigen Vollziehung angeordnet werde, verstoße zweifelsohne gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dürfte in dieser Form seinesgleichen suchen. Der Antragsgegner zu 1. verkenne, dass das berufsgerichtliche Verfahren überhaupt keine gröblichen Verletzungen der vertragsärztlichen Pflichten des Antragstellers festgestellt habe. Dieses berufsgerichtliche Verfahren allein könne beim besten Willen nicht ausreichen, auch nicht in der Gesamtschau mit den alleinigen Ergebnissen einer einzigen Plausibilitätsprüfung für das Quartal 2/2020, eine Entziehung der Zulassung zu begründen und darüber hinaus auch noch die Anordnung der sofortigen Vollziehung vorzunehmen. Selbst wenn die Auffassung des Antragsgegners zu 1. zutreffen würde, dass der Antragsteller wider besseres Wissen oder zumindest grob fahrlässig keine oder nur eine völlig unzureichende Dokumentation vorgenommen habe, erstrecke sich dies lediglich auf das geprüfte Quartal 2/2020 und dessen bestandskräftige Feststellungen, nicht jedoch auf die Folgequartale bis heute. Es bestünden also keinerlei greifbare bzw. belastbare Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller in den Quartalen nach dem geprüften Quartal 2/2020 bis heute entsprechende Vergehen begangen habe, so dass eine konkrete Gefahr für wichtige Gemeinschaftsgüter bzw. Rechtsgüter im Sinne von Art. 12 Abs. 1 GG nicht vorliege. Allenfalls könnte man wegen der früheren Plausibilitätsprüfung von einer abstrakten Gefahr sprechen, die jedoch für den hier vorliegenden massiven Eingriff in die Berufsfreiheit keinesfalls ausreiche. Nicht nachvollziehbar sei auch, dass das Grundrecht der Patienten auf informationelle Selbstbestimmung durch eine fehlerhafte Diagnose des Antragstellers tangiert sei. Dass der Antragsteller in dem ausschließlich geprüften Quartal 2/2020 fehlerhafte Diagnosen produziert haben solle, sei den zitierten Ausführungen der Beigeladenen zu 1. in dem streitgegenständlichen Beschluss an keiner Stelle zu entnehmen. Außerdem sei die Begründung nicht schlüssig, jede Weitergabe von Informationen über eine Behandlung und der dort gewonnenen Patientendaten stelle einen Eingriff in dieses Grundrecht dar, da der Antragsteller solche Daten überhaupt nicht weitergegeben habe. Auch im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 GG sei zu berücksichtigen, dass die Anordnung des Sofortvollzugs mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die GKV-Praxis des Antragstellers unwiederbringlich vernichten würde. In seinem hohen Alter von 78 Jahren könnte der Antragsteller diese selbst bei dem späteren Erfolg im Widerspruchsverfahren nicht wiederaufbauen. Allein von PKV-Patienten könne ein Hausarzt definitiv nicht leben. Angesichts der Tatsache, dass der Antragsteller über 40 Jahre unbeanstandet für die Versorgung der Versicherten zur Verfügung gestanden habe, könne der Antragsgegner nicht lapidar ausführen, das Interesse des Antragstellers müsse gegenüber den hier einschlägigen öffentlichen Gütern und Interessen insgesamt zurückstehen.

Der Antragsgegner zu 2. hat ausgeführt, dass die Erfolgsaussichten des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Entziehung der Zulassung offen seien. Bedenken könnten sich aus den zu prüfenden Pflichtenverstöße der unzureichenden Dokumentation ergeben, da die Prüfung auf ein Quartal 2/2020 gestützt worden sei. Andererseits habe der Antragsteller die Patientenakten, die dem Antragsgegner nur in den genannten Auszügen vorlägen, nicht ordnungsgemäß geführt, so dass eine gewisse Gefahr für die Patientinnen bei der Behandlung bzw. insbesondere dem Behandlungsverlauf bestanden habe, zu der auch die erforderliche Dokumentation und die anschließende peinlich genaue Abrechnung zähle. Ob der Antragsteller seine Dokumentationspraxis geändert habe, sei nicht bekannt. Einer vom Antragsgegner zu 2. noch zu treffenden Entscheidung über den Widerspruch könne schwerlich vorgegriffen werden, wenn (nur) eine Prüfung im Quartal 2/2020 zu einer groben Pflichtverletzung geführt habe und keine weiteren Pflichtverletzungen bisher bekannt geworden seien.

