L 9 AS 316/22

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 116 AS 1872/21
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 AS 316/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Österreichische Staatsangehörige können sich gegenüber dem Leistungsausschluss aus § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 2 Abs. 1 DÖFA (juris: FürsAbk AUT) berufen. 

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 3. März 2022 aufgehoben, soweit der Beklagte verurteilt wurde, dem Kläger Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1. September 2021 bis zum 31. August 2022 zu bewilligen. Insoweit wird die Klage abgewiesen.

 

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

 

Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zur Hälfte zu erstatten. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.

 

Die Revision wird für den Beklagten zugelassen.

 

 

 

 

 

Tatbestand

 

Der Kläger begehrt die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) im Rahmen einer Bedarfsgemeinschaft für den Zeitraum vom 10. Oktober 2020 bis zum 31. August 2022.

 

Der  geborene Kläger ist Staatsangehöriger der Republik Österreich. Er hält sich seit September 2018 in der Bundesrepublik Deutschland auf und war im streitigen Zeitraum erwerbsfähig. Von November 2018 bis zum 31. August 2019 war er bei einem Unternehmen in P im Verkauf tätig. Vom 13. September 2019 bis zum 1. September 2020 war der Kläger in P mit einem Lebensmittelhandel selbständig tätig.

 

Auf den Kläger waren im streitigen Zeitraum bis zum 1. April 2021 ein BMW 525D mit einer Erstzulassung im Jahr 2005 und einem Kilometerstand im März 2021 von 338.012 Kilometer und ab Juli 2021 ein BMW 323l mit einer Erstzulassung im Jahr 1998 und einem Kilometerstand am 27. April 2020 von 252.551 Kilometer zugelassen. In der Zeit ab September 2021 waren auf ihn ebenfalls ältere Fahrzeuge mit hohem Kilometerstand zugelassen. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 128-141 der Gerichtsakte verwiesen.

 

Am 10. Oktober 2020 zog der Kläger zu seiner  geborenen Partnerin und deren  geborenem Sohn in die im Rubrum angegebene Mietwohnung. Die Partnerin und ihr Sohn waren im streitigen Zeitraum ebenfalls erwerbsfähig. Die laufenden Mietkosten für die gemeinsame Wohnung betrugen im streitigen Zeitraum insgesamt 662,94 Euro. Davon entfielen 192,33 Euro auf Betriebskosten und 75,14 Euro auf Heizkosten.

 

Der Partnerin und ihrem Sohn hatte der Beklagte zuvor mit Bescheid vom 5. Oktober 2020 Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1. August 2020 bis zum 31. Juli 2021 in Höhe von 1.439,94 Euro monatlich bewilligt.

 

Der Kläger beantragte im Oktober 2020 als weiteres Mitglied der Bedarfsgemeinschaft ebenfalls Leistungen nach dem SGB II. Er gab an, kein Einkommen zu haben. Als Vermögen gab er sein damaliges Fahrzeug an. 

 

Mit Schreiben vom 30. Oktober 2020 forderte der Vermieter Heiz- und Betriebskosten in Höhe von 1.424,53 Euro nach und bat um Überweisung dieses Betrags bis zum 4. Januar 2021.

 

Mit Änderungsbescheid vom 1. Dezember 2020 berücksichtigte der Beklagte die Aufnahme des Klägers in die Bedarfsgemeinschaft sowie die Betriebskostennachforderung bei den Leistungen an seine Partnerin und deren Sohn. Er bewilligte seiner Partnerin den Regelsatz für Partner und ihr und ihrem Sohn insgesamt zwei Drittel der Unterkunftskosten für die Zeit vom 1. November 2020 bis zum 31. Juli 2021. Von der Betriebskostennachforderung berücksichtigte er im Januar 2021 ebenfalls nur zwei Drittel. Hinsichtlich des Klägers wies der Beklagte im Bescheid darauf hin, dass dessen Anspruch noch geklärt werden müsse.

 

Mit Schreiben vom 22. Januar 2021 teilte die Bundesagentur für Arbeit in Bezug auf die selbständige Tätigkeit des Klägers bis September 2020 mit, dass die unfreiwillige Arbeitslosigkeit i.S.d. § 2 Abs. 3 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) nicht bestätigt werde.

