L 22 R 157/22

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
22
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 5 R 689/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 22 R 157/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

§ 102 Abs. 6 SGB VI i.d.F. ab 22.04.2015 berechtigt die Träger der Rentenversicherung auch zur Feststellung eines Todeszeitpunkts vor dem Inkrafttreten der Vorschrift.

 

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin 17. März 2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

 

Die Klägerin, vertreten durch ihren Abwesenheitspfleger, wendet sich gegen die Feststellung eines rückwirkenden Todestages für die seit dem 11. August 2006 vermisste Klägerin mit der Folge des Wegfalles ihrer Altersrente mit Ablauf des Monats August 2006.

 

Die im Jahr 1940 geborene Klägerin bezog von der Beklagten bis zum Jahr 2018 eine Altersrente. Am 11. August 2006 verließ die Klägerin ihre Familie; seitdem ist sie polizeilich als vermisst gemeldet. Ihr Ehemann und ihre Kinder haben seitdem kein Lebenszeichen mehr von ihr erhalten. Sie hinterließ einen handschriftlichen Brief an ihre beiden Kinder mit folgendem Inhalt: „B und I, ich liebe Euch von ganzem Herzen und ich lade große Schuld auf mich. Aber bitte seid nicht traurig. Ich habe Alzheimer, ich bin mir ganz sicher, und ich möchte Euch Elend, Not und Hilflosigkeit ersparen, wenn ich den Weg allein zu Ende gehen muss. Gott segne Euch. M."

 

Im November 2011 teilte der Ehemann der Klägerin der Beklagten mit, dass das Konto, auf das die Altersrente der Klägerin bislang ausgezahlt werde, gekündigt worden sei. Er gehe fest davon aus, dass seine Frau lebe, auch wenn er kein Lebenszeichen von ihr erhalten habe. Der Beklagten lagen ein Schreiben der Polizei Berlin von August 2011 sowie eine Mitteilung der gesetzlichen Krankenversicherung der Klägerin von Dezember 2011 vor, wonach diese weiterhin vermisst sei bzw. keine Abrechnungen über Arztbesuche oder Arzneimittelverschreibungen seit dem 11. August 2006 vorlägen. Die 2011 zwischenzeitlich eingestellte Rentenzahlung nahm die Beklagte im November 2012 nach einem Schreiben der Polizei Berlin von September 2012 im November 2012 wieder auf, wonach der „Abschiedsbrief" keine eindeutige Interpretation der Pläne der Klägerin („Suizid oder Aufbau eines neuen Lebens ohne ihre Familie") zulasse.

 

Im Jahr 2018 stellte die Beklagte aufgrund zwischenzeitlich veränderter Rechtslage erneute Ermittlungen zum Verbleib der Klägerin an. Der Sohn der Klägerin teilte dabei auf Anfrage mit, dass sich keine neuen Erkenntnisse über den Verbleib seiner Mutter ergeben hätten und dass kein Antrag auf Todeserklärung nach § 3 des Verschollenheitsgesetzes (VerschG) gestellt worden sei.

Mit Bescheid vom 24. Juli 2018, adressiert an den Sohn der Klägerin als ihrem bestellten Abwesenheitspfleger, stellte die Beklagte unter Bezugnahme auf § 102 Abs. 6 i.V.m. § 49 SGB VI den 11. August 2006 als Todestag der Klägerin für die gesetzliche Rentenversicherung fest. Zur Begründung führte sie aus, dass der Tod der Klägerin überwiegend wahrscheinlich sei, da diese seit dem genannten Datum polizeilich als vermisst gelte und inzwischen bereits das 77. Lebensjahr vollendet hätte. Der Rentenanspruch entfalle mit Ablauf des Monats August 2006, ein Rückforderungsanspruch werde geprüft. Die Überzahlung für die Zeit von September 2006 bis August 2018 betrage mehr als 142.000 Euro.