Das Gericht hat die Akte der Beigeladenen zu 1. bezüglich des abgeschlossenen Plausibilitätsverfahrens für das Quartal 2/2020 sowie die Ermittlungsakten der Generalstaatsanwaltschaft  N-Stadt (Az. XYZ) beigezogen.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 04.07.2023 gegen den Beschluss des Antragsgegners zu 1. vom 17.05.2023 anzuordnen.

Die Antragsgegner zu 1. und 2. haben keine Anträge gestellt.

Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts wegen der Einzelheiten auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegner sowie der Beigeladenen zu 1. bezüglich des abgeschlossenen Plausibilitätsverfahrens für das Quartal 2/2020 2020 sowie der Ermittlungsakten der Generalstaatsanwaltschaft  N-Stadt (Az. XYZ) verwiesen.


II.

Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.

Gem. § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Diese Anordnungsbefugnis besteht nicht nur dann, wenn von Gesetzes wegen die aufschiebende Wirkung von Widerspruch oder Anfechtungsklage entfällt (§ 86a Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGG), sondern auch dann, wenn eine Behörde - wie vorliegend der Antragsgegner zu 1. - die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts angeordnet hat (§ 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG), da die Anrufung des Berufungsausschusses aufschiebende Wirkung hat (§ 96 Abs. 4 Satz 2 SGB V).

Die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Antrags sind gegeben. Insbesondere hat der Antragsteller bereits Widerspruch gegen den Beschluss des Antragsgegners zu 1. vom 17.05.2023 eingelegt.

Der Antrag ist jedoch unbegründet.

Aus Sicht des Gerichts ist es nicht zu beanstanden, dass sich der Antrag sowohl gegen den Antragsgegner zu 1. als auch den Antragsgegner zu 2. (Berufungsausschuss) richtet. Richtiger Antragsgegner ist grundsätzlich die Stelle, die im Hauptsacheverfahren Klagegegner ist (Keller, ebenda, § 86b Rn. 8); dies ist vorliegend der Antragsgegner zu 2. In ärztlichen Statussachen kann jedoch ausnahmsweise der Zulassungsausschuss Antragsgegner sein, wenn sich der Antragsteller gegen die von diesem erlassene Anordnung des Sofortvollzugs wendet und der Berufungsausschuss mit der Sache noch nicht befasst war (Keller, ebenda). Auch dies ist vorliegend der Fall, so dass beide Antragsgegner passivlegitimiert sind.

Die Anordnung des Sofortvollzugs ist formell rechtmäßig.

Der Antragsgegner zu 1. als Zulassungsausschuss war grundsätzlich befugt, den Sofortvollzug seiner Entscheidung anzuordnen (BayLSG, Urteil vom 19.09.2012, Az. L 12 KA 59/11, Rn. 22). Er hat die sofortige Vollziehung auch mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung angeordnet (§ 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG). In seiner Begründung stellt der Antragsgegner zu 1. darauf ab, dass die im Raum stehenden Dokumentationspflichtverletzungen eine Gefahr für Leib und Leben unmittelbar von Patienten sowie der Allgemeinheit begründen und deren Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG berühren. Dem Grundrecht auf Leben komme - als Voraussetzung aller übrigen Grundrechte - und ebenso wie dem Grundrecht auf körperliche Integrität wegen des Bezugs zur Menschenwürde höchster Rang zu; im Widerstreit betroffener Grundrechte sei diesem Recht der Patienten Vorrang vor der Berufsfreiheit des Vertragsarztes einzuräumen. Auch das Grundrecht eines Patienten auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) sei tangiert. Die Begründung genügt damit den hohen Anforderungen gem. § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG, auch wenn sie nahezu wortgleich - aber nicht identisch - mit den Ausführungen der Beigeladenen zu 1. in ihrem Schreiben vom 27.02.2023 ist.

