L 5 VE 920/19

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Gotha (FST)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5.
1. Instanz
SG Gotha (FST)
Aktenzeichen
S 3 VE 4329/15
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 5 VE 920/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 28. Mai 2019 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt L wird abgelehnt.

Tatbestand

Der Kläger begehrt Leistungen der Opferentschädigung wegen DDR-Dopings.

Der 1955 geborene Kläger besuchte von Juli 1968 bis Dezember 1971 die Kinder- und Jugendsportschule „S“ in H. In dieser Zeit hat er beim SC-Dynamo H Leichtathletik (Hammerwerfen, Diskuswerfen und Kugelstoßen) als Leistungssport betrieben. Aufgrund nachlassender schulischer Leistungen nahmen ihn seine Eltern Ende 1971 aus der Kinder- und Jugendsportschule (bzw. musste er die Schule verlassen).

Seinen Angaben zufolge wurden ihm während dieser Zeit jeweils vor Beginn sportlicher Höhepunkte im Wettkampfjahr Tabletten in verschiedenen Farben zusammen mit Zusatzpräparaten verabreicht. Bei häufiger vorkommenden körperlichen Zusammenbrüchen während des Krafttrainings sei er vom Trainer angewiesen worden, sich in der Sportmedizin einen „Cocktail“ verabreichen zu lassen. Danach sei er wieder zu körperlichen Höchstleistungen bereit gewesen. Nach seinen Angaben habe er nicht gewusst, welche Präparate ihm verabreicht wurden. 

Am 30. April 2014 beantragte er unter Beifügung von Unterlagen aus dem Verfahren nach dem Dopingopferhilfegesetz (DOHG – dort waren ihm Leistungen in vierstelliger Höhe bewilligt worden) beim seinerzeit zuständigen Land Berlin die Gewährung von Beschädigtenversorgung.  Als Gesundheitsschäden gab er eine schwere Gonarthrose in allen großen Gelenken (Knie, Ellenbogen, Schultern, Lendenwirbel und Hüfte) sowie schwere körperliche Einschränkungen der Beweglichkeit an.

Das Land Berlin holte eine versorgungsärztliche Äußerung ein. Nach der Stellungnahme der Fachärztin für Chirurgie H1 vom 15. Juli 2017 handele es sich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit um die dem Hochleistungssport geschuldeten Verschleißerscheinungen der Lendenwirbelsäule, der Schulter-, Ellenbogen-, Hüft- und Kniegelenke, die durch die im Alter zunehmenden degenerativen Veränderungen und das Übergewicht (Gewicht und Größe im Jahre 2009: 143 kg, 192 cm) noch verstärkt würden.

Der Antrag des Klägers wurde mit Bescheid vom 30. Juli 2015 abgelehnt. Mit seinem Widerspruch vom 25. August 2015 (Eingang am 27. August 2015) machte der Kläger noch weitere Gesundheitsstörungen (Erkrankungen im Magen-Darm-Bereich, der Nieren und des Herzens) geltend. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 13. Oktober 2015 (berichtigt durch Bescheid vom 10. Dezember 2015) zurückgewiesen.

Gegen die Bescheide erhob der Kläger am 09. November 2015 Klage zum Sozialgericht. Der Kläger legte eine Vielzahl medizinischer Unterlagen aus neuerer Zeit sowie Kopien aus seinem Sozialversicherungsausweis vor. Das Sozialgericht holte ein orthopädisches Gutachten sowie ein internistisches Gutachten über den Kläger ein. Nach dem Gutachten des Orthopäden S vom 13. September 2017 (Bl. 315 ff. d. A.) ist ein Zusammenhang zwischen der Verabreichung von Steroiden im Jugendalter und der beim Kläger festgestellten Polyarthrose nicht hinreichend gesichert. In den bei der Literaturrecherche gefundenen acht potentiell relevanten Publikationen habe sich kein Hinweis darauf gefunden, dass die Verabreichung von anabolen Steroiden ein erhöhtes Risiko mit sich bringe, nach längerer Verabreichung eine dem Altersdurchschnitt vorangehende Arthrose zu verursachen. Nach dem internistischen Gutachten von K vom 14. Dezember 2018 (Bl. 365 ff. d. A.) könnten die Adipositas, die Herzerkrankungen sowie die weiteren Leiden auf internistischem Fachgebiet nicht auf die Gabe von Dopingmitteln zurückgeführt werden. Hinweise auf eine Leberschädigung fänden sich nicht, der arterielle Hypertonus sei erst seit 1995 bekannt. Entsprechend den eigenanamnestischen Angaben des Klägers habe bereits seit dem Kindesalter ein sehr kräftiger Körperbau und seit dem Jugendalter ein erhöhtes Körpergewicht bestanden.

Das Sozialgericht hat die Klage durch Urteil vom 28. Mai 2019 abgewiesen. Ein tätlicher Angriff im Sinne des Opferentschädigungsgesetzes liege vor. Nach einem Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales stelle die Verabreichung von Dopingsubstanzen die Verabreichung von Gift dar. Jedoch könne ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der früheren Verabreichung von Dopingsubstanzen und den Gesundheitsstörungen des Klägers nicht mit Wahrscheinlichkeit festgestellt werden.

Gegen das am 01. Juli 2019 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Klägers, die am 01. August 2019 beim Landessozialgericht eingegangen ist und mit der der Kläger sein Begehren weiterverfolgt.

Er erhebt Einwände gegen die Beweisaufnahme des Sozialgerichts, diese sei nicht ordnungsgemäß ausgeführt worden. Der Sachverständige K habe sich vom Gegenstand der vorzunehmenden Einschätzung nicht informiert, er habe geäußert, keine Zeit zum Lesen der Gerichtsakten gehabt zu haben. Zudem sei er auf dem Gebiet der Endokrinologie nicht bewandert. Der Sachverständige S gehöre (ebenso der Sachverständige K auf dem Gebiet der Endokrinologie) nicht zu den von der Landesärztekammer gegenüber den Gerichten benannten Sachverständigen. Nach Angaben des behandelnden Facharztes für Orthopädie G bestehe ein Zusammenhang zwischen den Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule, der Schultergelenke mit der Verabreichung von Dopingmitteln. Die vom Kläger zu bewältigenden Trainingseinheiten hätten an sich bereits zu einer Belastung des Bewegungsapparates geführt, diese hätten jedoch nur durch die Einnahme von anabolen Steroiden erbracht werden können. Zu berücksichtigen sei auch das jugendliche Alter des Klägers.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 28. Mai 2019 und den Bescheid vom 30. Juli 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Oktober 2015 (berichtigt durch Bescheid vom 10. Dezember 2015) aufzuheben und ihm ab 22. März 2014 Grundrente nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren;

hilfsweise Beweis zu erheben über die Tatsache, dass bereits im Zeitraum 1968 bis 1971 Kenntnis bestand über die schädlichen Einwirkungen bei nicht indikationsgemäßer Verabreichung von Dopingmitteln, insbesondere Turinabol, in der Anweisungskette des DDR-Sports bei Kindern und Jugendlichen durch Zeugnis der B und S1, ladungsfähige Anschriften werden nachgereicht.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Das Sozialgericht habe die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf die begehrten Leistungen.

Im Berufungsverfahren wurde der Facharzt für Allgemeinmedizin, Innere Medizin und Sportmedizin R mit der Erstattung eines Gutachtens aufgrund ambulanter Untersuchung beauftragt. Auf das Gutachten vom 14. Januar 2022 (Bl. 489 ff. d. A.) wird verwiesen. Ab dem Zeitpunkt der Antragstellung bis zum Zeitpunkt der Begutachtung resultiere für die multiplen Schädigungsfolgen ein Grad der Schädigungsfolgen von 100.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der geheimen Beratung.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig.

Die Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung.

Nach dem seither unverändert gebliebenen § 1 Abs. 1 Satz 1 des am 16. Mai 1976 in Kraft getretenen Opferentschädigungsgesetzes (OEG) vom 11. Mai 1976 (BGBl. I 1976, S. 1181) erhält, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Die Anwendung dieser Vorschrift wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds gehandelt hat (Abs. 1 Satz 2). Einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 stehen gleich 1. die vorsätzliche Beibringung von Gift und 2. die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen.