 

Als Abwesenheitspfleger legte der Sohn der Klägerin hiergegen Widerspruch ein und führte aus, es bestünden keine ernstlichen Zweifel am Fortleben der Klägerin, die bei ihrem Verschwinden erst 66 Jahre alt gewesen und über deren Gesundheitszustand nichts bekannt sei, was für eine geringere Lebenserwartung spreche. Fehlende Lebenszeichen könnten darauf zurückzuführen sein, dass die Klägerin sich für einen Kontaktabbruch entschieden habe, um ihr Leben alleine fortzusetzen. Es seien weder suizidale Absichten bekannt, noch sei ihr Leichnam gefunden worden. Allenfalls komme eine Anwendung des VerschG in Betracht.

 

Im Widerspruchsverfahren teilte die Polizei Berlin im August 2018 mit, dass die Klägerin weiterhin vermisst gemeldet sei und keinerlei Erkenntnisse zu ihrem Verbleib vorlägen. Die Krankenkasse der Klägerin gab im Oktober 2018 nochmals an, dass seit dem 11. August 2006 keine Leistungen abgerechnet worden seien.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 2019 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und vertrat unter Bezugnahme auf § 49 SGB VI die Auffassung, dass der mutmaßliche Tod der Klägerin zum 11. August 2006 festzustellen sei, da die Klägerin mindestens seit einem Jahr verschollen sei und die vorliegenden Umstände deren Tod wahrscheinlich machten.

 

Dagegen hat der Abwesenheitspfleger der Klägerin am 19. März 2019 Klage zum Sozialgericht Berlin erhoben und unter Wiederholung und Vertiefung des Vorbringens im Widerspruchsverfahren ausgeführt, dass mehr dafürspreche, dass die Klägerin lebe, als dass sie tot sei. Der Abschiedsbrief beinhalte keinerlei Anhaltspunkte für einen Suizid. Näher liege der Schluss, dass die Klägerin ihre Familie freiwillig verlassen habe, um ihr nicht zur Last zu fallen. Ein Gewaltverbrechen sei nicht festgestellt worden und die Klägerin sei als praktizierende Katholikin bekannt gewesen, für die ein Freitod eine Sünde darstellen würde.

 

Das Sozialgericht hat am 8. Oktober 2020 mit den Beteiligten einen Erörterungstermin durchgeführt, in dem der Sohn und Abwesenheitspfleger Angaben zum Sachverhalt gemacht hat. Auf den Inhalt des Protokolls wird insoweit verwiesen.

 

Mit Urteil vom 17. März 2022 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass die Feststellung des Todestags der Klägerin nach § 102 Abs. 6 SGB VI i.V.m. mit § 49 SGB VI rechtmäßig sei. Nach § 102 Abs. 6 SGB VI würden Renten an Verschollene längstens bis zum Ende des Monats geleistet, in dem sie nach Feststellung des Rentenversicherungsträgers als verstorben gelten; § 49 gelte entsprechend. Hieran gemessen sei die Feststellung des Todestages - als gerichtlich voll überprüfbare Tatsachenfeststellung - rechtlich nicht zu beanstanden. Die Klägerin sei i.S.v. § 1 VerschG verschollen, denn es seien seit über einem Jahr keine Nachrichten über ihr Leben eingegangen und die vorliegenden Umstände machten ihren Tod wahrscheinlich. Der Aufenthalt der Klägerin sei seit dem 11. August 2006 unstreitig unbekannt. Es lägen keine Nachrichten darüber vor, ob sie seitdem noch lebe oder gestorben sei. Nach den Umständen würden dadurch auch ernstliche Zweifel an ihrem Fortleben begründet. Die Klägerin würde nunmehr bereits seit über 15 Jahren vermisst und wäre inzwischen über 80 Jahre alt. Über ihre Krankenversicherung seien keine ärztlichen Behandlungen oder Medikamentenverschreibungen mehr abgerechnet worden; Lebenszeichen von ihr hätten ihr Ehemann und ihre Kinder seitdem nicht erhalten. Damit bestünden aus Sicht der Kammer mindestens ernstliche Zweifel an ihrem Fortleben. Die Kammer sei auch der Überzeugung, dass die Umstände den Tod der Klägerin wahrscheinlich machten. Wahrscheinlich sei der Tod, wenn bei vernünftiger Abwägung die für den Tod sprechenden Erwägungen so stark überwiegen, dass die dagegensprechenden für die Bildung und Rechtfertigung der Überzeugung ausscheiden. Die bloße Möglichkeit des Todes genüge nicht, sondern vom Tod einer verschollenen Person könne nur ausgegangen werden, wenn sich aus konkreten Tatsachen bei vernünftiger Abwägung aller Umstände des Einzelfalles und unter Berücksichtigung der Lebenswirklichkeit der berechtigte Schluss auf dessen Ableben ergebe. Nach diesem Maßstab gehe das Gericht von der Wahrscheinlichkeit des Todes aus. Dabei lasse sich auch aus Sicht der Kammer der Abschiedsbrief verschieden deuten: Die Klägerin könnte darin ihre anstehende Selbsttötung angekündigt haben, es sei aber auch möglich, dass sie damit lediglich ihr Verschwinden aus der Familie in ein unbekanntes neues Leben ankündigen wollte. Die Gesamtumstände des Falls ließen aber hier den Schluss zu, dass die denkbare Alternative eines geheimen Lebens an einem unbekannten Ort zu vernachlässigen seien und die für den Tod sprechenden Erwägungen stark überwiegen. Das Lebensalter der Klägerin, der sehr lange verstrichene Zeitraum ohne Lebenszeichen, die fehlende registrierte medizinische Versorgung und die Angaben des Sohns der Klägerin über die intensiven Suchbemühungen der Familie sprächen insgesamt dafür, dass das Fortleben zwar eine Möglichkeit sei, aber eine sehr unwahrscheinliche. Eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit des Todes bestehe aus Sicht der Kammer nicht, sei aber auch nicht erforderlich.