Die Anordnung des Sofortvollzugs durch den Antragsgegner zu 1. ist ebenso wenig in materiellrechtlicher Hinsicht zu beanstanden.

Prüfungsmaßstab der Sozialgerichte ist bei einer Überprüfung einer Anordnung des Sofortvollzugs gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG wegen der materiellen Akzessorietät des einstweiligen Rechtsschutzes zunächst, ob die Hauptsache (Widerspruch oder Klage) nach summarischer Prüfung Erfolg haben wird. Ist der Verwaltungsakt rechtswidrig und verletzt er den Kläger in seinen Rechten, hat die Hauptsache also voraussichtlich Erfolg, besteht kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung. Das Suspensivinteresse überwiegt. Ist der Verwaltungsakt dagegen rechtmäßig und hat die Hauptsache deshalb voraussichtlich keinen Erfolg, so überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung. Ist die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes nicht eindeutig feststellbar, sind also die Erfolgsaussichten des Hauptverfahrens offen, ist vom Gericht der Hauptsache die Interessenabwägung der Verwaltung im konkreten Einzelfall nachzuvollziehen. Es prüft, ob die Interessen, die nach dem Gesetzeszweck zu berücksichtigen sind, richtig gewichtet und zum Ausgleich gebracht wurden oder ob die Abwägung fehlerhaft war, d.h. ein Abwägungsdefizit wegen der Nichtberücksichtigung von Belangen bzw. eine Abwägungsdisproportionalität bei fehlerhafter Gewichtung vorliegen. Dabei steigt das Gewicht des Suspensivinteresses mit der Intensität der Rechtsbeeinträchtigung durch den Vollzug, d.h. mit der Irreversibilität der Folgen bzw. mit dem Grad der Grundrechtsbeeinträchtigung. Ein besonderes Gewicht des Vollzugsinteresses kann sich aus gewichtigen Interessen der Allgemeinheit ergeben, zum Beispiel an der Einhaltung von Qualitätsstandards bei der vertragsärztlichen Behandlung zur Vermeidung von Risiken für die Patienten. Ergibt auch die Abwägung der betroffenen Interessen keinen eindeutigen Vorrang des Suspensivinteresses oder des Vollzugsinteresses, erfolgt eine an § 32 BVerfGG orientierte Folgenabwägung (BayLSG, Beschluss vom 02.04.2013, Az. L 12 KA 12/13 B ER, S. 10 m.w.N.).

Vorliegend stuft das Gericht zum aktuellen Zeitpunkt die Erfolgsaussichten des Widerspruchs gegen die Entziehung der Zulassung als offen ein, wenngleich in der Tendenz der Widerspruch eher als unbegründet zurückzuweisen als dass ihm stattzugeben sein wird.

Das Gericht stimmt der Auffassung des Antragsgegners zu 1. zu, dass der Sachverhalt - jedenfalls im Hinblick auf den Vorwurf der Dokumentationspflichtverletzungen - als weitgehend geklärt anzusehen ist. Die Beigeladene zu 1. hatte im Plausibilitätsverfahren für das Quartal 2/2020 30 Patientendokumentationen beim Antragsteller angefordert; lediglich 27 Patientendokumentationen stellte der Antragsteller der Beigeladenen zu 1. zur Verfügung (Anmerkung: Aus Sicht des Gerichts stellt sich hier die Frage, warum die drei Patientendokumentationen nicht übersandt wurden und ob diese tatsächlich existent sind). Die vorgelegten 27 Patientendokumentationen lassen deutlich erkennen, wie der Antragsteller üblicherweise dokumentiert. Neben den Behandlungstagen werden in der Regel lediglich die GOP-Ziffern des EBM notiert; gelegentlich kommen noch einzelne Medikationen sowie Laborwerte und Überweisungen hinzu. ICD-Diagnosen befinden sich meist rechts oben auf dem karierten Blatt, wobei sich die Frage stellt, ob diese nicht (teilweise) nachträglich aufgrund der von der Beigeladenen zu 1. eingeleiteten Plausibilitätsprüfung hinzugefügt wurden. Einzelne der übersandten Dokumentationen sind sehr unübersichtlich. Allen Aufzeichnungen ist gemein, dass sie keine Befunde, keine von Patienten geäußerten Beschwerden und (außer EKG und Laborleistungen) keine durchgeführten Behandlungsmaßnahmen enthalten. Auch die veranlassten Leistungen sind häufig unvollständig, mitunter ist nur Rezept ("Rp.") dokumentiert. Der Antragsteller bestreitet weder die von der Beigeladenen zu 1. festgestellten (durchgängigen) Dokumentationsmängel noch die in einem Telefonat mit der Beigeladenen zu 1. geäußerte Feststellung seiner Arzthelferin, dass wenn z.B. ein Patient anrufe, der Arzt alles nur noch "im Kopf" mache, ohne dass von den Helferinnen die Karteikarte überhaupt noch geführt werde. In seiner Vernehmung durch die Kriminalpolizei hat er ausgeführt, dass er aufgrund der mangelnden Zeit nicht immer dergestalt seine Leistungen dokumentiere, als dass er zusätzlich zu den Abrechnungsziffern in jedem Fall noch ergänzende Dokumentationen durchführe.

In den Akten der Generalstaatsanwaltschaft  N-Stadt sind zudem weitere exemplarische Dokumentationen des Antragstellers aus den Jahren 2017 - 2022, die dieser im Rahmen seiner Vernehmung durch die Kriminalpolizei vorgelegt hat, enthalten. Diese entsprechen in der Art und Weise den von der Beigeladenen zu 1. stichprobenartig angeforderten Patientendokumentationen aus dem Quartal 2/2020.

Zudem stellte das Landgericht M-Stadt im berufsgerichtlichen Verfahren (Az. BG-Ä) fest, dass die Behandlungsdokumentation des Antragstellers beim Patienten B. unzutreffend und unvollständig gewesen ist (Beschluss vom 13.01.2022).

Infolge der unzureichenden Dokumentation des Antragstellers hat das Gericht auch keine Zweifel, dass der Antragsteller, wie die Beigeladene zu 1. in ihrem Bescheid vom 27.10.2022 bestandskräftig festgestellt hat (zur Verwertung bestandskräftiger Entscheidungen im Zulassungsentziehungsverfahren vgl. Rademacker in: Rolfs/Körner/Krasney/Mutschler (Hrsg.), Kasseler Kommentar,Stand: 01.08.2019, § 95 SGB V Rn. 255 m.w.N.), im Quartal 2/2020 gegen die Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung verstoßen hat. Diesbezüglich ist der Sachverhalt geklärt, lediglich das Ausmaß der fehlerhaften Abrechnung ist für dieses Quartal noch nicht festgestellt. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass die Vernehmungen von Patienten des Antragstellers im Ermittlungsverfahren beim zuständigen Kriminalhauptkommissar den Eindruck haben entstehen lassen, dass der Antragsteller mit empathischer Hingabe seine Patienten betreut (Aktenvermerk vom 01.06.2023).

Die der Generalstaatsanwaltschaft  N-Stadt vorliegenden Patientendokumentationen für die Jahre 2017 - 2022 weisen im Übrigen auf weitere Verstöße gegen die Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung hin.

Das Gericht geht aufgrund summarischer Prüfung davon aus, dass der Widerspruch des Antragstellers eher nicht so hohe Erfolgsaussichten hat. Es spricht mehr dafür, dass der Antragsteller seine vertragsärztlichen Pflichten gröblich verletzt hat (§ 95 Abs. 6 Satz 1 SGB V) und die Zulassungsentziehung auch verhältnismäßig ist.