Diese Bestimmung des § 1 OEG kann auf die hier in Rede stehenden Geschehnisse nicht ohne Einschränkung angewandt werden. Nach § 10 Satz 1 OEG gilt das Gesetz für Ansprüche aus Taten, die nach seinem Inkrafttreten begangen worden sind. Nach den im Jahre 1984 neu in das OEG eingefügten §§ 10 Satz 2 und 10a Abs. 1 OEG (BGBl. I 1984, S. 1723) erhalten Personen, die durch in der Zeit vom 23. Mai 1949 (Gründung der Bundesrepublik Deutschland) bis 15. Mai 1976 begangene Taten geschädigt worden sind, auf Antrag nach §§ 1 bis 7 OEG Versorgung, solange sie 1. allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und 2. bedürftig sind und 3. im Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. An diese Regelung hat der Gesetzgeber für die Überleitung des OEG auf das in Art. 3 des Einigungsvertrages (EV) genannte Gebiet (Beitrittsgebiet) angeknüpft, zunächst für die Zeit nach In-Kraft-Treten des OEG im Beitrittsgebiet am 01. Januar 1991 (vgl. Einigungsvertrag vom 31. August 1990, BGBl. II 1990, S. 889, 1070, Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet K Abschnitt III Nr. 18 Buchstaben c, d und g) und sodann ab Wirksamwerden des Beitritts am 03. Oktober 1990. Nach Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet K Abschnitt III Nr. 18 Buchstabe c EV i. d. F. des 2. Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten vom 21. Juli 1993 (BGBl. I 1993, S. 1262) gilt § 10 OEG für Ansprüche aus Taten, die im Beitrittsgebiet nach dem 02. Oktober 1990 begangen worden sind. Darüber hinaus gelten die §§ 1 bis 7 OEG für Ansprüche aus Taten, die im Beitrittsgebiet in der Zeit vom 07. Oktober 1949 (Gründung der DDR) bis zum 02. Oktober 1990 begangen worden sind, nach Maßgabe des § 10a OEG. Diese Vorschrift gilt nach Nr. 18 Buchstabe d (a. a. O.) für Personen, die im Beitrittsgebiet ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben oder zur Zeit der Schädigung hatten, wenn die Schädigung in der Zeit vom 07. Oktober 1949 bis zum 02. Oktober 1990 in dem vorgenannten Gebiet eingetreten ist. Seit 01. Juli 2011 ist die Übergangsregelung des Einigungsvertrags in § 10 OEG als dessen Satz 4 und 5 integriert (vgl. Art. 3 Nr. 4b des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften vom 20. Juni 2011, BGBl. I 2011, S. 1114).

Die Einschränkung des Anwendungsbereiches des OEG steht im Einklang mit dem Grundgesetz (vgl. Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 18. Juni 1996, Az.: 9 RVg 2/95, Urteil vom 24. Juli 2002, Az.: B 9 VG 5/01 R).

Wie das Bundesversorgungsgesetz, auf das in § 1 OEG verwiesen wird, geht auch das OEG von einer dreigliedrigen Kausalkette aus. Das erste Glied ist der vorsätzliche rechtswidrige tätliche Angriff, das zweite Glied bildet die durch diesen schädigenden Vorgang hervorgerufene Schädigung (Primärschaden), das dritte Glied stellt die Folgen der gesundheitlichen Schädigung (Schädigungsfolge) dar, also das Versorgungsleiden, dessen Feststellung ein Antragsteller durch die Versorgungsverwaltung begehrt.

Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette des Vollbeweises. Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinaus gehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 14. Aufl., Rn. 3b zu § 128). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG, Urteil vom 24. November 2010, Az.: B 11 AL 35/09 R). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a.a.O.). Nach Maßgabe von § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOV-VfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung (also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff) im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrundezulegen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013, Az.: B 9 V 1/12 R).

Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt nach § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne der Vorschrift ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 08. August 2001, Az.: B 9 V 23/01 B). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein „deutliches“ Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

Nach diesen Grundsätzen bleibt die Berufung des Klägers ohne Erfolg.

Es liegt schon keine Schädigung im Sinne von § 1 Abs. 1 oder Abs. 2 OEG vor. Jedenfalls fehlt es an der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen den geltend gemachten Gesundheitsschäden und der Dopingverabreichung.

Ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs. 1 OEG ist nicht feststellbar. Ein tätlicher Angriff ist grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung. In aller Regel wird die Angriffshandlung den Tatbestand einer versuchten oder vollendeten Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit (hier: vorsätzliche Körperverletzung nach § 223 Strafgesetzbuch – StGB bzw. §§ 115 Strafgesetzbuch der DDR - StGB/DDR) erfüllen (vgl. BSG, Urteil vom 29. April 2010, Az.: B 9 VG 1/09 R, Rn. 25).

Gemessen an diesen Kriterien ist die hier in Rede stehende Behandlung nicht als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf die körperliche Unversehrtheit des Klägers im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG anzusehen.

Es handelt sich bei der Gabe von Medikamenten in Tablettenform bereits nicht um eine unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung im Sinne dieser Vorschrift. Maßgeblich ist die grundlegende gesetzgeberische Entscheidung, den allgemeinen Gewaltbegriff im strafrechtlichen Sinne durch die Verwendung des Begriffs des tätlichen Angriffs einzuengen und deshalb für einen solchen Angriff eine Kraftentfaltung gegen eine Person vorauszusetzen (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. nur Urteil vom 24. September 2020, Az.: B 9 V 3/18 R, m. w. N., abweichend zum ärztlichen Eingriff: Urteil des BSG vom 29. April 2010, Az.: B 9 VG 1/09 R, für den gewaltlosen sexuellen Missbrauch von Kindern, Urteil des BSG vom 18. Oktober 1995, Az.: 9 RVg 7/93). Dass ihm die Mittel zwangsweise und unter Anwendung körperlicher Gewalt verabreicht wurden, trägt der Kläger nicht vor. Soweit er angibt, vom Trainer angewiesen worden zu sein, sich einen „Cocktail“ verabreichen zu lassen, stellt dies keinen tätlichen Angriff im beschriebenen Sinne dar.

 Auch der Tatbestand des § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG ist nicht erfüllt. Entgegen der im Rundschreiben des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung vom 25. Oktober 2004 (432 -62 013) geäußerten Ansicht kann nach Auffassung des Senats nicht schon per se „wegen der gesundheitszerstörenden Wirkung der verabreichten Dopingsubstanzen“ davon ausgegangen werden, dass ihre Verabreichung immer eine vorsätzliche Beibringung von Gift darstellt; vielmehr kommt es immer auf den konkreten Einzelfall an.

Die Vorschrift des § 1 Abs. 2 OEG stellt Straftaten mit einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 gleich, die zur Tötung oder Verletzung eines Menschen führen können und nach allgemeiner Auffassung als Gewalttaten angesehen werden. § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG nennt das vorsätzliche Beibringen von Gift. Die möglichen schweren Tatfolgen rücken die Vergiftung so stark in die Nähe der Gewaltkriminalität, dass die Einbeziehung in die Entschädigungsregelung geboten erscheint (BT-Drs. 7/2506, S. 14).

Das Merkmal der Beibringung von Gift ist der Vorschrift des § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB (bzw. § 229 Abs. 1 StGB in der bis zum 31. März 1998 geltenden Fassung) nachgebildet. Es erfasst aufgrund der Gesetzessystematik und des Gesetzeszwecks nur strafrechtlich relevante Handlungen. Strafrechtlich relevant sind die Dopinggaben grundsätzlich nur als einfache Körperverletzung nach § 223 StGB bzw. § 115 StGB/DDR (vgl. auch Bundesgerichtshof – BGH, Beschluss vom 09. Februar 2000, Az.: 5 StR 451/99, Rn. 17, eine Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung nach § 116 StGB/DDR – schwere Körperverletzung - erfolgte nicht, einen dem § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB vergleichbaren Tatbestand „Beibringung von Gift“ gab es im StGB/DDR nicht).

Der Tatbestand der Beibringung von Gift nach § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB (in der ab 01. April 1998 geltenden Fassung) erfordert, dass die Substanz nach ihrer Art und dem konkreten Einsatz zur erheblichen Gesundheitsschädigung geeignet ist. „Gift“ ist jeder organische oder anorganische Stoff, der unter bestimmten Bedin­gungen durch chemische oder chemisch-physikalische Wirkung die Gesundheit zu schädigen vermag. Erfasst sind damit z. B. Arsen, Blausäure, Pilzgift, Curare, Stechapfelsamen, Strychnin, Zyankali, Blei, Alkohol, Betäubungsmittel oder Gas, aber auch ein Pfefferspray oder eine Überdosis von Medikamenten. Unter bestimmten Bedingungen können im Einzelfall aber auch solche Stoffe eine gesundheitsschädigende Wirkung entfalten, denen bei abstrakter Betrachtung zunächst keine besondere Gefährlichkeit anhaftet. Insofern erfasst § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB auch Stoffe des täglichen Bedarfs (z.B. Kochsalz, Wasser oder Zucker), wenn ihre Beibringung nach der Art der Anwendung, der Wirkstoffkonzentration oder des Alters und der Konstitution des Opfers mit der konkreten Gefahr einer erheblichen Schädigung im Einzelfall verbunden ist.

Ob ein Gift geeignet ist, die Gesundheit zu schädigen, ist nicht nach der abstrakten Möglichkeit, sondern nach den Umständen des Einzelfalls im Hinblick auf Quantität und Qualität des beigebrachten Stoffes, der körperlichen Beschaffenheit des Opfers sowie der Art der Anwendung zu beurteilen. Daher genügt auch bei absolut tödlichen Giften nur die Beibringung einer hinreichenden Menge, wobei von erheblicher Bedeutung sein kann, ob ein Erwachsener oder ein Kind das Opfer ist und ob der Stoff einem Gesunden, einem Kranken oder einem Altersschwachen beigebracht wird.

Dem Kläger wurden „Tabletten in verschiedenen Farben“ verabreicht. Aufgrund vergleichbarer Fälle geht der Senat davon aus, dass dazu auch das in der DDR zu Dopingzwecken verwendete Turinabol zählte. Dabei handelte es sich um ein ursprünglich für die Unterstützung von Heilungsprozessen nach schweren Verletzungen und Operationen entwickeltes Medikament, so dass die Qualifizierung als „Gift“ im Sinne von § 1 Abs. 2 OEG erläuterungsbedürftig ist: Zwar mag dem Wirkstoff bei Anwendung im Rahmen der vorgegebenen Indikation und in richtiger Dosierung allein heilende Wirkung zukommen, im vorliegenden Zusammenhang des Einsatzes allein zur Leistungssteigerung im Sport kann jedoch von einer indikationsgerechten Verwendung nicht ausgegangen werden.

Grundsätzlich sind die dem Kläger verabreichten Dopingsubstanzen daher geeignet, die Gesundheit zu schädigen. Typische Symptome einer akuten Vergiftung, etwa durch Überdosierung (Bauchschmerzen, Bauchkrämpfe, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Kopfschmerzen, Schwindel, Schweißausbrücke, Schock) werden allerdings vom Kläger nicht geschildert und sind auch nicht dokumentiert.

Dazu kommt, dass § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG nur die „vorsätzliche“ Beibringung von Gift erfasst. Es erscheint aber zweifelhaft, ob die Personen, die dem Kläger die Dopingsubstanzen verabreicht haben, überhaupt die schädigenden Wirkungen im Sinne eines Wissens und Wollens in ihren Vorsatz aufgenommen haben, wobei vorliegend zu berücksichtigen ist, dass es sich um einen Sachverhalt aus der Anfangszeit des DDR-Dopings handelt. Soweit der Kläger dies unter dem Gesichtspunkt der Anweisungskette im DDR-Sport bejaht, war dem jedoch nicht weiter nachzugehen. Denn die vom Kläger geltend gemachten langfristigen Gesundheitsschäden sind zur Überzeugung des Senats weder im Sinne einer chronischen Vergiftung durch langandauernde (jahrelange) Exposition noch mittelbar durch die aufgrund des Dopingkonsums gesteigerte Leistungsfähigkeit und die erst dadurch in diesem Umfang möglich gewordene sportliche Betätigung verursacht worden.

Das ergibt sich nach Auswertung der vorliegenden medizinischen Befunde bzw. Sachverständigengutachten.

