L 2 R 1529/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 24 R 4615/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 R 1529/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 12. April 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen (voller) Erwerbsminderung.

Die 1970 in der Türkei geborene Klägerin absolvierte keine Berufsausbildung und war nach ihrer Übersiedlung im Jahr 1987 in das Bundesgebiet bis 2013, zuletzt als Reinigungskraft, tätig. Danach war sie arbeitsunfähig krank und arbeitslos.

Am 22. September 2016 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Mit Schreiben vom 6. Dezember 2016 bot die Beklagte ihr zunächst eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation an, die die Klägerin mit Schreiben vom 12. Dezember 2016 wegen anstehender Operation jedoch ablehnte. Mit Bescheid vom 23. Mai 2017 lehnte die Beklagte daraufhin die beantragte Rente wegen Erwerbsminderung wegen fehlender Mitwirkung der Klägerin ab.
Nachdem sich im Folgenden die Klägerin erneut an die Beklagte wandte und nunmehr medizinische Befunde vorlegte, beauftragte die Beklagte die E1 mit der Erstellung eines Gutachtens. In ihrem Gutachten vom 17. Oktober 2017 auf der Grundlage der Untersuchung vom 11. Oktober 2017 diagnostizierte E1 eine Dysthymie und eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Das Leistungsvermögen schätzte sie dahingehend ein, dass die Klägerin noch für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nach wie vor sechs Stunden und mehr belastbar sei.

Am 2. Februar 2018 beantragte die Klägerin erneut eine Rente wegen Erwerbsminderung bei der Beklagten.

Mit Bescheid vom 15. März 2018 lehnte die Beklagte die Gewährung der beantragten Rente wegen Erwerbsminderung ab, da die Klägerin die medizinischen Voraussetzungen nicht erfülle.

Dagegen erhob die Klägerin am 4. April 2018 Widerspruch und führte zur Begründung aus, sie sei nicht untersucht worden und verweise auf das von ihr vorgelegte Attest, wonach sie nicht arbeiten könne. Mit Widerspruchsbescheid vom 2. August 2018 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück und führte zur Begründung aus, unter Berücksichtigung aller Gesundheitsstörungen und der sich daraus ergebenden funktionellen Einschränkungen bei der Ausübung von Erwerbstätigkeiten sei die Klägerin nach Auffassung des Sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten noch in der Lage, Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ohne zeitliche Einschränkung durchzuführen. Leichte bis mittelschwere Tätigkeiten in wechselnder Arbeitshaltung, ohne Nachtschicht und ohne besonderen Zeitdruck/Akkord seien ihr täglich sechs Stunden und mehr zumutbar.

Dagegen hat die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten am 30. August 2018 Klage zum Sozialgericht (SG) Stuttgart erhoben. Zur Begründung hat der Bevollmächtigte geltend gemacht, die Klägerin leide unter einer andauernden Persönlichkeitsänderung, einer mittelgradigen rezidivierenden depressiven Störung, einem Handgelenksganglion volar links, einem Uterus Myomathosus, einer Hypermenorrhoe und dem Zustand nach Hand- und Fußoperationen. Vor allem die erheblichen psychischen Einschränkungen schränkten ihre Erwerbsfähigkeit auf Dauer ein. So bestünden Ängste, innere Unruhe, Übererregtheit, Konzentrationsstörungen, Grübeln, Schlafstörungen, eine geringe Belastbarkeit und Traurigkeit, Suizidgedanken und Schmerzen. Die Frustrationstoleranz sei eingeschränkt, sie leide unter Konzentrationsmangel, Ängsten und Vermeidungsverhalten. Seit 2013 sei die Klägerin in regelmäßiger ambulanter psychiatrischer Behandlung, es müsse jedoch von einer Therapieresistenz gesprochen werden. Eine wesentliche Verbesserung sei bei der Schwere der Störungen der Klägerin nicht zu erwarten, auch sei sie aufgrund ihres Krankheitsbildes den Anforderungen eines „Normalarbeitsplatzes“ nicht mehr gewachsen.

Die Beklagte war der Klage entgegengetreten und hat sich insbesondere auch auf die Begründung ihres Widerspruchsbescheides gestützt.

Das SG hat im Folgenden bei den behandelnden Ärzten sachverständige Zeugenauskünfte eingeholt. Der M1 hat mit Auskunft vom 26. März 2019 ausgeführt, er habe die Klägerin überwiegend wegen Akuterkrankungen mit kurzer Behandlungsdauer behandelt und stimme mit der Leistungsbeurteilung von E1 überein.
Die Oberärztin der M2klinik K1, L1, hat in ihrer Auskunft vom 27. März 2019 angegeben, die Klägerin habe sich im Jahr 2018 fünfmal in der Psychiatrischen Institutsambulanz vorgestellt, diagnostiziert worden sei eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, eine rezidivierende depressive Störung in gegenwärtig mittelgradiger Episode und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung. 2017 sei die Klägerin als unter drei Stunden täglich erwerbsfähig eingestuft worden, über den aktuellen Zustand könne L1 jedoch keine Aussage machen, obgleich sie davon ausgehe, dass es zu keiner wesentlichen Besserung gekommen sei.
Der Y1 hat mit Schreiben vom 28. April 2019 mitgeteilt, er habe die Klägerin wegen eines Halswirbelsäulen(HWS)-Syndroms mit einer chronischen Lumbalgie, eines milden Hallux Valgus beidseits, einer Epicondylitis humeri radialis beidseits, einer Gonalgie des rechten Kniegelenks und einer geringen Chondromalazie des linken Kniegelenks sowie wegen des Verdachts auf eine Distorsion des oberen Sprunggelenks behandelt. Aus orthopädischer Sicht seien der Klägerin leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden und mehr zumutbar.

Das SG hat sodann die H1, B1, mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. H1 hat auf der Grundlage der psychiatrischen Untersuchung und Exploration am 6. November 2019 in ihrem Gutachten vom 11. November 2019 ausgeführt, im psychopathologischen Befund sei die Klägerin wach, bewusstseinsklar und in allen Qualitäten orientiert gewesen. Ihre Merkfähigkeit sei eingeschränkt gewesen, die Auffassung begrenzt. Die Konzentration sei reduziert gewesen. Ihren Antrieb habe die Klägerin als gebremst geschildert. Im Ausdruck sei sie unsicher, weinend und teilweise beschämt gewesen, weil mit dem Dolmetscher ein Mann anwesend gewesen sei. Sie sei willensschwach, gleichgültig und wenig zielstrebig erschienen. Den Blickkontakt habe sie halten können und ihre Situation ausführlich geschildert, an manchen Stellen jedoch gestoppt und angegeben, dass sie etwas aus Scham nicht sagen wolle. Im formalen Denken sei sie anschaulich, mit anklingenden Beeinträchtigungsideen und Beziehungsideen, gewesen. Sie habe Ängste geschildert. Auch habe die Klägerin illusionäre Verkennungen und gelegentliches halluzinatorisches Erleben geschildert. Ich-Störungen hätten nicht vorgelegen, der Affekt sei niedergeschlagen, traurig, moros verstimmt, ratlos, unsicher, ängstlich und verzagt mit Störung der Vitalgefühle gewesen. Sie habe auch zwanghafte Verhaltensmuster angegeben (Putzen, Kleidung waschen). Als Diagnosen hat H1 eine rezidivierende depressive Störung und gegenwärtig schwere Episode, eine Panikstörung, eine Agoraphobie und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung gestellt. Aufgrund dieser Diagnosen und Symptome sei die Klägerin nicht nur nicht in der Lage, Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durchzuführen, sondern bereits damit überfordert, alleine das Haus zu verlassen. Ihre Leistungsfähigkeit liege unter drei Stunden.

In einer von der Beklagten vorgelegten sozialmedizinischen Stellungnahme des N1 vom 16. Dezember 2019 hat dieser auf verschiedene Widersprüche und Ungereimtheiten im Gutachten von H1 hingewiesen.

Im Folgenden hat das SG bei der E2 ein weiteres Gutachten eingeholt. E2 ist auf der Grundlage der Untersuchung vom 10. Februar 2021 in ihrem Gutachten vom 15. Februar 2021 zu dem Ergebnis gelangt, dass zunächst der neurologische Befund weitgehend unauffällig gewesen sei. Die Gelenke seien aktiv und passiv frei beweglich gewesen, allerdings bei eingeschränkter Kooperation und erheblichen Schmerzäußerungen der Klägerin. Das linke Bein sei nur eingeschränkt untersuchbar gewesen, bei erheblicher Schonhaltung. Insofern seien auch die Gangprüfungen nicht ausführbar gewesen, da die Klägerin den rechten Fuß vorwärts geschoben, den linken nachgezogen habe. Scheinbar unbeobachtet habe die Klägerin keine Mühe beim An- und Ausziehen gehabt und sei den langen Gang innerhalb der Praxis mit leichtem Schonhinken links entlang gelaufen, wobei das Schonhinken mehr den Oberschenkel, weniger den Fuß, betroffen habe.
Im von E2 erhobenen psychopathologischen Befund ist ausgeführt worden, die Klägerin sei im Kontakt freundlich und offen gewesen, habe während des Gesprächs mehrmals themenbezogen zu weinen begonnen, sich jedoch dann wieder beruhigt. Anhaltspunkte für qualitative oder quantitative Bewusstseinsstörungen hätten nicht bestanden. Die Klägerin sei zu Ort, Zeit, Person und Situation voll orientiert gewesen. Die Lebensereignisse seien mit Unsicherheiten rekonstruiert worden, Lebensdaten seien teilweise nicht erinnert worden. Im Rapport habe die Klägerin widersprüchliche Aussagen zu den Zeitpunkten bestimmter Ereignisse gemacht, beispielsweise bezüglich der Geburt und des aktuellen Alters ihrer Kinder. Lang- und Kurzzeitgedächtnis hätten leicht beeinträchtigt gewirkt. Die Konzentration habe zunächst beeinträchtigt gewirkt, da Fragen teilweise mit einem inhaltlich ähnlichen, aber nicht dem explizit erfragten Thermengebiet beantwortet worden seien. Ob dies einer beeinträchtigten Aufmerksamkeit oder der Übersetzungssituation geschuldet gewesen sei, sei offengeblieben. Die Klägerin sei teilweise im Gespräch vom Thema abgeschweift und habe unkonzentriert gewirkt. Im zweiten Teil der Anamneseerhebung durch die Sachverständige E2 hätten sich keine Einschränkungen von Konzentration und Aufmerksamkeit feststellen lassen. Das formale Denken sei etwas ungeordnet gewesen. Die Stimmung sei schwankend gewesen. Themenbezogen habe die Klägerin traurig, dysthym, allenfalls leichtgradig depressiv gewirkt. Es seien aber positive Emotionen auslösbar gewesen, themenbezogen habe sie lächeln oder auch lachen können. Auffällig sei eine klagsame, teilweise jammerige Beschwerdeschilderung gewesen. Das Selbstwertgefühl sei niedrig erschienen. Die Klägerin habe Schamgefühle bezüglich der berichteten Vergewaltigung und der seither bestehenden Inkontinenz angegeben. Der Antrieb sei unauffällig gewesen, die Klägerin habe einen leicht angespannten und erschöpften Eindruck gemacht.
Sowohl in der klinischen Untersuchung als auch bei den elektrophysiologischen Zusatzuntersuchungen sei laut E2 eine erhebliche Ausgestaltung und Verdeutlichung durch die Klägerin aufgefallen. Die dargebotenen Auffälligkeiten ließen sich weder durch intrazerebrale Durchblutungsstörungen, noch durch Schädigungen peripherer Nerven, akute oder chronische radikuläre Schädigungen erklären. Eine von der Klägerin angegebene fortbestehende Problematik nach einem Hundebiss am rechten Unterschenkel mit fortbestehender Schwellung habe sich anlässlich der gutachterlichen Untersuchung nicht feststellen lassen. Die Angaben der Klägerin, die Nutzung eines Rollators und die Schonhaltung nach Luxationsfraktur des oberen Sprunggelenks Typ Weber-B im Juni 2020 und einer dislozierten artikulären Fraktur des Volkmann-Dreiecks links seien nicht nachvollziehbar. Am Ende der Untersuchung sei die Klägerin auch relativ problemlos mit geringer Schonhaltung und ohne Rollator gelaufen. Dies sei als inkonsistente Beschwerdedarbietung einzuordnen.
Anhand der Angaben der biographischen Anamnese lasse sich eine sehr problematische Kindheit und Jugend durchaus nachvollziehen. Es sei nicht auszuschließen, dass die Schilderungen der Klägerin tatsächlichen Geschehnissen entsprechen würden. Das Verschüttetwerden beim Erdbeben 1999 in der Türkei erkläre schlüssig die jetzt geschilderten Symptome einer Agoraphobie mit Panikattacken. Auch lasse sich die Diagnose einer chronisch somatoformen Schmerzstörung stellen. Aus gutachterlicher Sicht seien die diagnostizierten Kriterien einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung nicht erfüllt. Auch die Diagnose einer depressiven Episode lasse sich nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit stellen. Aus psychiatrischer Sicht sei von einer Dysthymie auszugehen, die vorliegende chronische depressive Verstimmung erreiche nicht die Kriterien für eine leichte oder mittelgradig rezidivierende depressive Störung. Daneben würden ein Spannungskopfschmerz und ein Lendenwirbelsäulen(LWS)-Syndrom bei degenerativen Veränderungen ohne neurologische Ausfälle vorliegen. Hieraus ließen sich qualitative, nicht jedoch quantitative Einschränkungen des Leistungsvermögens ableiten. Möglich seien der Klägerin leichte, kurzzeitig mittelschwere körperliche Tätigkeiten mit Heben und Tragen von Lasten bis fünf, kurzzeitig bis acht kg, im Wechsel zwischen Sitzen, Gehen und Stehen oder überwiegend sitzend, gehend oder stehend. Wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten sollten nicht durchgeführt werden, Arbeiten auf Leitern oder Gerüsten ebenfalls nicht. Von Akkord-, Fließband- oder Nachtarbeit sei abzuraten, ebenso von Tätigkeiten unter ungünstigen klimatischen Bedingungen. Publikumsverkehr sei möglich, jedoch sollte keine Notwendigkeit für fordernde soziale Interaktion bestehen. Die Übernahme erhöhter oder hoher Verantwortung oder hohe Anforderungen an Konzentrationsvermögen und Aufmerksamkeit oder Arbeit unter nervlicher Belastung sei der Klägerin nicht zumutbar. Die noch möglichen Tätigkeiten könnten ohne unmittelbare Gefährdung der Gesundheit mindestens sechs Stunden täglich ausgeführt werden.

