L 2 R 3106/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 16 R 701/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 R 3106/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 16. September 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Der Kläger begehrt die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.

Der Kläger ist 1975 geboren und war zuletzt als Monteur versicherungspflichtig beschäftigt. Ab März 2018 war der Kläger arbeitsunfähig krank mit Bezug von Krankengeld bis zur Erschöpfung des Anspruchs, anschließend bezog er Arbeitslosengeld I, seit 07.12.2020 erhält der Kläger Arbeitslosengeld II/ Bürgergeld (vgl. Versicherungsverlauf, Bl. 148 LSG-Akte). Ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 v.H. mit Merkzeichen G ist anerkannt (vgl. ärztlicher Teil VA). Seit 04.05.2020 besteht Pflegegrad 1 (Bl. 59 SG-Akte).

Der Kläger befand sich vom 12.09.2018 bis 03.10.2018 zur stationären medizinischen Rehabilitation in der Rehaklinik K1. Die Ärzte der dortigen Klink stellten in ihrem Entlassbericht vom 15.10.2018 (vgl. ärztlicher Teil der VA) folgende Diagnosen:
Schubförmige multiple Sklerose (ED 4/06) mit leichter Beinparese rechts, Gangataxie
Chronisches Fatigue-Syndrom
Chronisches LWS-Syndrom, Bandscheibenoperation LWS vor ca 16 Jahren
Chronische Omalgie beidseits
Laktoseintoleranz
Tramal-Allergie
Der Kläger wurde als arbeitsunfähig entlassen. Die Tätigkeit als Monteur sei nur noch unter drei Stunden täglich zumutbar, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten könnten aber noch mindestens sechs Stunden arbeitstäglich ausgeübt werden. Heben, Tragen und Bewegen von schweren Lasten ohne technische Hilfsmittel, Ersteigen von Leitern und Gerüsten, Arbeiten mit Absturzgefahr, häufiges Begehen von Treppen und längere Gehstrecken seien nicht zumutbar, ebenso Arbeiten unter Zeitdruck und mit besonderen Anforderungen an die Konzentration und die mentale Flexibilität.

Der Kläger beantragte bei der Beklagten am 09.05.2019 die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.

Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 09.07.2019 ab.

Hiergegen erhob der Kläger am 19.07.2019 Widerspruch und machte geltend, seine Beschwerden seitens des Kopfes seien nicht berücksichtigt worden. Er habe extreme Doppelbilder, massiven Drehschwindel und ein nicht vorhandenes Kurzzeitgedächtnis. Erschwert werde das Ganze durch ein Fatigue-Syndrom. Bislang sei nicht einmal eine persönliche Begutachtung erfolgt.

Der Kläger wurde sodann im Auftrag der Beklagte am 04.12.2019 von dem H1 ambulant untersucht. Dieser stellte in seinem Gutachten vom 05.12.2019 folgende Diagnosen:
1. Behandelte schubförmig verlaufende Encephalomyelitis disseminata bei ausreichend sicherem Stehen und Gehen
2. Zn LWS-OP, zum Untersuchungszeitpunkt keine Reiz- oder Ausfallsymptomatik
3. Somatoforme Schmerzen.
Als Elektroinstallateur könne der Kläger nicht mehr arbeiten, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten
seien ohne Nachtschicht, ohne erhöhten Zeitdruck, ohne Klettern und Steigen, ohne Verantwortung für Personen, überwiegend im Stehen, Gehen, Sitzen sechs Stunden und mehr zumutbar. Der Kläger sei auch in der Lage, täglich mindestens 4x 500 m zu Fuß in einer angemessenen Zeit zurückzulegen. Auch die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei möglich.

Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers daraufhin unter Bezugnahme auf das Gutachten von H1, den Rehaentlassbericht sowie die vorgelegten medizinischen Unterlagen mit Widerspruchsbescheid vom 18.02.2020 als unbegründet zurück. Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente lägen nicht vor. Das Leistungsvermögen des Klägers sei nicht auf unter sechs Stunden herabgesunken.

Hiergegen hat der Kläger am 05.03.2020 zum Sozialgericht (SG) Heilbronn Klage erheben lassen. Zur Begründung ist vorgetragen worden, dass der Kläger an schubförmiger Multipler Sklerose leide und sich diese nicht nur in motorischen oder sensiblen Symptomen, sondern in komplexen neuropsychologischen Beschwerden äußere. Es bestünden Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen. Seit dem Schub im März 2018 leide der Kläger zudem an dauerhaftem Drehschwindel mit Doppelbildern. Zusätzlich bestehe ein Fatigue-Syndrom und eine chronische Schlafstörung. In Übereinstimmung mit den behandelnden Ärzten H2 und R1 werde von einem aufgehobenen Leistungsvermögen ausgegangen.

Das SG hat zunächst Beweis erhoben durch die Befragung der behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen.

Die R1 hat mit Schreiben vom 30.04.2020 (Bl. 27ff. SG-Akte) mitgeteilt, aktuell klage der Kläger über starke Fatigue, Schwindel, Doppelbilder, Gedächtnisstörungen, Blendempfindlichkeit, Kopfschmerzen, Zitterattacken, Grübelneigung, Kraftlosigkeit und Schweißausbrüche. Eine leichte körperliche Tätigkeit sei versuchsweise drei bis sechs Stunden denkbar.

Der M1 hat in seiner Aussage vom 06.05.2020 ausgeführt (Bl. 35ff. SG-Akte), dass er den Kläger aus rein orthopädischer Sicht für noch in der Lage halte, leichte Tätigkeiten mindestens sechs Stunden arbeitstäglich auszuüben; maßgebend sei jedoch die multiple Sklerose und damit das neurologische Fachgebiet.