Nach der BSG-Rechtsprechung ist eine Pflichtverletzung gröblich, wenn sie so schwer wiegt, dass ihretwegen die Entziehung zur Sicherung der vertragsärztlichen Versorgung notwendig ist. Davon ist dann auszugehen, wenn durch sie das Vertrauen der vertragsärztlichen Institutionen in die ordnungsgemäße Behandlung der Versicherten und in die Rechtmäßigkeit der Abrechnungen durch den Vertragsarzt so gestört ist, dass ihnen eine weitere Zusammenarbeit mit dem Vertragsarzt nicht mehr zugemutet werden kann. Nicht erforderlich ist, dass den Vertragsarzt ein Verschulden trifft; auch unverschuldete Pflichtverletzungen können zur Zulassungsentziehung führen (Pawlita in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl. (Stand: 05.06.2023), § 95 Rn. 1116 m.w.N.).

Maßgeblicher Zeitpunkt für die rechtliche und tatsächliche Beurteilung von Entziehungsentscheidungen ist der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (Pawlita, ebenda, Rn. 1068 m.w.N.); der Antragsgegner zu 2. kann noch weitere tatsächliche Feststellungen als diejenigen, die dem Beschluss des Antragsgegners zu 1. zugrunde liegen, berücksichtigen.

Vorliegend hat der Antragsteller gegen seine Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung sowie gegen seine Dokumentationspflicht verstoßen. Hierbei handelt es sich jeweils um Verstöße gegen elementare vertragsärztliche Pflichten. Auch die Dokumentation der ärztlichen Leistungen ist eine zentrale berufsrechtliche und vertragsarztrechtliche (§ 57 BMV-Ä) Pflicht der Ärzte (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26.11.2014, Az. L 3 KA 70/12, Rn. 20); erhebliche Verstöße gegen diese Pflicht reichen für eine Zulassungsentziehung grundsätzlich aus (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.12.1993, Az. L 5 Ka 2141/93).

Die Zulassungsentziehung dürfte auch verhältnismäßig sein.

Wegen der Schwere des Eingriffs ist die Entziehung selbst immer ultima ratio. Die Zulassungsentziehung darf unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur ausgesprochen werden, wenn sie das einzige Mittel zur Sicherung und zum Schutz der vertragsärztlichen Versorgung ist (Pawlita, ebenda, Rn. 1165 m.w.N.).

Vorliegend schließt sich das Gericht der Auffassung der Beigeladenen zu 1. an, dass der Antragsteller zumindest grob fahrlässig gegen seine vertragsärztlichen Pflichten verstoßen hat. Im Fall nicht vorsätzlicher Pflichtverstöße (insbesondere gegen die Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung) ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeit regelmäßig zu prüfen, ob der Arzt nicht auf andere Weise, z.B. durch Honorarkürzungen, Belehrungen oder Disziplinarmaßnahmen zur Aufgabe seines Fehlverhaltens veranlasst werden kann. Ausschlaggebend bleibt jedoch Art und Schwere der Pflichtverletzung des Arztes. Deshalb muss einer Entziehung keineswegs in jedem Fall eine Disziplinarmaßnahme vorausgehen (Rademacker, ebenda, Rn. 248 m.w.N.).

Vorliegend handelt es sich nach Einschätzung des Gerichts um offensichtlich dauerhafte und regelmäßige Verstöße gegen die Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung sowie gegen die Dokumentationspflicht. Angesichts der Schwere der Pflichtverletzungen des Antragstellers dürfte die vom Antragsgegner zu 1. beschlossene Zulassungsentziehung verhältnismäßig sein.

Infolge des aus Sicht des Gerichts im Ergebnis aber noch offenen Ausgangs des Widerspruchsverfahrens hat das Gericht die Interessenabwägung der Verwaltung nachzuvollziehen.

Bei der Gesamtwürdigung aller Umstände kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass ein besonderes (öffentliches) Interesse an der sofortigen Vollziehung, das über das allgemeine Interesse an der Entziehung der Zulassung des Antragstellers hinausgeht, besteht.

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der vertragsärztlichen Zulassung greift nach der Rechtsprechung des BVerfG in die Berufsfreiheit des Antragstellers ein. Die Abweichung von der im Gesetz grundsätzlich vorgesehenen aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs (§ 86a Abs. 1 Satz 1 SGG, § 96 Abs. 4 Satz 2 SGB V) stellt einen selbständigen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG dar (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.11.2010, Az. BvR 722/10, Rn. 12 m.w.N.).