Mit Gerichtsbescheid vom 12. April 2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat hierbei die Auffassung vertreten, dass die nach § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) geforderten Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen voller oder auch teilweiser Erwerbsminderung nicht gegeben seien. Vielmehr stehe für das SG nach dem Ergebnis der umfassenden Beweisaufnahme fest, dass die Klägerin noch in der Lage sei, leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, unter Berücksichtigung gewisser qualitativer Einschränkungen mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten.
Für die Leistungseinschätzung maßgeblich seien bei der Klägerin Leiden auf nervenärztlichem Fachgebiet. Nach der überzeugenden Darlegung der gerichtlichen Sachverständigen, der E2 leide die Klägerin insoweit unter einer Dysthymie, einer chronisch somatoformen Schmerzstörung, einer Agoraphobie mit Panikstörung, einem Spannungskopfschmerz und einem LWS-Syndrom bei degenerativen Veränderungen ohne neurologische Ausfälle. Die Diagnose einer depressiven Episode habe E2 dagegen ausdrücklich nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit stellen können.
Die Diagnosen würden durch den von der Gutachterin erhobenen psychopathologischen und neurologischen Befund gestützt. Insofern habe E2 bei der Untersuchung der Klägerin einen weitgehend unauffälligen neurologischen Befund erheben können. Die Gelenke seien aktiv und passiv frei beweglich, allerdings bei eingeschränkter Kooperation und erheblichen Schmerzäußerungen der Klägerin. Eine Untersuchung des linken Beins der Klägerin sei bei erheblicher Schonhaltung nur eingeschränkt möglich gewesen. Die Gangprüfungen hätten nicht durchgeführt werden können, da die Klägerin den rechten Fuß vorwärts geschoben und den linken nachgezogen habe. Scheinbar unbeobachtet habe die Klägerin allerdings keine Mühe beim An- und Ausziehen gehabt und sei in der Lage, den langen Gang innerhalb der Praxis mit nur leichtem Schonhinken links entlang zu laufen, wobei das Schonhinken nicht passend zur geltend gemachten Verletzung mehr den Oberschenkel, weniger den Fuß, betroffen habe.
Im psychopathologischen Befund sei die Klägerin in Kontakt freundlich und offen gewesen. Während des Gespräches habe sie mehrmals themenbezogen zu weinen begonnen, habe sich jedoch dann wieder beruhigt. Anhaltspunkte für qualitative oder quantitative Bewusstseinsstörungen hätten nicht bestanden. Zu Ort, Zeit, Person und Situation sei die Klägerin voll orientiert gewesen. Die Lebensereignisse hätten mit Unsicherheiten rekonstruiert werden können, an Lebensdaten habe sich die Klägerin teilweise nicht erinnert. Im Rapport habe die Klägerin widersprüchliche Aussagen zu den Zeitpunkten bestimmter Ereignisse gemacht, beispielsweise bezüglich der Geburt und des aktuellen Alters ihrer Kinder. Lang- und Kurzzeitgedächtnis hätten leicht beeinträchtigt gewirkt. Im Drei-Begriffe-Test seien zwei Begriffe korrekt benannt worden. Die Konzentration habe zunächst beeinträchtigt gewirkt, da Fragen teilweise mit einem inhaltlich ähnlichen, aber nicht dem explizit erfragten Themengebiet beantwortet worden seien. Ob dies einer beeinträchtigten Aufmerksamkeit oder der Übersetzungssituation geschuldet gewesen sei, sei jedoch offengeblieben. Teilweise sei die Klägerin im Gespräch vom Thema abgeschweift.
Im zweiten Teil der Anamneseerhebung durch die Sachverständige hätten sich keine Einschränkung von Konzentration und Aufmerksamkeit gezeigt. Das formale Denken sei etwas ungeordnet gewesen. Die Stimmung der Klägerin sei schwankend gewesen. Themenbezogen habe die Klägerin traurig, dysthym, allenfalls leichtgradig depressiv gewirkt. Es seien aber auch positive Emotionen auslösbar gewesen, themenbezogen habe sie lächeln oder auch lachen gekonnt. Auffällig sei für E2 eine klagsame, teilweise jammerige Beschwerdeschilderung gewesen. Das Selbstwertgefühl sei niedrig erschienen. Die Klägerin habe Schamgefühle bezüglich der berichteten Vergewaltigung und der seither bestehenden Inkontinenz angegeben. Der Antrieb sei unauffällig gewesen, die Klägerin habe einen leicht angespannten und erschöpften Eindruck gemacht.
Die durchgeführte Blutspiegelbestimmung habe für alle angeblich regelmäßig eingenommenen Medikamente (ein Serotonin-Noradrinalin-Wiederaufnahmehemmer [SSNRI], ein Opioid, Novaminsulfon und ein Antipsychotikum) gezeigt, dass diese - wie schon bei der Blutspiegelbestimmung durch E1 2017 - nicht eingenommen würden. Die gleichbleibend niedrige, angegebene Medikamentendosierung wie auch die sonstige Therapie mit nur gelegentlicher Vorstellung in der psychiatrischen Institutsambulanz ohne engmaschige psychotherapeutische Behandlung und bislang ohne Durchführung einer stationären Therapie wäre im Übrigen aus fachärztlicher Sicht nicht hinreichend für die geltend gemachten schweren Beschwerden, sodass E2 daraus nachvollziehbar einen Rückschluss auf mangelnden Leistungsdruck der Klägerin gezogen habe.
Dabei könnten die Angaben der Klägerin zur verbliebenen Erwerbsfähigkeit und zur Anamnese nicht - wie im Gutachten von H1 zu großen Teilen gesehen - ungeprüft übernommen werden. Insofern habe E2 nachvollziehbar darauf verwiesen, dass in der klinischen Untersuchung, in Symptomvalidierungstests und auch bei den elektrophysiologischen Zusatzuntersuchungen eine erhebliche Ausgestaltung und Verdeutlichungstendenz der Klägerin aufgefallen sei. Die dargebotenen Auffälligkeiten hätten sich weder durch interzerebrale Durchblutungsstörungen noch durch Schädigungen peripherer Nerven oder akute oder chronische radikuläre Schädigungen erklären lassen. Auch die von der Klägerin angegebene fortbestehende Problematik nach Hundebiss im rechten Unterschenkel mit fortbestehender Schwellung habe E2 nicht feststellen können. Die Angabe der Klägerin, dass sie den linken Fuß nach Luxationsfraktur des oberen Sprunggelenkes Typ Weber-B und dislozierter artikulärer Fraktur des Volkmann-Dreiecks links im Juni 2020 nach wie vor nicht belasten könne und auf einen Rollator angewiesen sei, habe E2 ebenfalls nicht bestätigen können. Insofern habe E2 auf einen von der Klägerin bei ihr vorgelegten Entlassbericht des Krankenhauses L2 verwiesen, wonach schon im Juni 2020 die Klägerin den Fuß mit mindestens 20 kg habe belasten dürfen. In einem scheinbar unbeobachteten Moment am Ende der mehrstündigen gutachterlichen Untersuchung habe die Klägerin relativ problemlos mit nur geringer Schonhaltung des Oberschenkels, weniger des betroffenen linken Fußes, und ohne Rollator einen langen Gang in der Praxis entlanglaufen können. Insofern habe eine inkonsistente Beschwerdedarbietung der Klägerin vorgelegen.