K2 hat für die Beklagte in einer sozialmedizinischen Stellungnahme (Bl. 45 SG-Akte) hierzu ausgeführt, dass sich aus den Unterlagen auch keine relevante Einschränkung der Gehstrecke ableiten lasse.

Das SG hat weiter Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von Amts wegen bei dem S1. Dieser hat den Kläger am 03.11.2020 ambulant untersucht und in seinem Gutachten vom 10.11.2020 (Bl. 51ff. SG-Akte) folgende Diagnosen gestellt:
1. Schubförmige Multiple Sklerose seit 2008 mit Sensibilitätsstörungen, keine Paresen, keine relevanten Koordinationsstörungen, leichte kognitive Einschränkungen
2. Schädlicher Nikotinkonsum
3. Beschwerden des Bewegungs- und Haltungsapparats bei den orthopädischen Leiden ohne manifeste sensomotorische Ausfälle.
Im Rahmen des Untersuchungsbefundes hat S1 u.a. festgestellt, dass in der Untersuchungssituation keine Störungen des Bewusstseins, der Orientierung, der Auffassung und der Konzentration vorgelegen hätten. Namen und Daten seien zwar teilweise nicht gut erinnerlich gewesen, jedoch seien viele anamnestische Angaben genau bzw. detailliert wiedergegeben worden. Beim d2-Konzentrationstest habe der Kläger zwar nur einen Wert im unteren Normbereich erreicht, dies habe jedoch nach seiner Einschätzung daran gelegen, dass keine ausreichende Visuskorrektur bestehe und der Kläger dadurch die Zeichen schlecht habe erkennen können. Insgesamt habe der Kläger eine recht gute geistige Flexibilität aufgewiesen, kognitive Defizite manifesten Ausmaßes hätten nicht vorgelegen. Eine auffallende Erschöpfung sei in der Gutachtenssituation nicht erkennbar gewesen, auch das Elektroenzephalogramm habe keine Vigilanzschwankungen oder -minderungen gezeigt. Eine Antriebsminderung oder gar psychomotorische Hemmung habe er nicht feststellen können. Im neurologischen Untersuchungsbefund hätten sich Sensibilitätsstörungen und leichte Koordinationsstörungen gezeigt, Paresen der Extremitäten seien aber nicht gegeben gewesen. Zum Tagesablauf befragt hat der Kläger gegenüber dem Gutachter angegeben, dass er morgens gegen 7.00 Uhr aufstehe und dann (ggf. auch für bis zu zwei Stunden) im Umkreis mit dem Hund spazieren gehe. Dann komme seine Freundin vorbei, bringe ihm etwas zu essen und gehe dann zur Arbeit. Sie gebe ihm auch kleinere Aufgaben, z.B. Bad putzen. Fernsehen sei aufgrund der Sehstörung schwierig, er höre Nachrichten und Hörbücher. Er telefoniere viel mit seiner Tochter. Aufgrund der Coronapandemie sehe er diese nur selten. Er habe insgesamt vor der Pandemie gute soziale Kontakte gehabt. Abends komme die Freundin, man koche und unterhalte sich. Im Urlaub sei er zuletzt vor drei Jahren gewesen.
Der Gutachter ist nach alledem zu der Einschätzung gelangt, dass der Kläger leichte Tätigkeiten noch mindestens sechs Stunden in verschiedenen Arbeitshaltungen noch verrichten könne. Die Arbeiten sollten überwiegend im Sitzen sein, zeitweiliges Gehen oder Stehen sei möglich. Eine Tätigkeit sei aber nur in Tagschicht und ohne besondere Anforderungen an die Konzentration bzw. Reaktion möglich. Nicht mehr leidensgerecht seien Tätigkeiten, die eine uneingeschränkte Gang- und Standsicherheit voraussetzten sowie unfallträchtige Tätigkeiten. Widrige klimatische Bedingungen sowie Erschütterungen und Vibrationen sollten vermieden werden. Das Umstellungs- und Anpassungsvermögen sei ausreichend. Das von ihm festgestellte Leistungsvermögen bestehe so seit Beginn der letzten Arbeitsunfähigkeit. Es bestünden weiter keine Einschränkungen, die Arbeitsstelle zu erreichen. Der Kläger sei durchaus in der Lage viermal täglich eine Wegstrecke von mehr als 500 m zu Fuß zurückzulegen. Er könne zu Fuß 500 m in weniger als 20 Minuten zurücklegen. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei möglich und der Kläger fahre im Umkreis Pkw.

Der Kläger ist dem Gutachten mit Schreiben vom 18.03.2021 entgegengetreten. Er habe im Januar 2021 einen weiteren Schub erlitte mit Hypästhesien im linken Bein. Zudem seien deutliche Gesichtsfeldverschlechterungen festgestellt worden. Der Kläger hat hier einen endgültigen Entlassbericht des Klinikums M2 L1 vorgelegt. Dort hatte sich der Kläger vom 27.01.2021 bis 29.01.2021 zur stationären Behandlung befunden (Bl. 98ff. SG-Akte). Zudem ist ein augenärztlicher Befundbericht (Bl. 95 SG-Akte ff.) vorgelegt worden.

Die Beklagte hat am 25.06.2021 hierzu unter Bezugnahme auf eine sozialmedizinische Stellungnahme der D1 vom 21.06.2021 (Bl. 127 SG-Akte) erklärt, dass auch nach Vorlage der neueren medizinischen Unterlagen keine Änderung des von S1 festgestellten quantitativen Leistungsvermögens gegeben sei.