 

Der Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Leistungen in der Bedarfsgemeinschaft durch Bescheid vom 1. Februar 2021 mit der Begründung ab, dass dieser lediglich über ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitssuche verfüge.

 

Dagegen erhob der Kläger am 15. Februar 2021 Widerspruch. Er wies darauf hin, österreichischer Staatsbürger zu sein.

 

Der Sohn der Partnerin gab unter dem 15. Februar 2021 an, dass er in den Monaten Dezember 2020 bis Mai 2021 voraussichtlich einen Gewinn in Höhe von insgesamt 1.730 Euro aus einer selbständigen Tätigkeit erzielen werde.

 

Mit Bescheid vom 26. Februar 2021 hob der Beklagte die Entscheidungen über die Bewilligung von SGB II-Leistungen ab dem 1. März 2021 auf und bewilligte der Partnerin und deren Sohn vorläufig Leistungen in Höhe von 942,10 Euro für die Zeit vom 1. März 2021 bis zum 30. April 2021 (unter Berücksichtigung des Partnerregelsatzes, einer Sanktion beim Sohn in Höhe von 107,10 Euro monatlich und eines bereinigten Einkommens des Sohnes in Höhe von 150,76 Euro monatlich) und in Höhe von 1.049,20 Euro für die Zeit vom 1. Mai 2021 bis zum 31. August 2021 (unter Berücksichtigung des Partnerregelsatzes und eines bereinigten Einkommens des Sohnes in Höhe von 150,76 Euro monatlich).

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 1. März 2021 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Ablehnungsbescheid vom 1. Februar 2021 zurück. Das Aufenthaltsrecht des Klägers ergebe sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche. Er sei daher nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Diese Vorschrift sei nicht wegen Art. 2 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege vom 17. Januar 1966 (DÖFA) unanwendbar. Denn die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II seien keine Fürsorgeleistungen im Sinne dieses Abkommens.

 

Am 16. März 2021 hat der Kläger gegen den Bescheid vom 1. Februar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2021 Klage zum Sozialgericht Berlin erhoben.

 

Am 14. Juli 2021 hat die Partnerin des Klägers unter Verwendung des entsprechenden Vordrucks des Beklagten die Weiterbewilligung von Leistungen ab September 2021 beantragt. Im Abschnitt 2. des Vordrucks hat sie als weitere Person im Haushalt den Kläger angegeben.

 

Mit Bescheid vom 27. August 2021 hat der Beklagte der Partnerin des Klägers und deren Sohn SGB II-Leistungen unter Berücksichtigung des Partnerregelsatzes und von zwei Dritteln der Unterkunftskosten für die Zeit ab dem 1. September 2021 bis August 2022 bewilligt. Hinsichtlich des Leistungsanspruchs des Klägers hat der Beklagte in dem Bescheid darauf hingewiesen, dass die Entscheidung des Sozialgerichts abzuwarten bleibe. 

 

Der Kläger hat zur Begründung seiner Klage geltend gemacht: Für österreichische Staatsangehörige bestehe ein Gleichbehandlungsanspruch auf Fürsorge und Wohlfahrtspflege wie bei deutschen Staatsbürgern. Daher bestehe auch ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Darüber hinaus folge sein Leistungsanspruch aus der seit Ende Mai 2020 bestehenden Lebenspartnerschaft und beabsichtigten Heirat.

 

Er hat im Klageverfahren darüber hinaus vorgetragen, nicht auf Arbeitssuche zu sein. Er habe keine Bewerbung geschrieben. Seine wirtschaftlichen Verhältnisse seien immer gleich. Er sei aus familiären Gründen nach Berlin gekommen.

 

Der Kläger hat vor dem Sozialgericht beantragt,

 

den Bescheid vom 1. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2021 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, Leistungen nach dem SGB II ab Antragstellung zu gewähren. 

 

Der Beklagte hat vor dem Sozialgericht beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 3. März 2022 den Bescheid vom 1. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2021 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger Leistungen nach dem SGB II ab dem 10. Oktober 2020 bis einschließlich August 2022 dem Grunde nach zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt: Im Juli 2021 habe die Partnerin für die Bedarfsgemeinschaft die Weiterbewilligung der Leistungen nach dem SGB II beantragt. Gegenstand des Rechtsstreits seien die Ansprüche des Klägers auf laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende im Zeitraum 10. Oktober 2020 bis August 2022, weil der Beklagte mit Bescheid vom 1. Februar 2021 den Leistungsantrag ab Oktober 2020 abgelehnt habe und sich mit Bescheid vom 27. August 2021 für den Leistungszeitraum bis einschließlich August 2022 auf die angefochtene Ablehnungsentscheidung vom 1. Februar 2021 berufe. Ein Grundurteil sei möglich, da der Anspruchsgrund, nicht aber die Höhe der Leistungen streitig sei. Die Klage sei begründet. Der Kläger habe einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ab dem 10. Oktober 2020, denn er lebe seit diesem Tag in der Bedarfsgemeinschaft mit seiner Partnerin und habe im Oktober 2020 Leistungen beantragt. Er sei nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2b SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 DÖFA stehe einem Ausschluss österreichischer Staatsbürger von Leistungen nach dem SGB II entgegen. Das DÖFA sei nicht wegen einer Einreise zur Erlangung von Sozialleistungen unanwendbar. Zwar regele das Schlussprotokoll des DÖFA, dass Vergünstigungen aus dem Abkommen nicht Personen zugutekommen sollten, die das Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei aufsuchten, um diese Vergünstigungen in Anspruch zu nehmen. Ein solcher Fall liege jedoch angesichts der vom Kläger bisher ausgeübten Tätigkeiten nicht vor. Im Übrigen folge aus dem Schlussprotokoll kein Leistungsausschluss. Es räume den Vertragsparteien nur die Möglichkeit ein, ohne Verstoß gegen ihre Verpflichtungen aus dem Abkommen innerstaatliche Regelungen zu erlassen, die eine entsprechende Begrenzung der Leistungsansprüche vorsähen.

 

Gegen das ihm am 4. März 2022 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 28. März 2022 Berufung eingelegt. Der Beklagte hat zur Begründung der Berufung vorgetragen: Der Kläger sei nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2b SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, da sich sein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe. Selbst dieses Aufenthaltsrecht sei mittlerweile zweifelhaft, da dieses nach Ablauf von sechs Monaten nur bestehe, solange die betroffenen Personen nachweisen könnten, weiterhin Arbeit zu suchen und eine begründete Aussicht zu haben, eingestellt zu werden. Der Kläger habe im Klageverfahren jedoch vorgetragen, nicht auf Arbeitssuche zu sein und keine Bewerbungen zu schreiben. Aus der in Bayern ausgeübten Erwerbstätigkeit könne der Kläger kein Aufenthaltsrecht herleiten, da er die zuletzt ausgeübte Tätigkeit freiwillig aufgegeben habe. Ebenso wenig folge ein Aufenthaltsrecht daraus, dass der Kläger zu seiner Partnerin gezogen sei, da er mit ihr nicht verheiratet sei. Dem Leistungsausschluss stehe auch nicht das DÖFA entgegen. Aus dem DÖFA ergebe sich kein Aufenthaltsrecht. Der Kläger könne sich auf das DÖFA nicht berufen, weil die Leistungen nach dem SGB II keine Fürsorgeleistungen i.S.d. DÖFA seien. Fürsorgeleistungen seien nach Art. 1 Nr. 4 DÖFA alle gesetzlich begründeten Geld-, Sach-, Beratungs-, Betreuungs- und sonstige Hilfeleistungen aus öffentlichen Mitteln zur Deckung und Sicherung des Lebensbedarfs für Personen, die keine andere Voraussetzung als die der Hilfsbedürftigkeit zu erfüllen hätten. Diese Voraussetzungen seien bei Leistungen nach dem SGB II nicht erfüllt, da deren Gewährung von weiteren Voraussetzungen wie beispielsweise der Erwerbsfähigkeit und einem rechtlich erlaubten Aufenthalt abhänge.