Davon, dass die dem Kläger verabreichten Substanzen durch ihre unmittelbaren (biochemischen) Wirkmechanismen bestimmte gesundheitliche Schäden verursacht haben, geht der Senat u. a. aufgrund der Anwendungsdauer und des Umstandes, dass das Oralturinabol abgebaut wird und damit nicht mehr nachweisbar ist, nicht aus. Primärschäden sind nicht dokumentiert und nachgewiesen. Einzig die ab 1970 durchgeführten mehrfachen Knieoperationen hat der Kläger angegeben. Diese sind jedoch – wie der SV S für den Senat überzeugend ausführt - nicht auf die Dopinggaben zurückzuführen. Zudem fehlt es an Brückensymptomen. Bei der Musterungsuntersuchung und der Einberufungsüberprüfung im April/März 1978 wurde der Kläger für tauglich befunden (Einberufungsüberprüfung Bl. 563 d. A.: Bis auf Kniebeschwerden beidseits alles in Ordnung – tauglich). Die Kniebeschwerden waren nach den durchgeführten Operationen ausgeheilt. Kniebeschwerden sind dann erstmals wieder im Jahre 2006 dokumentiert (vgl. S. 2 des Gutachtens von S, Bl. 316 d. A.). Auf dieser Grundlage spricht alles dafür, dass die Kniebeschwerden nicht auf die Gabe von Oralturinabol, sondern auf den versorgungsrechtlich nicht geschützten sehr frühen Beginn des Leistungstrainings und die enorme Intensität und Quantität von Trainingseinheiten und die dadurch bedingte chronische Überbelastung von Sehnen und Gelenken zurückzuführen sind. Der Sachverständige S hat im Rahmen seiner Begutachtung eine umfassende Literaturrecherche durchgeführt, konnte aber in den von ihm ausgewerteten Publikationen keinen Hinweis darauf finden, dass Doping mit Verabreichung von anabolen Steroiden oder Oralturinabol ein erhöhtes Risiko in sich birgt, nach längerer Verabreichung eine dem Altersdurchschnitt vorausgehende Arthrose zu verursachen.

Aber selbst wenn man eine Schädigungsfolge im Sinne des Opferentschädigungsrechts dann bejahte, wenn der Kläger nur durch die Gabe anaboler Steroide eine körperliche Leistungsfähigkeit erreicht hätte, die es ihm überhaupt ermöglicht hat, die in Rede stehenden Trainingsintensitäten zu absolvieren (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22. März 2017 - L 7 VE 12/15 – Rdnr. 73), ergibt sich hier kein anderes Resultat. Denn Überlastungen des Körpers durch Trainingsvolumina und –intensitäten sind im mehrjährig ausgeübten Hochleistungssport nichts Außergewöhnliches und treten auch ohne die Einnahme von Dopingmitteln auf, so dass eine eindeutige kausale Zuordnung nicht möglich erscheint.

 Den Feststellungen von R folgt der Senat nicht. Nach den im Gutachten und in der ergänzenden Stellungnahme zitierten Veröffentlichungen aus der Fachliteratur mag sich ein statistischer Nachweis des Bestehens eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Gabe von Dopingmitteln und nachfolgenden Erkrankungen im Bereich zahlreicher Organsysteme ergeben. Im Lichte der vorstehenden Ausführungen reicht der mögliche statistische Nachweis jedoch nicht aus, um für den vorliegend zu beurteilenden konkreten Sachverhalt einen hinreichenden ursächlichen Zusammenhang abzuleiten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe seit Dezember 2022 unter Beiordnung von Rechtsanwalt L (der auf Beiordnung von Rechtsanwalt Leonhard gerichtete Antrag wurde ausdrücklich nicht weiterverfolgt) war abzulehnen, weil der Kläger die für die Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse erforderlichen Unterlagen entgegen der mit gerichtlicher Verfügung vom 14. September 2023 ergangenen Auflage nicht beigebracht hat und dem Gericht die Nachprüfung in dieser Hinsicht daher verwehrt war. Die dazu in der mündlichen Verhandlung vom Kläger gemachte Angabe, er müsse keine Steuererklärung abgeben, „weil er ohnehin keinen Gewinn erziele“, ist keine nachvollziehbare Begründung. Dass eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe „ins Blaue hinein“ nicht in Betracht kommt, bedarf keiner weiteren Ausführungen. Die Entscheidung zur Prozesskostenhilfe ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).

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