Das SG hat die Klage nach vorheriger Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 16.09.2021 abgewiesen. Die näher dargelegten Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente lägen nicht vor. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen lägen nach Mitteilung der Beklagten zwar vor, der Kläger sei aber weder voll noch teilweise erwerbsgemindert.
Bei dem Kläger stehe ganz im Vordergrund die seit Jahren bekannte, schubförmig verlaufende multiple Sklerose. Hier bestünden Sensibilitätsstörungen, allerdings keine Paresen und keine relevanten Koordinationsstörungen. Die vorliegenden kognitiven Leistungseinschränkungen seien nur leicht ausgeprägt. Es bestehe keine wesentliche Einschränkung der Fingerfeinmotorik. Über die genannten qualitativen Einschränkungen hinaus bedingten die Erkrankungen des Klägers jedoch keine Einschränkung seines Leistungsvermögens in zeitlicher Hinsicht, wie sich überzeugend und nachvollziehbar aus den Gutachten von S1 und H1 sowie dem Entlassungsbericht der Reha-Maßnahme 2018 ergebe. Die motorischen und kognitiven Einbußen würden durch die qualitativen Einschränkungen vollständig berücksichtigt. Entgegen der Einschätzung der behandelnden Neurologin hätten relevante Konzentrationsstörungen oder eine besondere Fatigue durch den gerichtlichen Sachverständigen S1 gerade nicht bestätigt werden können. Es hätten in der Untersuchungssituation keine Störungen des Bewusstseins, der Orientierung, der Auffassung und der Konzentration vorgelegen. Namen und Daten seien zwar teilweise nicht gut erinnerlich, jedoch seien viele anamnestische Angaben genau bzw. detailliert gewesen. Beim d2-Konzentrationstest habe der Kläger zwar nur einen Wert im unteren Normbereich erreicht, dies habe jedoch nach Mitteilung des Gutachters daran gelegen, dass keine ausreichende Visuskorrektur bestanden habe. Insgesamt habe der Kläger eine recht gute geistige Flexibilität aufgewiesen. Kognitive Defizite hätten manifesten Ausmaßes nicht vorgelegen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und unter Berücksichtigung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen sei das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch Tätigkeiten von mindestens sechs Stunden arbeitstäglich im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche verrichten könne. Dies beziehe sich auf körperlich leichte Tätigkeiten überwiegend im Sitzen und in Tagesschicht. Nicht mehr zumutbar seien Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an die Konzentration, unfallträchtige Tätigkeiten, Tätigkeiten unter widrigen klimatischen Bedingungen oder mit der Anforderung eines uneingeschränkten Sehvermögens.
Eine richtungsweisende Verschlechterung sei seit der Begutachtung durch S1 ebenfalls nicht eingetreten. Dies ergebe sich auch nicht aus den zuletzt vorgelegten Unterlagen.
Der Kläger sei auch wegefähig im rentenrechtlichen Sinne. Dies habe ausdrücklich der gerichtlichen Sachverständige S1 bestätigt. Der Kläger selbst habe dem Gutachter gegenüber angegeben, er gehe täglich morgens zwei Stunden mit dem Hund spazieren. Auch wenn er sich dabei nach seinen Angaben in einem Umkreis von einem Kilometer zu seiner Wohnung bewege, sei damit die Belastbarkeit für alltägliche Wege belegt.
Anhaltspunkte dafür, dass vorliegend in der Person des Klägers eine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeeinträchtigungen oder eine spezifische Leistungsbeeinträchtigung gegeben wäre, bestünden ebenfalls nicht. Schließlich sei hier auch nicht von einem verschlossenen Arbeitsmarkt im Sinne der Rechtsprechung des BSG und der dort aufgestellten Kriterien auszugehen. Vom praktisch gänzlichen Fehlen von Arbeitsplätzen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die nur mit leichten körperlichen und geistigen Anforderungen verknüpft sind, könne derzeit nicht ausgegangen werden, auch nicht aufgrund der Digitalisierung oder anderer wirtschaftlicher Entwicklungen. Eine spezifische Leistungseinschränkung liege jedenfalls dann nicht vor, wenn ein Versicherter - wie hier - noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten ohne Heben und Tragen von Gegenständen über fünf kg, ohne überwiegendes Stehen und Gehen oder ständiges Sitzen, nicht in Nässe, Kälte oder Zugluft, ohne häufiges Bücken, ohne Zwangshaltungen, ohne besondere Anforderungen an die Fingerfertigkeit und nicht unter besonderen Unfallgefahren zu verrichten vermöge. Auch ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 Sozialgerichtsgesetzbuch Sechsten Buch (SGB VI) komme nicht in Betracht, da der Kläger nach dem maßgeblichen Stichtag geboren sei.
Der Kläger hat gegen den seinem Bevollmächtigten am 23.09.2021 gegen Empfangsbekenntnis zugestellten Gerichtsbescheid am 30.09.2021 Berufung zu Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg erheben lassen. Zur Begründung ist zunächst der Vortrag aus dem erstinstanzlichen Verfahren wiederholt worden und ergänzend vorgetragen worden, dass sich sein Gesundheitszustand seit der ambulanten Untersuchung durch S1 am 03.11.2020 weiter verschlechtert habe. Er falle ständig hin und habe sich deswegen auch schon einiges gebrochen. Beide Beine seien taub. Am Gutachten von S1 sei ferner zu bemängeln, dass von der Bestimmung des EDSS abgesehen wurde. Außerdem sei die vom Kläger angegebene erhöhte Ermüdbarkeit nicht ausreichend durch psychologische Tests geprüft worden.

Die ehemalige Berichterstatterin hat mit den Beteiligten am 13.01.2022 einen Termin zur Erörterung des Sachverhaltes durchgeführt. Hier hat der Kläger u.a. angegeben, dass in naher Zukunft eine psychologische Behandlung ambulant in einer Klinik anstehe. Auf Nachfrage des Beklagtenvertreters hat der Kläger mitgeteilt, dass er nur noch sehr selten an besonders guten Tagen Auto fahre. Angesprochen auf seine Brüche nach Stürzen hat der Kläger erklärt, dass M1 hierüber Auskunft geben könne.