 

Der Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts vom 3. März 2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Der Kläger beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend. Ein Leistungsausschluss bestehe nicht. Er halte sich nicht lediglich zum Zwecke der Arbeitsaufnahme im Bundesgebiet auf, sondern um mit seiner Familie, seiner Partnerin und deren Sohn, hier leben zu können. Darüber hinaus ergebe sich sein Leistungsanspruch aus dem DÖFA. Er sei auch nicht wegen Vermögen oder Einkommen von Leistungen ausgeschlossen.

 

Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

 

Am 6. April 2022 hat die Partnerin des Klägers erneut die Weiterbewilligung von Leistungen nach dem SGB II beantragt.

 

Mit Bescheid vom 3. Mai 2022 hat der Beklagte der Partnerin des Klägers vorläufig Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1. April 2022 bis zum 6. August 2022 bewilligt. Ihrem Sohn hat der Beklagte mit diesem Bescheid wegen bedarfsüberschreitenden Einkommens keine Leistungen für diese Monate bewilligt. Hinsichtlich des Klägers hat der Beklagte in dem Bescheid darauf hingewiesen, dass dieser keinen Anspruch auf Leistungen habe, weil er über ein Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitssuche verfüge. Mit Bescheid vom 1. Juli 2022 hat der Beklagte der Partnerin des Klägers und deren Sohn Leistungen vom 1. August 2022 bis zum 31. August 2022 bewilligt.

 

Der Beklagte hat dem Kläger, seiner Partnerin und deren Sohn mit Bescheid vom 3. August 2022 endgültig Leistungen für die Zeit vom 1. Dezember 2021 bis zum 31. März 2022 bewilligt.

 

Am 5. September 2022 hat die Partnerin des Klägers wiederum die Weiterbewilligung von Leistungen nach dem SGB II beantragt.

 

Der Beklagte hat der Partnerin des Klägers und deren Sohn mit Bescheid vom 13. September 2022 SGB II-Leistungen für die Zeit ab September 2022 bis August 2023 in Höhe von 1.205,96 Euro monatlich bewilligt. Im Übrigen hat er den Antrag vom 5. September 2022 abgelehnt. 

 

Der Kläger, der Beklagte und der Beigeladene haben mit Schreiben vom 25. September 2023 und 6. Oktober 2023 einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Beklagten und auf den der Gerichtsakte verwiesen, der vorgelegen hat und Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen ist.

 

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat konnte gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten dieser Verfahrensweise zugestimmt haben.

 

Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und teilweise begründet.

 

1. Die Berufung des Beklagten ist unbegründet und zurückzuweisen, soweit das Sozialgericht den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 1. Februar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2021 verurteilt hat, dem Kläger Leistungen nach dem SGB II ab dem 10. Oktober 2020 bis zum 31. August 2021 zu gewähren.

 

a. Das Sozialgericht ist insoweit zutreffend davon ausgegangen, dass der Erlass eines Grundurteils nach § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG zulässig ist. Der Kläger hat mit seiner kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG keinen bezifferten Betrag, sondern die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II beantragt. Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Grundurteils ist eine so umfassende Aufklärung zu Grund und Höhe des Anspruchs, dass mit Wahrscheinlichkeit von einer höheren Leistung ausgegangen werden kann, wenn der Begründung der Klage gefolgt wird (vgl. BSG, Urteil vom 21. Juni 2023, B 7 AS 14/22 R; zitiert nach juris, Rn. 11; BSG, Urteil vom 16. April 2013, B 14 AS 81/12 R, zitiert nach juris, Rn. 10). Diese Voraussetzung liegt hier vor. Legt man die Begründung der Klage zugrunde, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf den Kläger nicht anwendbar ist, steht dem Kläger mit Wahrscheinlichkeit ein Leistungsanspruch zu, während der Beklagte den Kläger wegen § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II bereits dem Grunde nach für nicht leistungsberechtigt hält.