Da die durch den Sofortvollzug bewirkten Beschränkungen angesichts des hohen Anteils der gesetzlich krankenversicherten Patienten einem vorläufigen Berufsverbot zumindest nahekommen, sind sie - wie dieses - nur unter strengen Voraussetzungen zur Abwehr konkreter Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter und unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit statthaft. Allein die hohe Wahrscheinlichkeit, dass das Hauptsacheverfahren zum Nachteil des Betroffenen ausgehen wird, reicht mithin nicht aus. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung setzt vielmehr voraus, dass überwiegende öffentliche Belange es auch mit Blick auf die Berufsfreiheit des Betroffenen rechtfertigen, seinen Rechtsschutzanspruch gegen die Grundverfügung einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, hängt von einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls und insbesondere davon ab, ob eine weitere Berufstätigkeit schon vor Rechtskraft des Hauptsacheverfahrens konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter befürchten lässt (vgl. BVerfG, ebenda, Rn. 13 m.w.N.). Zwar können überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch (Art. 19 Abs. 4 GG) des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Dabei ist der Rechtsschutzanspruch umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahmen der Verwaltung Unabänderliches bewirken (vgl. BVerfG, ebenda, Rn. 20 m.w.N.).

Der Antragsgegner zu 1. hat die Anordnung des Sofortvollzugs damit begründet, dass die im Raum stehenden Dokumentationspflichtverletzungen eine Gefahr für Leib und Leben unmittelbar von Patienten sowie der Allgemeinheit begründen und deren Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG berühren. Dem Grundrecht auf Leben komme - als Voraussetzung aller übrigen Grundrechte - und ebenso wie dem Grundrecht auf körperliche Integrität wegen des Bezugs zur Menschenwürde höchster Rang zu; im Widerstreit betroffener Grundrechte sei diesem Recht der Patienten Vorrang vor der Berufsfreiheit des Vertragsarztes einzuräumen.

Damit hat der Antragsgegner zu 1. zutreffend begründet, dass eine weitere Berufstätigkeit des Antragstellers konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter, hier Gesundheit und Leben der Patienten, befürchten lässt.

Im Fall der gravierenden Verletzung von Dokumentationspflichten, wie sie vorliegend gegeben ist, "ist eine Patientengefährdung durch eine Fehlbehandlung infolge fehlender oder fehlerhafter Aufzeichnungen in den Krankenakten nicht auszuschließen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Dokumentation der Therapiesicherung dient. Sie ist eine selbstverständliche therapeutische Pflicht gegenüber dem Patienten und soll eine sachgerechte Behandlung und Weiterbehandlung ermöglichen" (BayLSG, Beschluss vom 05.01.2011, Az. L 12 KA 116/10 B ER, Rn. 30 m.w.N.).

Bei einer Gesamtwürdigung ist in Anbetracht der Schwere der dem Antragsteller zur Last gelegten Vorwürfe abweichend vom Regelfall seine weitere Teilnahme als Vertragsarzt im System der gesetzlichen Krankenkassen auch nicht mehr für eine Übergangszeit zumutbar. Bei einer weiteren Teilnahme des Antragstellers an der vertragsärztlichen Versorgung ist zu befürchten, dass die Gesundheit der Patienten des Antragstellers konkret gefährdet ist. Dies muss insbesondere auch deshalb angenommen werden, weil der Antragsteller kein Unrechtsbewusstsein zeigt und auch nicht zu erkennen gibt, sein Dokumentations- und Abrechnungsverhalten für die Zukunft zu ändern. Anhaltspunkte, dass der Antragsteller in Zukunft entsprechend seiner Dokumentationspflichten Patientenaufzeichnungen führen wird, sind nicht ersichtlich.

Es besteht demnach ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Entziehung der Zulassung des Antragstellers (vgl. im Ergebnis auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.12.1993, Az. L 5 Ka 2141/93). Das Suspensivinteresse des Antragstellers hat hiergegen zurückzutreten.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung von § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.

 

Rechtskraft
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