Daraufhin sind die behandelnden Ärzte erneut als sachverständige Zeugen befragt worden.

Der M1 hat am 31.01.2022 mitgeteilt (Bl. 52ff. LSG-Akte), dass das gesamte Beschwerdebild des Patienten chronisch überlagert werde durch die bestehende chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, chronischem Schmerzmittelgebrauch mit Tilidin seit vielen Jahren, multiplen weiteren Leiden auf orthopädischem Fachgebiet und Multipler Sklerose. Im angefragten Zeitraum (seit Mai 2020) habe ein anhaltendes Beschwerdebild am rechten Fuß nach Fraktur, wohl ebenfalls überlagert durch die bestehende MS dominiert. Dieses sei derzeit noch fortbestehend, wenngleich mit geringer funktioneller Beeinträchtigung. Im Röntgenbild sei die Fraktur ausgeheilt. Zeitweise sei eine HWS-Distorsion und segmentale Funktionsstörung der BWS behandelt worden. Insgesamt sei das Beschwerdebild gleichbleibend.
Durch die multiplen Beschwerden auf orthopädischem Fachgebiet, insbesondere aber das chronische Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren sowie die multiple Sklerose und den chronischen Schmerzmittelgebrauch mit Tilidin bestehe eine deutliche Beeinträchtigung des Leistungsvermögens auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Zum zeitlichen Umfang des Leistungsvermögens könne er nach Aktenlage keine Angaben machen. Die Wegefähigkeit des Klägers sei gegeben.

Die H3 hat am 17.02.2022 erklärt (Bl. 73ff. LSG-Akte), dass folgende Beschwerden bestünden: v.a. mangelnde Konzentration, fluktuierende Visusstörungen, teils Doppelbilder, keine Tiefenwahrnehmung, eine depressive Entwicklung, kognitive Einschränkungen. Es sei daher nur noch ein Leistungsvermögen von unter drei Stunden täglich gegeben.
Ob die Wegefähigkeit gegeben sei, sei sehr abhängig vom tagesaktuellen Befinden, regelmäßig sei dies aber nicht möglich.

Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf eine sozialmedizinische Stellungnahme von B1 vom 04.04.2022 (vgl. Bl. 83 LSG-Akte) hierauf erwidert, dass sich auch aufgrund der neuen Befundvorlage kein ausreichender Anhalt für berechtigte Zweifel an der bisherigen Leistungsbeurteilung ergebe.

Daraufhin ist zunächst B2, R2 mit Verfügung vom 15.09.2022 mit der Erstellung eines Gutachtens von Amts wegen beauftragt worden. Nachdem der Kläger unter Vorlage eines Attestes mitgeteilt hat, dass am 18.09.2022 eine Totalendoprothese li. wegen medialer Schenkelhalsfraktur li. Implantiert worden sei und der Kläger daher nicht in der Lage sei, lange Strecken mit einer Fahrtzeit über eine Stunde zu bewältigen, ist mit Verfügung vom 05.12.2022 M3, Neurologie des J1spitals W1, mit der Erstellung des Gutachtens beauftragt worden.

