L 6 SB 1277/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 17 SB 3488/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 1277/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 16. März 2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Neufeststellung des Grades der Behinderung (GdB) mit mindestens 50 seit dem 14. August 2018.

Sie ist 1967 in Sri Lanka geboren und 1994 nach Deutschland gekommen. Zweimal war sie in Abschiebehaft, die Abschiebung ist jeweils im letzten Moment verhindert worden. Zwischenzeitlich verfügt die Klägerin über die deutsche Staatsbürgerschaft. In Sri Lanka hat sie den Beruf der Krankenschwester erlernt, ihr Abschluss wurde aber in Deutschland nicht anerkannt. Sie ist als Küchenhilfe in einer Krankenhausküche beschäftigt. Die Klägerin ist verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern. Ihr Ehemann war als Keramikhelfer beschäftigt und ist derzeit arbeitslos (vgl. Rehabilitationsentlassungsbericht des P1sanatorium
A1 und Gutachten des R1).

Dem Erstantrag auf Feststellung des GdB vom 13. März 2014 fügte die Klägerin den Bericht des
O1 Kinikum über ihre stationäre Behandlung vom 24. Februar bis zum 2. März 2014 bei. Hieraus ergab sich die Diagnose DCIS (duktales Carcinoma in situ) der linken Mamma PTis, Nx, Mx, G3. Als Therapie sei eine sekundäre Ablatio mammae und eine axilliäre Sentinelnodebiopsie links am 26. Februar 2014 erfolgt. Histologisch wurde das Carcinom mit PTis N0 M0 G3 klassifiziert.

L1 bewertete versorgungsärztlich einen Verlust der linken Brust und eine Erkrankung der linken Brust (in Heilungsbewährung) mit einem Einzel-GdB von 50, der dem Gesamt-GdB entsprach.

Das Landratsamt
O2 (LRA) stelle daraufhin durch Bescheid vom 13. Juni 2014 ab dem 13. März 2014 einen GdB von 50 fest.

Am 29. Februar 2016 leitete das LRA ein Nachprüfungsverfahren ein. In dem der Klägerin übersandten Vordruck gab sie als bei der Bewertung des GdB zu berücksichtigende Gesundheitsstörungen als Folgen der Ablation ein Lymphödem am linken Arm und Beschwerden an der linken Schulter an.

Der Frauenarzt
H1 teilte mit, dass sich die Klägerin relativ gut regeneriert habe. Außerordentliche Beschwerden bestünden aber immer noch am linken Arm und im Schulterbereich. Es läge ein Lymphödem vor, das die Beweglichkeit einschränke. Für ein Rezidiv bestehe kein Anhalt.

Versorgungsärztlich berücksichtigte
C1 nunmehr den Verlust der linken Brust mit einem Teil-GdB von 30 und die Lymphstauung des linken Armes sowie dessen Gebrauchseinschränkung mit einem Teil-GdB von 20. Der Gesamt-GdB betrage 40.

Nach Anhörung der Klägerin hob das LRA durch Bescheid vom 19. Januar 2017 den Bescheid vom 13. