S 20 U 92/18

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 20 U 92/18
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze

1. Es liegen bislang keine gesicherten medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse im Hinblick auf das Krankheitsbild einer "Non-Freezing Cold Injury" noch im Hinblick auf die Kausalität der diesbezüglich geklagten Symptomatik vor.

2. Die Anerkennung wie eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII stellt keine generelle Härtefallklausel dar. 
 


Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Die 1993 geborene Klägerin begehrt die Anerkennung einer chronischen Hypothermie bzw. einer „Non-Freezing Cold Injury“ („NFCI“) als Berufskrankheit (BK) nach § 9 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch – Gesetzliche Unfallversicherung – (SGB VII) bzw. „wie eine Berufskrankheit“ (Wie-Berufskrankheit – Wie-BK) nach § 9 Abs. 2 SGB VII.

Die Klägerin beantragte mit anwaltlichen Schreiben ihres späteren Prozessbevollmächtigten vom 02.10.2017 bei der Beklagten die Anerkennung einer Berufskrankheit und die Zahlung einer Verletztenrente (Bl. 1–2 d. Verwaltungsakte). Zur Begründung führte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin an, dass bei der Klägerin der Verdacht einer chronischen Hypothermie, auch als Non-Freezing Cold Injury bezeichnet, mit unterschiedlichsten Gesundheitsstörungen (z. B. ständiges Frieren, Erschöpfungszustände, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Herzbeschwerden, Atemnot, Krämpfe in den Beinen, bei Kälteexposition Taubheitsgefühle in den Händen, Blasenschwäche, Lymphödemen etc.) bestünde. Mehrfach sei es in ihrem Berufsleben zu Expositionen gegenüber Kälte und Feuchtigkeit gekommen, die ursächlich für eine Erkrankung mit NFCI seien. Die Klägerin gab hierzu an, dass sie seit 2012 als Zustellerin morgens ab 04.00 Uhr Zeitungen sowie Briefe austrage und hierbei besonders Nässe und Kälte ausgesetzt sei. 

Die Beklagte nahm daraufhin medizinische Ermittlungen auf und holte Befundberichte bei der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. med. D. vom 29.03.2018 und der Fachärztin für Allgemeinmedizin M. vom 02.05.2018 ein. Daraufhin forderte die Beklagte eine beratungsärztliche Stellungnahme bei Fachärztin für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Gesundheitsförderung und Prävention Dr. med. G. an. Die Beratungsärztin erstatte am 14.06.2018 die beratungsärztliche Stellungnahme (Bl. 40 f. d. Verwaltungsakte). Demnach handle es sich bei einem kältebedingten Gesundheitsschaden im Sinne einer NFCI um keine gelistete Berufskrankheit. Zudem seien auch vom ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten noch keine Vorprüfungen oder Beratungen zu diesem Krankheitsbild erfolgt. Eine erhöhte Gefährdung für kältebedingte Gesundheitsschäden lasse sich aus der medizinisch-wissenschaftlichen Literatur nur für Militärpersonal, Bergsteiger, Fischer oder Obdachlose, aber nicht für die Berufsgruppe der Zusteller ableiten.

Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 11.09.2018 lehnte die Beklagte die Anerkennung der klägerischen Erkrankung als Berufskrankheit nach § 9 Abs. 1 SGB VII und wie eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII ab (Bl. 52–53 d. Verwaltungsakte). Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass die Erkrankung der Klägerin nicht in der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV), der sog. „Berufskrankheitenliste“ („BK-Liste“) enthalten sei. Auch fehle es an gesicherten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen, wonach ein kältebedingter Gesundheitsschaden in Form einer NFCI durch besondere Einwirkungen wie Kälte und Feuchtigkeit, denen eine bestimmte Berufsgruppe aufgrund ihrer Arbeit in einem erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sei, verursacht werden könne. Folglich scheide ebenso eine Anerkennung wie eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII (sog. Wie-Berufskrankheit) aus.

Mit anwaltlichen Schreiben vom 21.09.2018 legte die Klägerin Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 11.09.2018 ein (Bl. 118–120 d. Verwaltungsakte). Zur Begründung führte der Prozessbevollmächtige aus, dass die Beklagte vor den Gefahren und möglichen Erkrankungen durch eine Berufstätigkeit an Kältearbeitsplätzen warne, diese Gefahren und Erkrankungen aber bei der Klägerin nicht ebenso berücksichtige.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.11.2018 zurück (Bl. 68–69 d. Verwaltungsakte). Die Beklagte vertiefte zur Begründung ihre im Ablehnungsbescheid gemachten Ausführungen. Ergänzend führte sie aus, dass der Nachweis der höheren Gefährdung einer bestimmten Berufsgruppe sich auf das allgemeine Auftreten der Krankheit beziehe und nicht auf die Verursachung durch die berufliche Tätigkeit selbst. Denn die Regelung des § 9 Abs. 2 SGB VII diene gerade nicht der Anerkennung jeder tätigkeitsbedingten Erkrankung, sondern nur solchen Krankheiten, deren Aufnahme in die BK-Liste aufgrund fehlenden oder unzureichenden – und nunmehr vorliegenden – medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen noch nicht möglich gewesen sei. Dies sei aber hinsichtlich kältebedingten Gesundheitsschäden bei der Berufsgruppe der Zusteller nicht der Fall.

Die Klägerin trägt vor, dass die Exposition gegenüber Feuchtigkeit und Kälte während ihrer beruflichen Tätigkeit als Zustellerin ursächlich für ihre bestehenden Gesundheitsstörungen sei und zur Entstehung einer chronischen Hypothermie bzw. NFCI geführt hätte.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
den Bescheid der Beklagten vom 11.09.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2018 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die chronische Hypothermie bzw. Non-Freezing Cold Injury der Klägerin als eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 1 SGB VI alternativ wie eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verteidigt die erlassenen Bescheide und verweist zur Begründung auf diese.

Mit Verfügung vom 18.01.2019 hat das Gericht die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angehört.

Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.


Entscheidungsgründe

Die Kammer konnte nach § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden. Die Sache weist keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf und der Sachverhalt ist geklärt. Die Kammer hat die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört. 

Die Klage ist zulässig, in der Sache jedoch unbegründet.

Der auf Aufhebung der Ablehnungsentscheidung der Beklagten und Verpflichtung der Anerkennung einer Berufskrankheit, alternativ wie eine Berufskrankheit gerichtete Klageantrag ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig (BSG, Urt. v. 05.06.2016 – B 2 U 5/15 R, BSGE 122, 1, Juris Rn. 10; Keller, in: Meyer-Ladewig/ Keller /Schmidt, SGG, Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 54 SGG Rn. 20b).

Der Bescheid der Beklagten vom 11.09.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2018 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 S. 1 SGG). Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf die begehrte Anerkennung einer Berufskrankheit (hierzu 1.) oder wie eine Berufskrankheit (hierzu 2.). Eine chronische Hypothermie bzw. NFCI stellen weder eine Berufskrankheit noch eine Wie-Berufskrankheit dar.

1.    Rechtsgrundlage für die Feststellung einer Berufskrankheit ist § 9 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch – Gesetzliche Unfallversicherung – (SGB VII) in Verbindung mit der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV). Gemäß § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als Berufskrankheiten bezeichnet (sog. Listen-BK) und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII wird die Bundesregierung ermächtigt, in der Rechtsverordnung – der BKV – solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind. 

Der Verordnungsgeber hat in der Anlage 1 zur BKV in der Fassung vom 29.06.2021 keine Krankheiten, die der Erkrankung der Klägerin entsprechen als Berufskrankheiten bezeichnet, sodass keine anzuerkennende Listen-BK vorliegt.

Non-Freezing Cold Injury (NFCI) bzw. im Deutschen auch teilweise mit chronische Hypothermie übersetzt, ist der moderne medizinische Sammelbegriff, welcher die Erkrankungen des (Schützen )Grabenfuß (sog. Trench foot) und sein nautisches Gegenstück, den Immersionsfuß (sog. Immersion foot) umfasst. Erstmal beobachtet wurde das Krankheitsbild der NFCI bei Militärangehörigen, bei denen es zu den häufigsten nicht kampfbedingten Verletzungen in kalten Umweltbedingungen gehört. Allerdings könne NFCI auch in der Allgemeinbevölkerung auftreten, insbesondere bei Freizeitbeschäftigungen wie Bergsteigen, Wandern in den Bergen, Tauchen oder Radfahren. Auch Personen, die unter unwirtlichen Umweltbedingungen arbeiten, z. B. in der Fischerei, der Landwirtschaft oder in Kühllagern usw., können von einer NFCI betroffen sein. Berichtet wird über das Auftreten der NFCI auch bei Obdachlosen und älteren Menschen (Eglin/Golden/Tipton, Extreme Physiology & Medicine (2013), Cold sensitivity test for individuals with non-freezing cold injury: the effect of prior exercise, 1, 1; Zafren, Vol. 18:10482, International Journal of Environmental Research and Public Health (2021), Nonfreezing Cold Injury (Trench Foot), 1, 3 – jeweils PubMed). Als Ursache für NFCI wird eine anhaltende Exposition über mehrere Stunden oder Tage gegenüber nassen, kalten, aber nicht gefrierenden Umweltbedingungen, d. h. im Allgemeinen bei Temperaturen von 0 bis 15 Grad Celsius, angenommen. Jedoch fehlen in der medizinischen Literatur gesicherte Erkenntnisse über die erforderliche Dauer und genauen Umstände der Kälteexposition, welche für die Entwicklung einer NFCI erforderlich sind. Generell wird in der medizinischen Literatur angenommen, dass es durch eine entsprechende Kälteexposition zu einer längeren Reduzierung der Durchblutung in den von der Kälteeinwirkung betroffen äußeren Körperteilen komme. Am häufigsten seien hierbei die Füße oder auch die Hände betroffen. Durch die entsprechende Kälteexposition sollen mikrovaskuläre und möglicherweise Schäden des peripheren Nervensystems verursacht werden. Daher werden bei der NFCI Verletzungen der Weichteile, Nerven und Gefäße der körperfernen Extremitäten als Folgen beschrieben. Einhergehend wird über anhaltende sensorische Symptome, schmerzhafte Wiedererwärmung nach entsprechender Kälteexposition, Restsymptome wie Überempfindlichkeit gegen Kälte und sensorische Neuropathie nach dem Wiedererwärmungsprozess berichtet (vgl. Zafren, Vol. 18:10482, International Journal of Environmental Research and Public Health (2021), 1, 1 ff.; Haman/Souza/Castellani/u.a., Vol. 9:2, Temperature (2022), Human vulnerability and variability in the cold: Establishing individual risks for cold weather injuries, 158, 162; Sullivan-Kwates/Tikuisis, Vol. 82:1, International Journal of Circumpolar Health (2023), Extremity cooling during an arctic diving training exercise, 1, 6; Logmann/Bron/Imray, 31:2 Wilderness & Environmental Medicine (2020), Nonfreezing Cold Injuries Among Long-Distance Polar Rowers, 209, 209 f.; Jin/Teng/Dia/u. a., Vol. 8:6, Military Medical Research (2020), 1, 2 ff.; House/Taylor/ Oakley, Vol. 65, Occupational Medicine (2015), Repeatability of a cold stress test to assess cold sensitization, 578, 579; Anand/Privitera/Yiangou/u. a., Vol. 8:514, Frontiers in Neurology (2017), Trench Foot or Non-Freezing Cold Injury as a painful Vaso-Neuropathy: Clinical and Skin Biopsy Assessments, 1, 2; Eglin/Golden/ Tipton, Vol. 2:16, Extreme Physiology & Medicine (2013), Cold sensitivity test for individuals with non-freezing cold injury: the effect of prior exercise, 1, 1 f.).

In der aktuell gültigen Fassung der Anlage 1 zur BKV sind weder die – zuvor beschriebenen – Erkrankungen einer chronischen Hypothermie bzw. einer NFCI, noch „Kälte-Nässe-Schäden der Hände oder Füße inklusive dem sog. (Schützen )Grabenfuß oder dem Immersionsfuß“ nach dem Diagnoseschlüssel ICD-10 T69.0 oder „nicht näher bezeichnete Schäden durch niedrige Temperatur“ nach T69.9 als BK-Tatbestände erfasst. Eine Anerkennung als Berufskrankheit nach § 9 Abs. 1 SGB VII in Verbindung mit der Anlage 1 zur BKV ist damit ausgeschlossen.

2.    Zutreffend hat die Beklagte neben der Anerkennung einer chronischen Hypothermie bzw. NCFI als Berufskrankheit nach § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII auch die Anerkennung wie eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII abgelehnt.

Gemäß § 9 Abs. 2 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die nicht in der BKV bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII erfüllt sind. Die Feststellung einer Wie-Berufskrankheit (Wie-BK) nach dieser Vorschrift ist u. a. vom Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen für die Bezeichnung der geltend gemachten Krankheit als Berufskrankheit nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen abhängig. Diese allgemeinen Voraussetzungen sind erfüllt, wenn bestimmte Personengruppen infolge einer versicherten Tätigkeit nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt sind, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft eine Krankheit hervorrufen (BSG, Urt. vom 18.06.2013 – B 2 U 6/12 R, SozR 4-2700 § 9 Nr. 22, Juris Rn. 15; LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 27.04.2023 – L 21 U 231/19, Juris Rn. 31).

Mit der Regelung des § 9 Abs. 2 SGB VII soll indes nicht in der Art einer „Generalklausel“ erreicht werden, dass jede Krankheit, deren ursächlicher Zusammenhang mit der Berufstätigkeit im Einzelfall nachgewiesen oder wahrscheinlich ist, wie eine Berufskrankheit zu entschädigen ist. Vielmehr erfordert die Feststellung einer Wie-Berufskrankheit nach dem Wortlaut der Vorschrift neben der Kausalität im konkreten Einzelfall auch das Vorliegen derselben materiellen Voraussetzungen, die der Verordnungsgeber für die Aufnahme einer Erkrankung in die Liste zu beachten hat, also die Feststellung eines generellen Ursachenzusammenhangs (BSG, Urt. v. 18.06.2013 – B 2 U 6/12 R, SozR 4-2700 § 9 Nr. 22, Juris Rn. 15 ff.; Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, Juris Rn. 19 ff.). Denn mit der Regelung des § 9 Abs. 2 SGB VII sollen Krankheiten zur Entschädigung gelangen, die nur deshalb nicht in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen wurden, weil die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die besondere Gefährdung bestimmter Personengruppen durch ihre Arbeit bei der letzten Fassung der Anlage 1 zur BKV (§ 9 Abs. 1 SGB VII) noch nicht vorhanden waren oder trotz Nachprüfung noch nicht ausreichten (BSG, Urt. v. 18.06.2013 – B 2 U 6/12 R, Juris Rn. 18.; Urt. v. 13.02.2013 – B 2 U 33/11 R, Juris Rn. 18). Das Erfordernis eines generellen Ursachenzusammenhangs für die Anerkennung einer Wie-Berufskrankheit bzw. das Vorliegen wissenschaftlich gesicherter Kausalbeziehungen ist im Übrigen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BSG, Urt. 18.06.2013 – B 2 U 6/12 R, Juris Rn. 23 ff.).

Die Feststellung einer Wie-Berufskrankheit ist somit davon abhängig, dass eine Krankheit innerhalb einer bestimmten Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftritt als bei der übrigen Bevölkerung, was nachzuweisen ist durch die Analyse einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige zeitliche Überwachung der Krankheitsbilder. Mit wissenschaftlichen Methoden und Überlegungen muss zu begründen sein, dass bestimmte Einwirkungen die generelle Eignung besitzen, eine bestimmte Krankheit zu verursachen. Erst dann lässt sich anhand von gesicherten „Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft" i. S. d. § 9 Abs. 2 SGB VII nachvollziehen, dass die Ursache für die Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liegt. Solche Erkenntnisse setzen regelmäßig voraus, dass die Mehrheit der medizinischen Sachverständigen, die auf dem jeweils in Betracht kommenden Fachgebiet über besondere Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, zu derselben wissenschaftlich fundierten Meinung gelangt ist. Es ist nicht erforderlich, dass diese Erkenntnisse die einhellige Meinung aller Mediziner widerspiegeln. Andererseits reichen vereinzelte Meinungen einiger Sachverständiger grundsätzlich nicht aus (BSG, Urt. v. 18.06.2013 – B 2 U 6/12 R, Juris Rn. 17; Urt. v. 04.06.2002 – B 2 U 20/01 R, Juris Rn. 22; LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 27.04.2023 – L 21 U 231/19, Juris Rn. 32).

An solchen für die Anerkennung einer Wie-Berufskrankheit notwendigen gesicherten medizinisch-wissenschaftlichen oder epidemiologischen Erkenntnissen in Bezug auf den Zusammenhang zwischen einer etwaigen Exposition der Berufsgruppe der Zusteller und einer NFCI oder einer chronischen Hypothermie fehlt es jedoch. Insbesondere hat sich der Ärztliche Sachverständigenbeirat „Berufskrankheiten“ beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales, dessen Aufgabe die Sichtung und Bewertung des wissenschaftlichen Erkenntnisstands im Hinblick auf die Aktualisierung bestehender oder die Aufnahme neuer Berufskrankheiten in die Anlage 1 zur BKV ist, hat sich mit der Frage einer „NFCI“ als Berufskrankheit durch das Arbeiten in Kältebereichen oder mit der Frage einer speziellen Berufskrankheit für Zusteller bisher nicht befasst. Ein derartiges Thema gehört nicht zu den Themen, die aktuell vom Sachverständigenbeirat geprüft werden (vgl. die entsprechende Homepage des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales – Ärztlicher Sachverständigenbeirat „Berufskrankheiten“, https://www.bmas.de/DE/Soziales/Gesetzliche-Unfallversicherung/Aerztlicher-Sachverstaendigenbeirat/aerztliche-sachverstaendigenbeirat.html, abgerufen am 22.01.2024).

Die zur Anerkennung einer Wie-Berufskrankheit notwendigen gesicherten Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft zum Zusammenhang zwischen den beruflichen Tätigkeiten der Zustellerin und einer NFCI oder einer chronischen Hypothermie liegen auch nach den Ermittlungsergebnissen der Kammer auf der Grundlage der – bereits angeführten – medizinischen Literatur nicht vor. Insbesondere ergibt sich auch aus dem ärztlichen Bericht von Dr. med. D. vom 11.11.2017 keine gesicherten medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse für eine Ursächlichkeit der beruflichen Tätigkeit der Klägerin für eine Erkrankung an einer NFCI. So gibt die behandelnde Ärztin selbst an, dass zur Erkrankung der NFCI kaum Publikationen vorliegen und empfiehlt eine Anbindung der Klägerin an ein spezialisiertes Zentrum zwecks Erforschung der zugrundeliegenden Pathophysiologie und zur Evaluierung von Therapieoptionen in klinischen Studien.

Insgesamt fehlt damit die für eine Anerkennung als Wie-BK erforderliche sog. BK-Reife. Der Versicherungsfall einer Wie-BK tritt aber erst zu dem Zeitpunkt ein, zu dem sich tatsächlich neue Erkenntnisse über die arbeitsbedingte Verursachung einer bestimmten Erkrankung zur BK-Reife verdichtet haben (vgl. BSG, Urt. v. 13.02.2013 – B 2 U 33/11 R, Juris Rn. 18). 

Auch Billigkeitserwägungen führen zu keinem anderen Ergebnis. Die Anerkennung wie eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII ist nicht als generelle Härteklausel zu verstehen, nach der bereits deshalb zu entschädigen wäre, wenn die Nichtentschädigung für den Betroffenen eine individuelle Härte bedeuten würde (vgl. BSG, Urt. v. 23.06.1977 – 2 RU 53/76, BSGE 44, 90, Juris Rn. 20; Urt. v. 30.01.1986 – 2 RU 80/84, BSGE 59, 297, Juris Rn. 13). 

Nach alledem haben sich die angefochtenen Bescheide der Beklagten als rechtmäßig erwiesen und die Klage war daher abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.

Die Rechtsmittelbelehrung folgt aus §§ 143, 144 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
Saved