Dieser hat den Kläger daraufhin am 27.02.2023 ambulant untersucht und in seinem am 26.04.2023 beim LSG eingegangen Gutachten (Bl. 111ff. LSG-Akte) folgende Diagnosen gestellt:
schubförmige Multiple Sklerose (seit 2006)
somatoformes Störungsbild, funktionelle Gangstörung
Zum erhobenen neurologischen Befund hat der Gutachter u.a. angegeben, der Kläger in der Untersuchungssituation freundlich zugewandt, allseits kooperativ und bemüht den Anweisungen des Untersuchers Folge zu leisten gewesen sei. Der Gutachter hat weiter erklärt, die Sprache sei klar, keine Sprach- oder Sprechstörungen, keine inhaltlichen oder formalen Denkstörungen. Obwohl der Kläger angebe, dass er "kein Gedächtnis mehr habe", ließen sich Gedächtnisstörungen bei der Kommunikation nicht nachvollziehen, die Angaben seien sogar erstaunlich detailliert gewesen. Es hätten auch keine Probleme bestanden, sich auf in der Untersuchungssituation gestellten Aufgaben zu konzentrieren und auf Fragen korrekt zu antworten. Insgesamt ergebe sich somit in der Untersuchungssituation ein unauffälliger neuropsychologischer Befund. Der Visus (Nahvisus) am rechten Auge betrage 85%, am linken Auge 75% c.c. Das Gesichtsfeld sei regelrecht. Die Augenfolgebewegung sei glatt, es habe keine Fehlstellung beobachtet werden können, es würden aber Doppelbilder in alle Blickrichtungen angegeben, insbesondere beim Blick nach oben. Der Kläger sei mit einem E-Rollstuhl in das Untersuchungszimmer gekommen, er sei jedoch in der Lage gewesen, ohne Hilfestellung aus dem Rollstuhl aufzustehen und zur Untersuchungsliege zu gehen. Die formale Kraftprüfung zeige eine seitengleiche Kraftentfaltung (MRC KG 5) der proximalen und distalen Muskeln der oberen und unteren Extremität (der linke Unterarm könne aufgrund einer Schienenanlage nur eingeschränkt geprüft werden): Der Muskeltonus sei an der oberen und unteren Extremität regelrecht, es ergebe sich kein Anhalt für das Vorliegen einer Spastik. Auf Aufforderung habe der Kläger im Untersuchungszimmer hin und her gehen können, dabei sei sein Gangbild langsam mit akzentuiertem Anheben des rechten Beines ohne Hinweise auf das Vorliegen einer spastisch-ataktischen Gangstörung gewesen. Zehen und Hackenstand hätten durchgeführt werden können. Auf das monopedale Hüpfen sei verzichtet worden. Insgesamt liege eher eine funktionelle Gangstörung vor. Hierfür spreche auch, dass Kläger, nachdem er sich schwerfällig von der Untersuchungsliege zum Rollstuhl bewegt habe, als er bemerkt habe, dass er sein Feuerzeug auf der Untersuchungsliege verloren hatte, sich relativ behände habe umdrehen können und ohne das Gleichgewicht zu verlieren sein Feuerzeug an sich genommen habe. Die 7,6 m Gehstrecke sei am Rollator in 9,82 s zurückgelegt worden.
Die Muskeleigenreflexe seien rechtsbetont auslösbar. Es fänden sich keine Pyramidenbahnzeichen. Bei der Koordinationsprüfung sei ein regelrechter Finger-Nase und Knie-Hacke-Versuch ohne Intentionstremor demonstriert worden. Der Romberg habe durchgeführt werden können. Der Seiltänzergang sei sehr unsicher demonstriert worden, allerdings untypisch für das Vorliegen einer Ataxie - die Ausführung lasse sogar eher ein recht gutes Gleichgewicht vermuten.
Hinsichtlich des vom Kläger eingeforderten „Extended Disability Status Scale (EDSS)“ hat der Gutachter wie folgt ausgeführt: Hierbei handele es sich um eine von John F. Kurzke entwickelte Skala, die den Schweregrad der Behinderung bei Multiple Sklerose Patienten angebe und mit Grad 0 (normale neurologischen Untersuchung) beginne und bei Grad 10 (Tod) ende. Bei der Ermittlung des EDSS beziehe sich der Arzt auf die Untersuchung der sogenannten funktionellen Systeme (FS) des Patienten. Die funktionellen Systeme, die Eingang in die EDSS gefunden hätten, seien 1) das visuelle System, 2) die Funktion des Hirnstamms, 3) die Pyramidenbahnfunktion, 4) die Kleinhirnfunktion, 5) die Funktion des sensiblen Systems, 6) die Blasen-Mastdarmfunktion und 7) die zerebrale Funktion. Darüber hinaus gehe die Gehfähigkeit (Ambulation) in die Bewertung mit ein, und determiniere ab einem EDSS von 4 die Werte. Die Abhängigkeit von der Gehfähigkeit (insbesondere der EDSS Stufen zwischen 4 - 7) gelte als eine der Nachteile des Bewertungssystems.
Beim Kläger ergäben sich anhand der neurologischen Untersuchung folgende Bewertungen der Funktionssysteme:
Das visuelle-optische System werde mit FS 1, da der Nahvisus des schlechteren Auges bei der neurologischen Untersuchung 0,75 (75%) betragen habe. Die Hirnstammfunktionen werde ebenfalls mit FS 1 (= nur Zeichen) bewertet. Die Pyramidenbahnfunktion werde mit einem FS 2 (= minimale Behinderung) bewertet. Bei der motorischen Untersuchung des Klägers finde sich keine Parese, die Muskeleigenreflexe seien rechts-betont auslösbar, Pyramidenbahnzeichen fänden sich nicht (kein Babinski), auch die Vorhalteversuche und erschwerten Gangprüfungen (Fersen und Zehengang) könnten durchgeführt werden. Eine Spastik der Extremitäten könne nicht gefunden werden. Hinsichtlich der zerebellaren Funktion demonstriere der Kläger eine Unsicherheit im Seiltänzergang, die aber nicht dem Muster einer zerebellaren Ataxie entspreche. Auch weitere Kleinhirnzeichen, wie Extremitätenataxie, Unsicherheit im Romberg, Tremor oder eine Rumpfataxie fänden sich nicht. Die zerebellare Funktion werde daher mit FS 0 bewertet. Die Bewertung der Funktion des sensiblen Systems beruhe immer auf subjektiven Angaben. Der Proband mache hier eine ausgeprägte Sensibilitätsstörung an den Extremitäten geltend, die einem FS 4 entspreche (= deutlich verminderte Berührung oder Mal Schmerzempfindung oder Verlust des Lagesinnes alleine oder kombiniert in 1-2 Extremitäten). Bezüglich der Blasenfunktion werde auf Nachfrage ein imperativer Harndrang angegeben. Katheterisierung sei nicht notwendig. Dies entspricht einem FS 1 (= leicht verzögerte Miktion imperativer Harndrang und oder Obstipation). Hinsichtlich der zerebralen Funktion gebe der Kläger schwere kognitive Defizite an. Objektivierbar seien diese Angaben in der Untersuchung nicht, der Kläger kooperiere während der Untersuchung gut, zeige keine Störung der Merkfähigkeit, der Konzentration oder der Aufmerksamkeit. Angesicht der Krankheitsdauer und dem Ausmaß der Läsionssetzungen im MRT könne dem Kläger ein leichtes bis mäßiges kognitives Defizit zugestanden werden, keinesfalls aber ein schweres Defizit. Diese Bewertung entspreche FS 2 (leicht) bzw. FS 3 (moderat).
Probleme bereite die objektive Bewertung der Gehfähigkeit. Der Kläger habe angeben, vorwiegend auf den Rollstuhl angewiesen zu sein. Er könne nur wenige Schritte mit zwei Gehhilfen laufen. Bei der Untersuchung sei er fähig mit einem Rollator die 7.6 m Gehstrecke zurückzulegen. Bewerte man die Ambulation auf der Basis der Patientenangaben, also Gehfähkeit mit beidseitiger Gehhilfe für mehr als 5 m, aber weniger als 120 m, so ergebe sich rechnerisch unter Einbeziehung der o.g. Funktionssystembewertungen ein EDSS von 6.5 (weil die Gehstrecke im mittleren Bereich des EDSS die Werte determiniere). Nehme man aber an, dass die Therapie mit Tysabri zu einer Stabilisierung geführt habe, was die Untersuchungsbefunde nahelegten, und gehe man von einer funktionell überlagerten Gehfähigkeit (ohne Änderung zu 2018) aus, dann würde der EDSS 4.5 betragen (bei - im Sinne des Klägers - höchstmöglicher Bewertung des sensiblen Systems mit FS 4 und der zerebralen Funktion mit FS 3). EDSS 4.5 bedeute, dass ein Patient ohne Hilfe und Pause gehfähig für 300 m sei und als ganztägig arbeitsfähig angesehen werde, auch wenn er bei Einschränkungen der Aktivitäten des täglichen Lebens auf minimale Hilfe angewiesen sei. Dieser Wert scheine dem Unterzeichner aufgrund seiner Erfahrung mit dem Krankheitsbild MS auch angesichts der Krankheitsdaten und der Krankheitsdauer des Klägers plausibel.
Der Gutachter ist nach alledem zusammenfassend zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Einschränkung des Sehvermögens des linken Auges, die auch bei der Ableitung der VEP ihre Entsprechung finde, bestehe. Des weiteren bestehe eine motorische Ermüdung der unteren Extremität. Eine Pyramidenbahnschädigung links lasset sich bei Ableitung der MEP belegen. Der Kläger leide unter ausgeprägten Sensibilitätsstörungen der Extremitäten. Aufgrund der Dauer der Erkrankung und den multiplen Herdsetzungen im zerebralen MRT seien milde bis moderate kognitive Störungen anzunehmen. Aufgrund dessen seien Tätigkeiten, die ein uneingeschränktes Sehvermögen voraussetzen, nicht geeignet. Tätigkeiten, die eine uneingeschränkte Mobilität sowie Gang- und Standsicherheit voraussetzten, seien ebenfalls nicht leidensgerecht. Angesichts der milden bis moderaten kognitiven Defizite und der schnellen Erschöpfbarkeit seien Tätigkeiten, die besondere Anforderungen an die Konzentration bzw. Reaktionsfähigkeit stellten, nicht leidensgerecht. Schichtarbeit sei bei Multipler Sklerose ebenso wie widrige klimatische Bedingungen aufgrund der Temperaturempfindlichkeit generell zu vermeiden. Der Kläger sei nach alledem in der Lage leichte körperliche Tätigkeiten ohne Gefährdung seiner Gesundheit auszuführen, insbesondere, wenn sie überwiegend im Sitzen durchgeführt und nur zeitweilig durch Gehen und Stehen unterbrochen würden. Für seinen zuletzt ausgeübten Beruf als Elektroinstallateur im Klimaanlagenbau liege ein aufgehobenes Leistungsvermögen vor. Vorstellbar seien jedoch leichte Arbeiten, wie Montieren, Sortieren und/oder das Bedienen von Maschinen (unter Berücksichtigung des Arbeitsschutzes).
Darüber hinaus sollte auf Schichtarbeit verzichtet werden. Bei relevanter Fatiguesymptomatik durch die MS seien regelmäßige und längere Pausen notwendig, auf eine ergonomische Gestaltung des Arbeitsplatzes sollte geachtet werden. Angesichts der erhobenen Untersuchungsbefunde sei die präsentierte Mobilitätsstörung zu hinterfragen. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger bei zumutbarer Willensanstrengung in der Lage sei, die Anforderungen des täglichen Lebens zu meistern und seinen Arbeitsweg, auch unter Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zurückzulegen. Die festgestellte Leistungsbeschränkung bestehe seit mindestens 2018. Eine Aussage darüber, inwieweit psychiatrische Komorbiditäten für die Leistungseinschränkung für den Kläger von Bedeutung seien, könne er nicht beantworten. Es sei hier aber auf das neurologisch-psychiatrische Vorgutachten von S1 zu verweisen, der hinsichtlich des psychiatrischen Befundes keine pathologischen Befunde erhoben habe.