 

b. Für die Zeit vom 10. Oktober 2020 bis zum 31. August 2021 hat das Sozialgericht dem Kläger zu Recht dem Grunde nach Leistungen nach dem SGB II zugesprochen.

 

Rechtsgrundlage des Leistungsanspruchs ist § 19 i.V.m. §§ 7 ff. und §§ 20 ff. SGB II aF. Der Kläger erfüllte die Anspruchsvoraussetzungen für Leistungen nach dem SGB II (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Er hatte die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht, war erwerbsfähig, dem Grunde nach hilfebedürftig und hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.

 

Nicht erkennbar ist insbesondere, dass der Kläger in der Zeit vom 10. Oktober 2020 bis zum 31. August 2021 über Einkommen oder zu berücksichtigendes Vermögen verfügte. Bei den in dieser Zeit auf den Kläger zugelassenen Kraftfahrzeugen handelte es sich um angemessene Kraftfahrzeuge, die nach § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II unberücksichtigt bleiben. Auch liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Partnerin des Klägers in der Zeit vom 10. Oktober 2020 bis zum 31. August 2021 über Einkommen oder Vermögen verfügte, das die Hilfebedürftigkeit des Klägers in der Bedarfsgemeinschaft entfallen ließ (vgl. §§ 9 Abs. 2, 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II), oder dass der Kläger von dem mit ihm zusammenlebenden Sohn der Partnerin bedarfsdeckende Leistungen erhalten hätte. Die Partnerin und deren Sohn haben vom Beklagten selbst Leistungen nach dem SGB II bezogen und der Sohn hat in der Zeit vom 10. Oktober 2020 bis zum 31. August 2021 lediglich vorübergehend geringfügige Einnahmen aus seiner selbständigen Tätigkeit erzielt.

 

Der Kläger war in der Zeit vom 10. Oktober 2020 bis zum 31. August 2021 auch nicht von Leistungen ausgeschlossen.

 

Nach der vom Beklagten zur Begründung der Leistungsablehnung herangezogenen Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind „Ausländer“ unter bestimmten Voraussetzungen von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Diese Vorschrift greift für den Kläger nicht ein, weil er nicht wie ein Ausländer im Sinne dieser Vorschrift behandelt werden darf. Denn der Kläger kann sich als österreichischer Staatsangehöriger auf das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 DÖFA berufen, wonach Fürsorge Staatsangehörigen der einen Vertragspartei, die sich im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei aufhalten, in gleichem Umfang und unter den gleichen Bedingungen wie Staatsangehörigen des Aufenthaltsstaats gewährt wird (so die wohl h.M. in der neueren obergerichtlichen Rspr., vgl. mit ausführlicher Begründung Hessisches LSG, Urteil vom 15. September 2021, L 6 AS 316/17, zitiert nach juris, Rn. 68 ff.; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24. August 2021, L 2 AS 409/21 B ER, zitiert nach juris, Rn. 41; LSG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 8. Juni 2020, L 18 AS 1641/19, zitiert nach juris, Rn. 21 f., und vom 11. Mai 2020, L 18 AS 1812/19, zitiert nach juris, Rn. 23 f.; aA Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, § 7 SGB II, Stand 9. August 2023, Rn. 118 ff.).

 

Bei den Leistungen nach dem SGB II handelt es sich entgegen der Rechtsauffassung des Beklagten um „Fürsorge“ i.S.d. Art. 2 Abs. 1 DÖFA. Art. 1 Nr. 4 DÖFA definiert den Begriff der Fürsorge dahin, dass er alle gesetzlich begründeten Geld-, Sach-, Beratungs-, Betreuungs- und sonstigen Hilfeleistungen aus öffentlichen Mitteln zur Deckung und Sicherung des Lebensbedarfs für Personen umfasst, die keine anderen Voraussetzungen als die der Hilfsbedürftigkeit zu erfüllen haben. So liegt es bei den bedürftigkeitsabhängigen und steuerfinanzierten laufenden Leistungen nach dem SGB II. Die Aufteilung der sozialstaatlichen Fürsorge auf (im Wesentlichen) zwei Sicherungssysteme, also die Grundsicherung für Arbeitsuchende einerseits und die Sozialhilfe andererseits, führt dazu, dass die existenzsichernden und dem Lebensunterhalt dienenden Leistungen aus beiden Systemen als Fürsorge im Sinne von Art. 1 Nr. 4 DÖFA zu qualifizieren sind, da beide Systeme (nur gemeinsam) der Deckung und Sicherung des Lebensbedarfs der Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland dienen. Die Anspruchsvoraussetzung der Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II und der Altersgrenzen aus § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 7a SGB II bezwecken bezogen auf den hiesigen Zusammenhang nur die Abgrenzung zur gleichermaßen bedürftigkeitsabhängigen und steuerfinanzierten Sozialhilfe. Die dort vorgesehenen Lebensunterhaltsleistungen sind ihrerseits zweifellos als „Fürsorge“ im Sinne des Abkommens zu qualifizieren, müssten aber, folgte man der Argumentation des Beklagten, ebenfalls aus dem Anwendungsbereich des DÖFA herausfallen, da sie als Komplementärleistung zur Grundsicherung für Arbeitsuchende mittelbar gerade die fehlende Erwerbsfähigkeit als zusätzliche Leistungsvoraussetzung vorsehen; das Abkommen liefe somit leer (vgl. zum Ganzen Hessisches LSG, Urteil vom 15. September 2021, L 6 AS 316/17, zitiert nach juris, Rn. 79 f., mit Verweis auf das Urteil des BSG vom 19. Oktober 2010 zum Fürsorgebegriff des Europäischen Fürsorgeabkommens, B 14 AS 23/10 R).

 

Der Kläger unterfällt auch nicht dem Ausschlussgrund des Buchstaben A. Nr. 1 des Schlussprotokolls zum DÖFA. Danach sollen Vergünstigungen aus diesem Abkommen Personen nicht zugutekommen, die das Hoheitsgebiet der anderen Vertragsparteien aufsuchen, um diese Vergünstigungen in Anspruch zu nehmen. Ein solcher Sachverhalt lässt sich nicht feststellen. Gegen eine Einreise, um Vergünstigungen in Anspruch zu nehmen, spricht im vorliegenden Fall schon, dass der Kläger bereits kurz nach seiner Einreise im September 2018 eine abhängige Beschäftigung aufgenommen hat. Insgesamt war er ab November 2018 fast zwei Jahre in Deutschland beruflich tätig.

 

Da der Kläger somit bereits nicht wie ein Ausländer im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II behandelt werden darf, kommt es nicht darauf an, ob die weiteren Voraussetzungen des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (insbesondere „die kein Aufenthaltsrecht haben oder deren Aufenthaltszweck sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt“) vorliegen. 

 

2. Die Berufung des Beklagten ist hingegen begründet und das angegriffene Urteil aufzuheben, soweit das Sozialgericht den Beklagten zur Leistungsgewährung für die Zeit vom 1. September 2021 bis zum 31. August 2022 verurteilt hat. Insoweit ist die Klage abzuweisen, da sie unzulässig ist.

 

Mit der Klage begehrt der Kläger die Aufhebung des Bescheides vom 1. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2021 sowie – zeitlich unbegrenzt – die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ab Antragstellung. Indessen regelt der Bescheid vom 1. Februar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2021 eine Ablehnung von Leistungen nach dem SGB II lediglich für den Zeitraum bis zum 31. August 2021.

 

Die Partnerin des Klägers hat am 14. Juli 2021 die Weiterbewilligung von Leistungen ab September 2021 beantragt. Diesen Antrag hat sie – wovon auch das Sozialgericht ausgegangen ist – im Namen aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft und somit auch im Namen des Klägers gestellt. In dem Antrag wird der Kläger ausdrücklich genannt. Zudem ist regelmäßig unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes davon auszugehen, dass Weiterbewilligungsanträge auch im Namen der übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft gestellt werden (vgl. Aubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, § 38, Stand 15. März 2022, Rn. 21). Die Vertretungsmacht der erwerbsfähigen Partnerin wird dabei gemäß § 38 SGB II vermutet. Der somit auch im Namen des Klägers wirksam am 14. Juli 2021 gestellte Weiterbewilligungsantrag führt zu einer Zäsur. Er begrenzt den streitigen Zeitraum des vorherigen Antrags unabhängig davon, ob der neue Leistungsantrag bereits beschieden wurde (vgl. BSG, Urteil vom 6. Juni 2023, B 4 AS 4/22 R, zitiert nach juris, Rn. 37).

 

Hieraus folgt, dass mit dem angegriffenen Bescheid vom 1. Februar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2021, mit dem der Leistungsantrag des Klägers aus dem Monat Oktober 2020 abgelehnt wurde, keine Entscheidung für die Zeit ab September 2021 getroffen wurde (vgl. BSG, Urteil vom 6. Juni 2023, B 4 AS 4/22 R, zitiert nach juris, Rn. 39). Die vorliegende, gegen den Bescheid vom 1. Februar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2021 gerichtete und mit einem Leistungsantrag kombinierte Klage ist daher unzulässig, soweit Leistungen für den Zeitraum ab September 2021 begehrt werden, die von dem angefochtenen Ablehnungsbescheid nicht erfasst werden. Ebenso unzulässig ist eine isolierte „echte“ Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG), die auf Leistungen für den Zeitraum ab September 2021 gerichtet ist, da im vorliegenden Über-/Unterordnungsverhältnis ein ablehnender Verwaltungsakt zu ergehen hat, der mit der Anfechtungsklage beseitigt werden muss (vgl. Söhngen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 54 SGG, Stand: 15. Juni 2022, Rn. 71 f.).

 

Ein Ablehnungsbescheid für die Zeit ab September 2021 ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens, so dass hieraus die Zulässigkeit der Klage für die Zeit ab September 2021 nicht folgen kann. Mit der Klage wurde allein der Bescheid vom 1. Februar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2021 angegriffen, dessen Regelungswirkung auf die Zeit bis zum 31. August 2021 begrenzt ist. Ein Ablehnungsbescheid für die Zeit ab September 2021 ist auch nicht nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Ein solcher Bescheid und der Bescheid vom 1. Februar 2021 würden keine Regelungen enthalten, die sich in bestimmten Zeiträumen überlagern, sondern aufeinander folgende Regelungen, so dass ein Ersetzen i.S.d. § 96 Abs. 1 SGG nicht vorliegen kann (vgl. Berchtold, SGG, 6. Aufl. 2021, § 96 Rn. 9).

 

Auch dürfte der Beklagte jedenfalls für den sich unmittelbar an den Monat August 2021 anschließenden Zeitraum bisher keine ablehnende Entscheidung getroffen haben. In dem Bescheid vom 27. August 2021, mit dem der Beklagte der Partnerin des Klägers und deren Sohn Leistungen nach dem SGB II für die Zeit ab dem 1. September 2021 bewilligt hat, heißt es hinsichtlich des Klägers lediglich, dass die Entscheidung des Sozialgerichts abzuwarten bleibe. Dies stellt keine inhaltlich ausreichend bestimmte Ablehnungsregelung dar (vgl. BSG, Urteil vom 6. Juni 2023, B 4 AS 4/22 R, zitiert nach juris, Rn. 40). Jedenfalls insoweit hat der Kläger noch einen Bescheidungsanspruch gegen den Beklagten. Hinsichtlich des Teilzeitraums vom 1. Dezember 2021 bis zum 31. März 2022 hat der Beklagte zudem bereits (möglicherweise versehentlich) eine endgültige Bewilligungsentscheidung zugunsten des Klägers getroffen.

 

3.  Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Teilerfolg der Berufung.

 

4.  Der Senat lässt die Revision für den Beklagten nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung zu. Es ist bisher höchstrichterlich nicht geklärt, ob und unter welchen Voraussetzungen das DÖFA zur Unanwendbarkeit des Ausschlusstatbestands des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II führt. Demgegenüber liegen für den Kläger keine Gründe für die Zulassung der Revision vor, § 160 Abs. 2 SGG.

Rechtskraft
Aus
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