 

Hiergegen wendet sich der Abwesenheitspfleger der Klägerin mit seiner am 8. April 2022 zum Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingelegten Berufung mit der bereits im Widerspruchsverfahren vorgebrachten und im erstinstanzlichen Klageverfahren wiederholten Begründung. Darüber hinaus trägt er vor, dass der Schluss, dass die Klägerin seit dem Tag ihres Verschwindens nicht mehr am Leben sei, nicht überzeugend bzw. zwingend sei.

 

Der Abwesenheitspfleger der Klägerin beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. März 2022 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. Juli 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2019 aufzuheben. Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf die angefochtene Entscheidung.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen. Diese haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

 

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhobene Berufung ist zulässig.

Die Klagebefugnis der Klägerin, vertreten durch ihren Abwesenheitspfleger, ist gegeben.

Die Berufung hat keinen Erfolg. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 24. Juli 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG).

Statthafte Klageart ist die Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG). Mit der Beseitigung des angefochtenen Bescheides entfaltet der Bescheid über die Rentenbewilligung wieder Wirkung. Eine zusätzliche Verurteilung auf Gewährung von Leistungen mittels Leistungsklage ist entbehrlich.

Der Bescheid ist formell rechtmäßig. Vor Erlass des Bescheids über die Feststellung des maßgeblichen Todestages nach § 102 Abs. 6 Satz 1 SGB VI bedarf es keiner Anhörung nach § 24 Abs. 2 Nr. 3 SGB X , da der Bescheidadressat (zum Beispiel der Abwesenheitspfleger oder ein Vertreter von Amts wegen) von Anfang an in die Ermittlungen zur Feststellung der Verschollenheit einbezogen war und der Zweck des rechtlichen Gehörs durch die eigenen Angaben im Verfahren erfüllt ist (vgl. Kador, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 102 SGB VI [Stand 12. Juni 2023], Rn. 44). Im Übrigen wäre ein etwaiger Anhörungsmangel (§ 24 Abs. 1 SGB X) im Widerspruchsverfahren mit den Verfahrensmangel heilender Wirkung nachgeholt worden (§ 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X).

 

Der Bescheid ist auch materiell rechtmäßig.

 

Gemäß  § 102 Abs. 6 Satz 1 SGB VI  in der Fassung vom 15. April 2015 werden Renten an Verschollene längstens bis zum Ende des Monats geleistet, in dem sie nach Feststellung des Rentenversicherungsträgers als verstorben gelten; § 49 gilt entsprechend. Danach kann der Rentenversicherungsträger den mutmaßlichen Todeszeitpunkt des Verschollenen wie nach § 49 SGB VI feststellen und die Rentenzahlung beenden. Durch die Regelung wird ein Gleichklang bei der Festlegung des Todesdatums für die Hinterbliebenenrente und die Einstellung der Versichertenrente erreicht (BT-Drs. 18/3699, S. 37).