Der Kläger hat nach Erhalt des Gutachtens unter Bezugnahme auf einen Arztbrief der behandelnden H3 vom 04.07.2023 (vgl. Bl. 139 LSG-Akte) vorgetragen, dass nach deren Auffassung keine dauerhafte Belastbarkeit vorliege, eine Gehfähigkeit bestehe nur morgens für die ersten Stunden und das auch nicht täglich. Es liege auch kognitiv keine Ausdauerleistung vor. Deshalb sehe sie beim Kläger keine Befähigung zur kontinuierlichen Berufsfähigkeit. Aus weiteren Unterlagen gehe zudem hervor, dass es nach der gutachterlichen Untersuchung zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes gekommen sei. Dem Bericht der Neurologin vom 08.05.2023 (Bl. 138 LSG-Akte) seien ruckartige Blicksakkaden zu entnehmen. Dem Bericht vom 04.07.2023 sei zudem zu entnehmen, dass der Kläger nach seiner Covid Infektion im April 2023 definitiv schlechter sehe.

Die Beklagte hat hierauf unter Bezugnahme auf eine sozialmedizinische Stellungnahme von B1 vom 18.08.2023 erwidert, dass die bisherige Leistungseinschätzung auch nach Vorlage der neuen Unteralgen als weiterhin bestätigt ansehe. In einer erneuten Kontrolle bei der Neurologin im Mai 2023 habe der Kläger selbst über eine deutliche Besserung berichtet, indem er nämlich die morphinhaltige Schmerzmedikation selbständig beendet habe und auch das schlafanstoßende Medikament Tavor habe reduzieren können. Er habe auch geschildert, dass er versuche viel mit dem Hund draußen zu sein. Aktuell bestehe zusätzlich keine Therapie, weder Ergo- noch Physiotherapie.

Der Kläger beantragt,

            den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 16. September 2021 sowie den             Bescheid vom 9. Juli 2019 n der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Februar             2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Rente wegen voller             hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf die angefochtenen Entscheidungen und die Stellungnahmen ihres sozialmedizinischen Dienstes.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.



Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Berufungsausschließungsgründe liegen nicht vor (§ 144 SGG).

Die Berufung ist jedoch unbegründet.

Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG Heilbronn vom 16.09.2021 und der Bescheid der Beklagten vom 09.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.02.2020 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung.

Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zutreffend die rechtlichen Grundlagen für die hier vom Kläger beanspruchte Rente wegen Erwerbsminderung (§ 43  SGB VI) dargelegt und zutreffend ausgeführt, dass ein Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung nicht besteht, weil der Kläger noch mindestens sechs Stunden täglich für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leistungsfähig ist. Der Senat schließt sich dem nach eigener Prüfung uneingeschränkt an, sieht deshalb gemäß § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe weitgehend ab und weist die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Gerichtsbescheides zurück.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Berufungsverfahren. Der Senat kann sich nach der Gesamtwürdigung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen nicht davon überzeugen, dass der Kläger unter Berücksichtigung qualitativer Leistungseinschränkungen nicht mehr in der Lage ist, einer leichten körperlichen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für sechs Stunden und mehr nachzugehen. Wie das SG ist auch der Senat davon überzeugt, dass keine so weitreichenden Einschränkungen bestehen, als dass das Leistungsvermögen des Klägers hier auf unter sechs Stunden herabgesunken ist.

Zu einem anderen Ergebnis führen insbesondere auch nicht die Ermittlungen im Berufungsverfahren. Vielmehr hat auch das von Amts wegen eingeholte Gutachten des M3 ein mindestens sechsstündiges Leistungsvermögen für zumindest leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes bestätigt. Die Ausführungen des Gutachters sind schlüssig, widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Der Gutachter hat den Krankheitsverlauf unter Auswertung der vorliegenden Befundunterlagen ausführlich geschildert, ist den Beschwerden nachgegangen und hat den Kläger sorgfältig und umfassend untersucht. Er hat eine ausführliche Anamnese erhoben, hat den Kläger umfassend zu seinen Beschwerden, seiner Biographie und Krankheitsgeschichte und zur aktuellen Therapie befragt und einen umfassenden neurologischen Befund erhoben. Hierbei hat er u.a. den WEIMuS Fragebogen (Selbstauskunft zur Fatiuge) eingesetzt, den Visus und das Gesichtsfeld untersucht, die Gehstrecke (am Rollator) getestet, Gangprüfungen vorgenommen, Muskelreflexe, die Oberflächensensibilität, das Vibrationsempfinden und die Koordination geprüft. Darüber hinaus ist eine elektrophysiologische Zusatzdiagnostik (Visuell evozierte Potentiale [VEP], Magnetevozierte Potentiale [MEP] zum M. tibialis anterior, Tibialis-SEP) durchgeführt worden und deren Ergebnisse ausführlich dargelegt worden. Der Senat hat daher keinen Anlass an der Vollständigkeit der erhobenen Befunde und an der Richtigkeit der daraus gefolgerten Leistungsbeurteilung von T1, wie auch an den Feststellungen des in erster Instanz eingeholten Gutachtens bei S1, zu zweifeln. 

Der Senat ist nach alledem der Überzeugung, dass der Kläger noch leichte Tätigkeiten mit den bereits vom SG festgestellten qualitativen Einschränkungen, aus denen sich auch keine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen ableiten lässt, noch sechs Stunden und mehr arbeitstäglich zumutbar verrichten kann.

Es ist weder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen noch eine spezifische Leistungsbehinderung feststellbar (vgl. BSG, Urteil vom 01.03.1984, 4 RJ 43/83 = SozR 2200 § 1246 Nr. 117 unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 30.11.1982, 4 RJ 1/82 = SozR 2200 § 1246 Nr. 104), noch war der Arbeitsmarkt für die Klägerin nicht nachweislich rentenbegründend verschlossen. Insbesondere war die Erwerbsfähigkeit des Klägers auch nicht aufgrund einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes - beispielsweise wegen eingeschränkter Wegefähigkeit oder dem Erfordernis betriebsunüblicher Pausen - beeinträchtigt.