Anhand der Angaben in der biographischen Anamnese habe sich eine sehr problematische Kindheit und Jugend der Klägerin für E2 durchaus nachvollziehen lassen. So  habe die Klägerin über eine Vielzahl von Schicksalsschlägen und traumatisierenden Erfahrungen berichtet, wie den Verlust der Mutter im Alter von fünf Jahren, einer von Gewalt und fehlender Zuneigung geprägten Kindheit, einem nur vierjährigen Schulbesuch, die illegale Verschickung im Alter von zehn Jahren nach Deutschland zur Arbeit als Haushälterin und Kinderbetreuung,  die Zwangsheirat mit einem etwa 30 Jahre älteren Mann im Alter von zwölf Jahren und die anschließend ebenfalls von Gewalt geprägte Ehe sowie die Geburt von zwei Kindern im Alter von 12 und 15 Jahren, schließlich das Verschüttetwerden bei einem Erdbeben 1999 in der Türkei, bei dem etliche Angehörige der  Klägerin verstorben seien. Auch wenn manche der berichteten Geschehnisse kaum vorstellbar bzw. nicht plausibel erschienen seien, sei nach Ansicht von E2 doch nicht auszuschließen gewesen, dass die Schilderungen der Klägerin tatsächlichen Geschehnissen entsprochen hätten.
Dies sei im Verfahren über die Frage der Erwerbsfähigkeit der Klägerin hier letztlich auch nicht entscheidend. Zu Recht habe die Gutachterin darauf hingewiesen, dass die Klägerin mit dieser problematischen Biographie offensichtlich bis 2013 dennoch in der Lage gewesen sei, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen, ohne dass sich danach eine nachgewiesene, wesentliche Verschlechterung ergeben hätte. Die Klägerin habe auch nach wie vor stabile zwischenmenschliche Beziehungen zu ihrer Familie, insbesondere zu den Kindern und Enkeln, aufrechterhalten und habe auch keine Konflikte mit Vorgesetzten oder Kollegen in der Vergangenheit geschildert. Zu ihrem Tagesverlauf habe sie zwar angegeben, dass sie den meisten ihrer Interessen nicht mehr nachgehen könne, es habe aber immerhin eine erhaltene Tagesstruktur und soziale Integration der Klägerin bestanden. Die Klägerin habe auch nach wie vor etliche Tätigkeiten im Haushalt wie Kochen, Putzen oder den Einkauf von Lebensmitteln übernommen.
Auf der Grundlage dieses Befundes und der weiteren Umstände sei die Einschätzung der Gutachterin E2 nachvollziehbar, dass der Klägerin Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nach wie vor ohne zeitliche Einschränkung möglich seien.
Der Leistungseinschätzung durch die H1 könne das SG dagegen nicht zustimmen. Nach deren Einschätzung sei die Klägerin nicht nur nicht in der Lage, Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durchzuführen, sondern bereits damit überfordert, alleine das Haus zu verlassen. Ihre Leistungsfähigkeit liege unter drei Stunden.
In ihrem Gutachten vom 11. November 2019 habe H1 keinen neurologischen Befund erhoben. Die Angaben der Klägerin zu ihren körperlichen Einschränkungen, wie dass sie sich nur unter Schwierigkeiten am Rollator fortbewegen könne, seien ohne weitere Validierung in das Gutachten übernommen worden. Im psychopathologischen Befund sei die Klägerin wach, bewusstseinsklar und in allen Qualitäten orientiert gewesen. Ihre Merkfähigkeit sei eingeschränkt, die Auffassung begrenzt gewesen. Die Konzentration sei reduziert erschienen. Im Ausdruck sei sie unsicher, weinend und teilweise beschämt gewesen, weil mit dem Dolmetscher ein Mann anwesend gewesen sei. Die Klägerin sei willensschwach erschienen, gleichgültig und wenig zielstrebig. Sie habe den Blickkontakt halten können und ihre Situation ausführlich schildern können, an manchen Stellen habe sie angegeben, dass sie etwas aus Scham nicht habe sagen wollen. Im formalen Denken sei sie anschaulich gewesen, mit anklingenden Beeinträchtigungsideen und Beziehungsideen. Ich-Störungen hätten nicht vorgelegen, der Affekt sei niedergeschlagen, traurig, moros verstimmt, ratlos, unsicher, ängstlich und verzagt mit Störung der Vitalgefühle.
Insofern habe der Befund dem von E2 bei deren gutachterlicher Untersuchung erhobenen psychopathologischen Befund in den wesentlichen Punkten geähnelt, obwohl eine Auflockerung der Stimmung von H1 nicht berichtet worden sei. Auf Grundlage dieses Befundes habe H1 allerdings die Diagnosen einer rezidivierenden depressiven Störung in gegenwärtig schwerer Episode, einer Panikstörung, einer Agoraphobie und einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung gestellt. Obgleich es auf die konkrete Diagnose bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit nicht ankomme, sondern auf die konkreten Auswirkungen im Lebensvollzug des Erkrankten, erscheine durchaus fraglich, ob die Diagnose einer schweren depressiven Episode vom erhobenen Befund getragen werde. Hierauf habe auch E2 in ihrem Gutachten aus fachärztlicher Sicht hingewiesen.
Weitaus problematischer sei jedoch, dass sich H1 mit offenkundigen Diskrepanzen zwischen den Schilderungen der Klägerin und den aktenkundigen Befunden nicht auseinandergesetzt und auch keine weitere Validierung bzw. Objektivierung der angegebenen Symptome und Einschränkungen vorgenommen habe. Bei etlichen Angaben der Klägerin hätte es einer Konsistenzprüfung bedurft, beispielsweise wäre bei mehreren Nachfragen zu erfahren gewesen, dass die Klägerin sehr wohl allein das Haus habe verlassen können, wie zum Einkaufen von Lebensmitteln. Auch sei beispielsweise zwischen den Angaben des behandelnden Y1 und den Angaben der Klägerin zur Behandlungsfrequenz beim Orthopäden bereits ein Widerspruch sichtbar. Die Problematik der fehlenden Medikamenteneinnahme sei bereits im Gutachten von E1 aufgetreten und hätte einer von H1 aber nicht durchgeführten Überprüfung bedurft. Das SG könne daher der Leistungseinschätzung von H1 nicht folgen.

Die Klägerin hat gegen den ihrem Bevollmächtigten am 19. April 2021 mit Empfangsbekenntnis zugestellten Gerichtsbescheid am 29. April Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg erhoben. Zur Begründung führt der Klägerbevollmächtigte u.a. an, es sei nicht nachvollziehbar, weshalb das SG ohne Weiteres das Gutachten der gerichtlich bestellten Gutachterin H1 über Bord geworfen und ein weiteres Gutachten eingeholt habe. Denn die Gutachtenmethodik von H1 werde nicht kritisiert, sondern vielmehr bemängelt, dass sie vieles ungeprüft übernommen bzw. manchmal zu kurz begründet habe. Wenn das SG über die notwendige Sachkunde verfügt habe, wäre auch die Einholung des Gutachtens von E2 nicht notwendig gewesen. Es sei nicht Sinn und Zweck des sozialgerichtlichen Verfahrens, die Klägerin so lange zu begutachten, bis ein Gutachter der Klägerin Erwerbsfähigkeit attestiere.
Das SG hätte H1 zumindest mit dem Gutachten von E2 konfrontieren und eine Stellungnahme verlangen können.
Die Berufungsklägerin habe im Übrigen derzeit einen GdB von 70 und sei in ihrer Selbstständigkeit schwer beeinträchtigt. Außerdem habe sie das Merkzeichen G, welches auch erheblichen Einfluss auf die Erwerbsfähigkeit habe. Darüber hinaus habe sie derzeit den Pflegegrad III.
E2 habe zwar beobachten können, dass die Klägerin „scheinbar unbeobachtet keine Mühe beim An- und Ausziehen gehabt“ habe und das Schonhinken habe mehr den Oberschenkel und weniger den Fuß betroffen. Jedoch werde nicht dargelegt, aufgrund welcher Untersuchung diese Feststellung getroffen worden sei.


Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 12. April 2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15. März 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. August 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab Antragstellung am 2. Februar 2018 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die Entscheidung des SG für zutreffend.

Im Rahmen des Termins zur Erörterung des Sachverhalts am 13. August 2021 durch die damalige Berichterstatterin war man im Rahmen der vom Beklagtenvertreter vorgelegten Rentenauskunft davon ausgegangen, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen bei der Klägerin nur bis Januar 2020 erfüllt seien.

In einer weiteren von der Beklagten vorgelegten Auskunft vom 29. September 2021 ist nunmehr nach Überprüfung festzustellen, dass bei der Klägerin die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung letztmalig zum 31. Januar 2021 erfüllt sind. Sofern jedoch über den 31. Dezember 2020 hinaus Arbeitslosengeld II bezogen worden sei, würden die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung weiter vorliegen (trotz der Lücke zwischen dem 14. März 2010 und dem 1. April 2012). Die ab dem 2. April 2012 im Versicherungsverlauf aufgeführten Pflichtbeitragszeiten seien ebenfalls beim Arbeitgeber S1 zurückgelegt worden und von der BBK B2 (Einzugsstelle) gemeldet worden.

Im Hinblick auf ein Schreiben des Klägerbevollmächtigten vom 15. Oktober 2021, wonach bei der Klägerin eine Alzheimererkrankung diagnostiziert worden sei, wurde noch bei der S2 die Auskunft vom 3. November 2021 eingeholt. Darin gab S2 u.a. an, dass sie keine Aussage darüber treffen könne, ob eine Demenzerkrankung vorliege. Zum damaligen Zeitpunkt (einmalige Untersuchung am 28. Februar 2020) habe sie die ganze Erkrankung eher als Pseudodemenz gewertet.
Ferner wurde am 23. Februar 2022 noch eine Auskunft der M2klinik K1 vom 14. Oktober 2021 vorgelegt. Danach befand sich die Klägerin bis zum 2. August 2018 in muttersprachlicher Behandlung der Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) E3, nachdem sie zuvor in der PIA des R1-Stifts S3 von derselben Therapeutin behandelt worden war. 2018 sei die Klägerin unregelmäßig zu fünf Terminen in der PIA E3 erschienen. 2019 sei die Klägerin ebenfalls zu fünf Terminen in die PIA, 2020 seien mit der Klägerin insgesamt fünf Termine und coronabedingt einige Telefonkontakte durchgeführt worden. 2021 sei sie zu insgesamt sechs Terminen erschienen.

Der Senat hat sodann bei dem S4 das nervenärztliche Gutachten vom 23. November 2022 eingeholt. S4 stellte auf der Grundlage der von ihm am 10. November 2022 durchgeführten ambulanten persönlichen Exploration und Untersuchung der Klägerin (Dauer 80 Minuten) im Beisein einer Dolmetscherin für die türkische Sprache als Diagnose lediglich eine Dysthymia. Neurologisch bestünde nach Aktenanalyse und eigener Befunderhebung keine Erkrankung. Psychiatrisch habe er auf der Grundlage der jetzigen Begutachtung eine Dysthymia diagnostiziert. Es handele sich hierbei um eine psychische Störung von Krankheitswert, die leichter sei als eine leichte depressive Episode und die gekennzeichnet sei durch eine mindestens zwei Jahre anhaltende Absenkung der Stimmung, wovon nach Aktenanalyse ausgegangen werden könne. Die Feststellung einer Dysthymia beruhe gemäß der ICD-10 auf der bei der Begutachtung feststellbaren Störung der Stimmung, berichteten ausgeprägten Schlafstörungen, einem früher auch dokumentierten Verlust des Interesses und der Freude an Sexualität und anderen angenehmen Tätigkeiten.
Eine depressive Episode habe er nicht diagnostiziert. Eine depressive Episode werde beispielsweise in der Psychiatrischen Institutsambulanz angeführt, die von der Klägerin in lockeren Zeitabständen (nur einige Male pro Jahr) aufgesucht werde. Bei den dortigen Konsultationen habe dann jeweils die Tochter berichtet. Die eigentliche Befunderhebung bei der Klägerin selbst sei jedoch nie aktenkundig dokumentiert. Die H1 habe in ihrem Gutachten ebenfalls eine schwere depressive Episode diagnostiziert, wobei die Durchsicht des Gutachtens wie auch bereits beratungsärztlich kritisiert, die Diagnose kaum nachvollziehbar erscheinen lasse. Nach Aktenanalyse könne jedenfalls als wirklich gesichert bei der Klägerin zu keinem Zeitpunkt von einer depressiven Episode ausgegangen werden.
Auch würden in den Akten wiederholt Angststörungen genannt, Panikstörung oder Agoraphobie. Zunächst sei festzuhalten, dass eine Panikstörung nicht dadurch diagnostiziert werden könne, dass jemand angebe, Panik zu empfinden. Da bei einer Panikstörung, die meist nur wenige Minuten umfasse, in den Zeiten dazwischen psychopathologisch ein vollkommen unauffälliger Befund zu erheben sei, müsste man sich zur Diagnosestellung auf klare Fakten von außen stützen. Regelhaft komme es aufgrund der dann tatsächlich vorhandenen panikartigen Angst mit Druck hinter dem Brustbein etc. und weiteren vegetativen Phänomenen, die immanent zur Diagnosestellung hinzugehörten, die von der Klägerin aber nie angegeben oder berichtet worden seien, zu Notarzteinsätzen, Herzkatheteruntersuchungen etc.. So etwas sei nicht dokumentiert.
Ebenso verhalte es sich mit der immer wieder angeführten Agoraphobie. Eine Agoraphobie bedürfe ganz konkreter Feststellungen mit vegetativen Phänomenen, um die Diagnose nachvollziehbar stellen zu können. Bei der jetzigen Begutachtung habe die Klägerin einzig eine Angst vor engen Räumen angegeben. Dies sei keine Agoraphobie, sondern würde, falls sie denn so bestehe und im geschlossenen Raum tatsächlich mit den entsprechenden vegetativen Begleitphänomenen verbunden sei, eher für eine einfache Phobie sprechen, einer völlig problemlos in wenigen verhaltenstherapeutischen Sitzungen behandelbaren Störung.
Jedenfalls spreche das gesamte Inanspruchnahmeverhalten der Klägerin gegen irgendeine relevante Angststörung. Es falle auch auf, dass immer wieder Diagnosen nur basierend auf Selbstangaben ohne kritische Überprüfung angeführt würden. Selbstangaben reichten jedoch zur Diagnosestellung nicht aus. Diagnosen sollten objektiv nachvollziehbar sein und nicht auf Selbstangaben oder einem subjektiven Leid beruhen (ein subjektives Leid sei noch keine Krankheit). Es werde auch aktenkundig immer wieder von einer somatoformen Schmerzstörung gesprochen oder einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Auch hier lasse sich als Ergebnis der jetzigen Begutachtung feststellen, dass eine somatoforme Schmerzstörung nicht diagnostiziert werden könne. Man schaue weder auf entsprechende Abklärungen noch ein Widersetzen gegenüber psychologischen Erklärungsversuchen, noch sehe man auf irgendwelche relevanten Schmerztherapien bei spezialisierten Schmerztherapeuten, die gemeinhin bei einem tatsächlich krankheitswertigen Schmerzerleben nachgesucht würden. Als Ergebnis der jetzigen Begutachtung könne bei der Klägerin, die sich auch nie umgesetzt habe, die nicht einmal ansatzweise schmerzgeplagt gewirkt habe, eine somatoforme Schmerzstörung nicht sicher mit der für ein Gutachten notwendigen Sicherheit festgestellt werden.
Es sei daneben auch auf ein Aggravationsverhalten hinzuweisen, dass bereits von der E1 2017 festgestellt worden sei und das auch in der klinischen Untersuchung wie bei den Testuntersuchungen durch die E2 deutlich geworden sei.
Auch die Angaben zur Medikation, auch wenn bei der Begutachtung mehrfach nachgefragt worden sei, seien schlichtweg nicht glaubhaft, dass aus sechs verschiedenen Packungen verschiedener Hersteller für das Schmerzmedikament Ibuprofen sowie drei verschiedenen Packungen verschiedener Hersteller des Medikaments Novaminsulfon jeweils eine Tablette, mithin jeweils neun Schmerztabletten auf einmal eingenommen würden. Nur am Rande sei in dem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass E1 2017 keine Schmerzmedikamente (bei behaupteter Einnahme) im Blut habe nachweisen können.
Psychiatrisch müsse als letztes noch angeführt werden, dass die Angabe der Klägerin, manchmal Angehörige zu sehen oder zu riechen, in deren Kulturkreis, migrationspsychiatrisch wohl bekannt, immer wieder berichtet werde und dass dies nichts mit echten Halluzinationen oder einer echten psychotischen Symptomatik wie einer Schizophrenie zu tun habe.
Letztlich gelangt S4 zu dem Ergebnis, dass die Klägerin unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen (so sollten etwa keine Akkord- und Fließbandarbeiten, Arbeiten in Wechselschicht, Arbeiten mit besonderer geistiger Beanspruchung und besonderer Verantwortung ausgeübt werden), im Übrigen noch leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden und mehr an fünf Tagen in der Woche in der Lage sei, auszuüben. Besonders gestaltetes Arbeitsgerät sei nicht notwendig. Die Klägerin sei auch nach den aktenkundigen organmedizinischen Befunden auf orthopädischem Gebiet wie auch dem jetzigen neurologischen Befund in der Lage, viermal 500 m in weniger als 20 Minuten zu Fuß zurückzulegen.

Die Beteiligten haben mit Schreiben vom 16. August 2023 (Beklagter) und vom 25. September 2023 (Klägerin) einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Der Senat konnte aufgrund der Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden.

Die nach den §§ 143, 144 Abs. 1, Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte, unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 und Abs. 3 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig.

II.

Die Berufung der Klägerin ist jedoch unbegründet. Das SG hat zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung verneint.

Das SG hat zutreffend auf der Grundlage der hier maßgeblichen gesetzlichen Regelung in § 43 SGB VI, den beigezogenen Befundunterlagen wie auch den Gutachten aus dem Verwaltungsverfahren, die im Urkundenbeweis zu verwerten waren, und den Gutachten aus dem SG-Verfahren von H1 und E2 in nicht zu beanstandender Weise im Rahmen der vorgenommenen Beweiswürdigung hier letztlich die Voraussetzungen für eine Rente wegen voller oder auch teilweiser Erwerbsminderung bei der Klägerin verneint. Der Senat nimmt insoweit auf die zutreffenden Ausführungen im Gerichtsbescheid des SG in den Entscheidungsgründen S. 8 bis 14 Bezug und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe gemäß § 153 Abs. 2 SGG ab.

Ergänzend für das Berufungsverfahren ist noch festzustellen, dass auch unter Berücksichtigung der noch vorgelegten Unterlagen (sachverständige Zeugenauskunft von S2 und Entlassbericht bzw. Befundbericht der M2klinik K1) auf der Grundlage des hier noch eingeholten neurologisch-psychiatrischen Gutachtens von S4, das auch die Einschätzung von E2 im SG-Verfahren bestätigt hat, die Berufung keinen Erfolg haben kann. Wie E2 gelangt nämlich auch S4 in seinem Gutachten letztlich auf der Grundlage des von ihm erhobenen neurologischen und psychopathologischen Befundes insgesamt nur zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin allenfalls eine Dysthymia vorliegt, aber keinesfalls eine depressive Störung, schon gar nicht mit einer schweren Episode, sodass hier auch unter keinem Gesichtspunkt eine quantitative Leistungseinschätzung gerechtfertigt wäre. So war auch bei S4 zunächst schon der neurologische Befund völlig unauffällig und der psychische Befund stellte sich ähnlich wie der von E2 dar. Danach kam die Klägerin mit ihrer Tochter und dem Taxi zur Begutachtung, war einfach und sauber gekleidet und gelangte mit einem Rollator ins Sprechzimmer. Die Klägerin sprach danach, meist zur Dolmetscherin gewandt, mit kraftvoller Stimme, manchmal blickte sie auch den Sachverständigen an. Wegen des Gehörs fragte sie immer wieder etwas nach, konnte aber insgesamt gut verstehen. Die Klägerin saß viel vorgebeugt, hat sich nur selten auf dem Stuhl angelehnt. Sie setzte sich nie auffällig um und wirkte zu keinem Zeitpunkt schmerzgeplagt. Die Gesprächsatmosphäre blieb entspannt und die Klägerin konnte dem Gespräch gut folgen.
Die Klägerin war bewusstseinsklar und orientiert. Sie wirkte energievoll, keinesfalls antriebsarm oder gehemmt. Sie schien unglücklich, auch herabgestimmt, aber nicht tief deprimiert. Sie war auflockerbar und das affektive Schwingungsvermögen nicht aufgehoben. Der Gedankengang war zusammenhängend, das Denken schien ausgerichtet auf ihr Befinden. Es gab keine auffälligen Denkinhalte wie einen Wahn, keine Wahrnehmungsstörungen oder Ich-Störungen, sicher keine als echt einzuschätzenden psychotischen Zeichen. Intellektuell fielen keine Einschränkungen während des Gesprächs auf. Konzentrative Störungen oder Störungen der Aufmerksamkeit waren von S4 nicht zu erfassen. Soziale Störungen wie aggressive oder Verwahrlosungstendenzen zeigten sich nicht. Die Klägerin war zu einer adäquaten Interaktion und Kommunikation in der Lage. Sie trug ein ausgeprägtes Leiden mit Worten vor, eine tiefergehende Therapie und Veränderungsmotivation war nicht fassbar. Die Beschwerdeschilderungendarstellung war sowohl psychiatrisch als auch bei der körperlichen Untersuchung sowie die Angaben zur Medikation nur begrenzt glaubhaft und sprachen für ein ausgeprägtes Aggravationsverhalten stellenweise an der Grenze zur Simulation.
Auch der von S4 erhobene Tagesablauf zeigte durchaus noch einen strukturierten Tagesablauf. So gab die Klägerin an, sofern sie keine starken Schmerzen habe, stehe sie auf. Sie frühstücke dann, nehme dann Tabletten. Ihre Sucht sei türkischer Kaffee. Sie rauche, sie mache dann ihre Körperwäsche. Danach komme die Tochter, die in der Nähe wohne, nur fünf Minuten weg, und beide würden dann zusammen essen. Sie koche, wenn sie könne oder die Tochter koche. Die Tochter bringe sie auch raus in den Park. So verlaufe ihr Tag. Wenn sie sich hinlege und schlafe, gehe die Tochter wieder weg, wenn die Hausarbeit gemacht sei. Abends komme die Tochter nochmals zum Kontrollieren. Die Klägerin gab weiter an, sie könne nicht in einen Bus einsteigen, denn sie verwechsele die Haltestellen. Sie habe sich schon zweimal verlaufen und sei von der Polizei aufgefunden worden. Ohne ihre Tochter gehe sie nicht raus. Die Klägerin gab ferner noch an, im Jahr 2022 sei sie von der Tochter in die Türkei mitgenommen worden. Sie habe aber nicht das machen können, was sie vorgehabt habe. Sie habe die Wohnung ihrer Kindheit sehen wollen, wie auch auf den Friedhof gehen wollen. Die Tochter habe sie in den Urlaub mitgenommen, aber in ihrer Heimat sei sie nicht gewesen.
Ergänzend weist S4 darauf hin, dass in diagnostischer Hinsicht Übereinstimmung besteht im Hinblick auf die bereits von E1 2017 festgestellte leichtere Depressivität in Form einer Dysthymia und auch in der Gesamt- und Schweregradeinschätzung Übereinstimmung mit dem Gutachten der E2 von 2021 bestehe. Damit ist es jedenfalls seit 2017 zu keiner fassbaren Verschlechterung des Zustandes der Klägerin gekommen. Bezüglich des Gutachtens von H1 weist auch S4 nochmal darauf hin, dass im Hinblick auf die erhobenen Befunde die von H1 gestellte Diagnose nicht nachvollziehbar ist und diese offenkundig nur auf den Selbstangaben der Klägerin beruhe. Der psychische Befund von H1 enthalte darüber hinaus auch deutliche anamnestische Angaben, die in einem psychischen Befund nichts verloren haben. So interessiere es nicht, ob die Klägerin sich für antriebsgemindert erkläre, sondern dass sie es nach der Befunderhebung durch den Psychiater auch tatsächlich sei. Insofern sei dieses Gutachten schon schwer verwertbar. Auch hinsichtlich der Angaben aus der Psychiatrischen Institutsambulanz K1 seien diese zu hinterfragen, da die dort angeführten Diagnosen kaum auf einer eigenen Befunderhebung beruhten, sondern auf den Angaben der Tochter. Damit würden Angaben von Dritten verwendet, um daraus eine Diagnose zu konstruieren. Dies sei psychiatrisch nicht nachvollziehbar. Es werde zwar angeführt, dass die Tochter dolmetsche. De facto werde jedoch berichtet, was sie schildere. Angehörige seien zu einer professionellen Übersetzung gemeinhin nicht in der Lage und darin auch gar nicht geschult, um wörtlich zu übersetzen, was der Sachverständige sagt oder fragt und entsprechend wörtlich rückzuübersetzen, sondern sie kommentierten regelhaft alles oder schilderten einfach ihre Sicht der Dinge. So etwas sei für eine vernünftige Befunderhebung unbrauchbar.

Soweit die Klägerin noch darauf abstellt, dass bei ihr ein GdB mit 70 sowie Merkzeichen G festgestellt seien, begründet dies keineswegs auch die Feststellung einer Erwerbsminderung im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung.
Denn gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Maßstab ist also das gesamte Spektrum der Teilhabe an der Gesellschaft und die durch die Behinderung verursachten Einschränkungen hierbei.
Im Gegensatz dazu ist Maßstab bei der Frage der Erwerbsminderung in der gesetzlichen Rentenversicherung allein, ob der Versicherte unter Berücksichtigung der bei ihm bestehenden qualitativen Einschränkungen noch in der Lage ist, zumindest leichte körperliche Tätigkeiten an fünf Tagen in der Woche 6 Stunden und mehr täglich auszuüben.


Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit des Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen. Eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die es dem Versicherten nicht erlaubt, täglich viermal eine Fußstrecke von mehr als 500 m in jeweils weniger als 20 Minuten zurückzulegen, stellt bei dem anzuwendenden generalisierenden Maßstab eine derart schwere Leistungseinschränkung dar, dass der Arbeitsmarkt trotz vorhandenen vollschichtigen Leistungsvermögens als verschlossen anzusehen ist (Großer Senat Beschluss vom 19. Dezember 1996 - GS 2/95 -in BSGE 80, 24, 35 = SozR 3-2600 § 44 Nr. 8 S. 28, juris ; BSG Urteil vom 21. März 2006 - B 5 RJ 51/04 R - in SozR 4-2600 § 43 Nr.8, juris Rn. 15) .
Zur Überzeugung des Senates liegt auch keine Einschränkung der Wegefähigkeit in rentenrelevantem Umfang bei der Klägerin vor. Die Klägerin ist vielmehr auch nach den insoweit übereinstimmenden Feststellungen von H1, E2 und zuletzt S4 noch in der Lage viermal 500m in weniger als 20 Minuten zu Fuß zurückzulegen. Ebenso könnte sie auch öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Die Angabe, dass sie nicht in einen Bus steigen könne, deckt sich nicht mit den orthopädischen Befunden.

Damit ist zur Überzeugung des Senates festzustellen, dass auf der Grundlage der hier insgesamt vorliegenden medizinischen Befundunterlagen, des im Verwaltungsverfahren eingeholten und hier im Wege des Urkundenbeweises zu verwertenden Gutachtens von E1 sowie den im SG-Verfahren eingeholten nervenärztlichen Gutachten von H1 und E2 und dem hier im Berufungsverfahren eingeholten neurologisch-psychiatrischen Gutachten von S4 zur Überzeugung des Senates die Klägerin noch in der Lage ist, unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt an fünf Tagen in der Woche sechs Stunden und mehr auszuüben.

Aus diesen Gründen ist die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.   


 

Rechtskraft
Aus
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