Aus § 49 Satz 3 SGB VI folgt das Recht der Beklagten, als sogenannte Elementenfeststellung den für die Rentenleistung maßgeblichen Todestag isoliert durch Verwaltungsakt festzustellen.

Gemäß § 49 S. 1 SGB VI gelten Ehegatten, die verschollen sind, als verstorben, wenn die Umstände ihren Tod wahrscheinlich machen und seit einem Jahr Nachrichten über ihr Leben nicht eingegangen sind. Dies ist vorliegend der Fall. Die Klägerin ist verschollen.

Nach § 1 Abs. 1 VerschG ist verschollen, wessen Aufenthalt während längerer Zeit unbekannt ist, ohne dass Nachrichten darüber vorliegen, ob er in dieser Zeit noch gelebt hat oder gestorben ist, sofern nach den Umständen hierdurch ernstliche Zweifel an seinem Fortleben begründet werden. Ernstliche Zweifel bestehen dann, wenn Leben und Tod bei vernünftiger Betrachtungsweise gleichermaßen ungewiss sind und über das Schicksal des Betreffenden keine Nachrichten zu erlangen sind, obwohl sie nach Lage des Falles zu erwarten gewesen wären (Reyels, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 49 SGB VI [Stand 11. Juli 2023], Rn. 31f).

Die Klägerin hat am 11. August 2006 ihre Wohnung verlassen und ist seit diesem Zeitpunkt nicht mehr aufgetaucht. Sie hat sich weder bei ihrem Ehemann, ihren Kindern, noch bei anderen Verwandten gemeldet und es sind auch keine anderen Lebenszeichen von ihr seitdem eingegangen. In Anbetracht des Alters der Klägerin, ihrer familiären Bindungen zu ihrem Ehemann und ihren Kindern und der Tatsache, dass sie vor ihrem Verschwinden dauerhaft in ehelicher Gemeinschaft gelebt hat, wären Nachrichten von der Klägerin bzw. über ihr Schicksal zu erwarten gewesen. Daher bestehen ernstliche Zweifel an ihrem Fortleben, so dass sie gemäß § 1 Abs. 1 VerschG verschollen ist.

Zusätzlich zur Verschollenheit müssen für die Fiktion nach § 49 S. 1 SGB VI die Umstände den Tod wahrscheinlich machen. Das trifft zu, wenn bei vernünftiger Abwägung die für den Tod sprechenden Erwägungen überwiegen.

Auch diese Voraussetzung ist gegeben: Die Klägerin selbst hat weder Rentenleistungen in Anspruch genommen noch nach Auflösung ihres Girokontos bei der Beklagten Erkundigungen über den Verbleib der Zahlungen eingeholt, noch hat sie Leistungen ihrer Krankenversicherung nach ihrem Verschwinden am 11. August 2006 in Anspruch genommen, obwohl sie glaubte, an Alzheimer erkrankt zu sein. Diese Indizien lassen einen (erfolgreichen) Suizid als wahrscheinlich erscheinen. Zudem konnte im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen kein Lebenszeichen von der Klägerin erlangt werden.

Auch die nach § 49 S. 1 SGB VI weitere Voraussetzung des Ausbleibens von Nachrichten seit einem Jahr zusätzlich zu den Umständen, die den Tod wahrscheinlich machen, liegt vor. Seit dem 11. August 2006 ist keine Nachricht mehr von der Klägerin eingegangen.

Gemäß § 49 SGB VI festzustellen ist der nach dem Ergebnis der Ermittlungen wahrscheinlichste Zeitpunkt des Todes. Dies kann nicht nur ein bestimmter Tag, sondern auch das Ende eines Zeitraums, der sich über mehrere Tage oder Wochen erstreckt, sein. Es handelt sich dabei um eine Tatsachenfeststellung, deren Richtigkeit nicht nur von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nachgeprüft, sondern die von ihnen auch nachgeholt werden kann (BSG, Urteil vom 4. Juli 1957 - 4 RJ 74/56 - zu den Vorgängervorschriften der Reichsversicherungsordnung).

Es dürften zwar Zweifel bestehen, ob es sich bei dem von der Beklagten festgestellten mutmaßlichen Todestag, dem 11. August 2006, um den wahrscheinlichsten Zeitpunkt des Todes der Klägerin handelt. Jedenfalls ist aber davon auszugehen, dass der Tod der Klägerin am 11. August 2006 bzw. spätestens in den Tagen nach ihrem Verschwinden ab dem 11. August 2006 eingetreten ist. Die zum Zeitpunkt ihres Verschwindens 66-jährige hat seit ihrem Verschwinden am 11. August 2006 - nach den Auskünften ihrer Krankenversicherung - offensichtlich keinen Arzt mehr in Anspruch genommen, sich bei keinem Verwandten mehr gemeldet und wurde von niemandem mehr gesehen.

Die genaue Festlegung des mutmaßlichen Todestags kann aber dahinstehen, da die Wirkung des § 102 Abs. 6 SGB VI "Einstellung der Rente" erst mit dem Ablauf des Monats, in dem der Verschollene als verstorben gilt, eintritt, d.h. hier mit dem Ablauf des Monats August 2006.

Die Feststellung des mutmaßlichen Todestages durfte auch rückwirkend mit der Folge der rückwirkenden Einstellung der Rente erfolgen. Der entscheidende § 102 Abs. 6 SGB VI wurde zwar erst durch Gesetz zum 15. April 2015 eingeführt. § 300 Abs. 1 SGB VI bestimmt jedoch entsprechend allgemeinen und verfahrensrechtlichen Grundsätzen über den zeitlichen Geltungsbereich gesetzlicher Vorschriften, dass neues Recht vom Zeitpunkt des Inkrafttretens an unabhängig davon anzuwenden ist, ob der betreffende Sachverhalt oder Anspruch vor oder nach dessen Inkrafttreten entstanden ist. Die Grundsatznorm des § 300 Abs. 1 SGB VI stellt eine Abkehr vom Versicherungsfallprinzip dar (vgl. BSG, Urteil vom 30. Oktober 1997 - B 13 RJ 3/97). Wenn mit § 300 Abs. 1 SGB VI neue Vorschriften vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an auch auf bereits bestehende Ansprüche anzuwenden sind, so ist diese Regelung dahin zu verstehen, dass ein Rechtsanwender das neue Recht grundsätzlich immer dann und in vollem Umfang (also auch für Zeiten vor seiner Geltung) heranzuziehen hat, wenn nach dem Inkrafttreten eine rentenversicherungsrechtliche Entscheidung zu treffen ist (vgl. BSG a.a.O., Rn. 25 zitiert nach juris; vgl. auch BayLSG, Urteil vom 6. September 2018 - L 14 R 698/17, Rn. 44 - 46 zitiert nach juris).

Daher ist die Feststellung des mutmaßlichen Todeszeitpunkts als anspruchsvernichtende Einrede mit der Wirkung des Entfallens des Rentenanspruchs der Klägerin gemäß § 102 Abs.6 SGB VI auch mit Wirkung vor dem Inkrafttreten des § 102 Abs. 6 SGB VI möglich, so dass die Rentenzahlung mit Wirkung ab September 2006 beendet werden durfte.

Durch die Anwendung des § 102 Abs. 6 SGB VI wird die Klägerin auch nicht in ihren verfassungsmäßigen Rechten verletzt. § 102 Abs. 6 Satz 3 SGB VI  stellt klar, dass der Anspruch auf die Rente wiederauflebt, wenn Verschollene zurückkehren. Damit scheidet auch eine Verletzung des - grundsätzlich gegenüber Art. 14 Abs. 1 GG subsidiären - rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes aus.

Die Kostenentscheidung (§ 193 SGG) berücksichtigt, dass die Klägerin auch im Berufungsverfahren nicht erfolgreich gewesen ist.

Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.

Rechtskraft
Aus
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