Der Senat ist nicht davon überzeugt, dass die Wegefähigkeit des Klägers rentenrelevant eingeschränkt ist (vgl. hierzu: BSG, Urteil vom 14.03.2002, B 13 RJ 25/01 R, juris Rdnr. 21 m.w.N.). Da ein Minimum an Mobilität zur Ausübung einer Tätigkeit zum Zweck des Gelderwerbs, die in der Regel nur außerhalb der Wohnung möglich ist, erforderlich ist (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.1991, 13/5 RJ 73/90 = SozR 3-2200, § 1247 Nr. 10; Urteil vom 09,08.2001, B 10 LW 18/00 R = SozR 3-5864, § 13 Nr. 2), gehört zur Erwerbsfähigkeit grundsätzlich auch die Fähigkeit des Versicherten, viermal am Tag Wegstrecken von (mehr als) 500 m Länge mit zumutbarem Zeitaufwand, d.h. jeweils innerhalb von 20 Minuten, zu Fuß zu bewältigen und zweimal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu können (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.1991, 13/5 RJ 73/90 = SozR 3-2200, § 1247 Nr. 10). Dass dies für den Kläger nicht (mehr) möglich ist, ergibt sich nicht aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen. Sowohl im Gutachten von S1 als auch von M3 wird die Wegefähigkeit ausdrücklich bejaht. M3 weist in diesem Zusammenhang insbesondere darauf hin, dass die vom Kläger angegebenen massiven Einschränkungen sich gerade nicht hätten objektivieren lassen. Auch der behandelnde M1 hat in seiner Aussage vom 31.01.2022 diese Einschätzung bestätigt. Allein die behandelnde Neurologin ist in ihrer Aussage vom 17.02.2022 zuletzt davon ausgegangen, dass die Zurücklegung der geforderten Strecke regelmäßig nicht möglich sei. Auffällig ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass diese Ärztin in einem Bericht vom 08.05.2023 das Gangbild als „recht gut“ beschrieben hat (Bl. 138 LSG-Akte). Darüber hinaus sieht der Senat die Einschätzung der behandelnden Ärztin vom 17.02.2022 durch das Gutachten von M3 als widerlegt an, der davon ausgeht, dass der Kläger bei zumutbarer Willensanstrengung in der Lage ist, die Anforderungen des täglichen Lebens zu meistern und seinen Arbeitsweg, auch unter Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zurückzulegen. Dies ergibt sich aus dem vom Gutachter erhobenen Befund, wonach der Muskeltonus an der oberen und unteren Extremität regelrecht gewesen sei und es sich kein Anhalt für das Vorliegen einer Spastik ergebe. Auf Aufforderung konnte der Kläger im Untersuchungszimmer hin und her gehen, dabei ist sein Gangbild langsam mit akzentuiertem Anheben des rechten Beines ohne Hinweise auf das Vorliegen einer spastisch-ataktischen Gangstörung gewesen. Zehen und Hackenstand hat er durchführen können. Insgesamt liegt nach Einschätzung des Gutachters eher eine funktionelle Gangstörung vor. M3 hat hier weiter ausgeführt, dass hierfür nämlich auch spreche, dass der Kläger, nachdem er sich schwerfällig von der Untersuchungsliege zum Rollstuhl bewegt habe, als er bemerkt habe, dass er sein Feuerzeug auf der Untersuchungsliege verloren hatte, sich relativ behände habe umdrehen können und ohne das Gleichgewicht zu verlieren sein Feuerzeug an sich genommen habe. Die 7,6 m Gehstrecke ist vom Kläger am Rollator zudem in 9,82 s zurückgelegt worden. Nicht zuletzt hat der Kläger auch bei M3 angegeben, regelmäßig und auch für längere Zeit (45 bis 90 Minuten) den Hund auszuführen, was auch im Bericht der H3 vom 08.05.2023 bestätigt worden ist. 

Soweit der Kläger inzwischen angibt, immer wieder auf die Benutzung eines Elektrorollstuhles angewiesen zu sein, ergibt sich nicht anderes. Zum einen bestehen auch für den Senat erhebliche Zweifel am Bestehen der geltend gemachten hochgradigen Mobilitätseinschränkung, die M3 nicht durch den motorischen Untersuchungsbefund und die evozierten Potentiale objektivieren konnte. Darüber hinaus sind bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (z.B. Gehstützen) und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.1991 – 13/5 RJ 73/90 – juris = SozR 3-2200 § 1247 Nr. 10; SozR 3-2600 § 44 Nr. 10), so dass die Wegefähigkeit auch bei (regelmäßiger) Nutzung eines Rollstuhles oder Rollators dennoch gegeben ist.

Zu keinem anderen Ergebnis führt ferner, dass beim Kläger das Merkzeichen „G“ festgestellt ist. Denn es reicht für eine rentenbegründende Einschränkung der Wegefähigkeit im Sinne des SGB VI nicht aus, wenn das Merkzeichen „G“ anerkannt ist, da hier unterschiedliche Voraussetzungen gegeben sind (vgl. Freudenberg in: juris-PK-SGB VI, 3. Aufl. 2021, § 43 Rz. 256).
Der Kläger benötigt nach Überzeugung des Senats auch keine zusätzlichen Pausen. Es mag zwar sein, dass aufgrund der bestehenden Erkrankung häufigere Ruhepausen notwendig sind. Es ist den vorliegenden medizinischen Unterlagen aber nicht zu entnehmen, dass diese ein Maß erreicht hätten, das nicht durch die nach dem Arbeitszeitgesetz zustehenden Pausen (Nach § 4 Arbeitszeitgesetz steht vollschichtig tätigen Arbeitnehmern eine Ruhepause von 30 Minuten zu, die auch in Zeitabschnitte von jeweils mindestens 15 Minuten aufgeteilt werden können) sowie die sog. Persönlichen Verteilzeiten (hierbei handelt sich um Zeitanteile, die nicht für den Arbeitsprozess selbst verwendet, aber dennoch als Arbeitszeit gerechnet werden, zB für persönliche Verrichtungen, Toilettengänge, Erholungs- und Entspannungszeiten außerhalb der Pausen; vgl. hierzu LSG Sachsen-Anhalt 26.02.2015, L 1 R 55/14, juris mwN) abgedeckt werden können.

Weitere Ermittlungen waren nicht geboten. Der Senat sieht den Sachverhalt durch die eingeholten Gutachten in erster und zweiter Instanz sowie im Verwaltungsverfahren als umfassend aufgeklärt an. Auch aus den zuletzt vorgelegten medizinischen Unterlagen ergibt sich keine so wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers, dass das Leistungsvermögen auf unter sechs Stunden auch für leichte Tätigkeiten herabgesunken ist. Vielmehr berichtet die behandelnde Neurologin in einem Bericht über eine Kontrolle im Mai 2023, dass der Kläger selbst über eine deutliche Besserung berichtet habe, indem er nämlich die morphinhaltige Schmerzmedikation selbständig beendet habe und auch das schlafanstoßende Medikament Tavor habe reduzieren können. Er habe auch geschildert, dass er versuche viel mit dem Hund draußen zu sein und aktuell keinen zusätzlichen Therapien, weder Ergo- noch Physiotherapie, nötig seien.

Nach alledem besteht kein Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung.

Ein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit besteht schon deshalb nicht, weil der Kläger 1975 und damit nach dem maßgeblichen Stichtag des § 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI geboren ist.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).



 

Rechtskraft
Aus
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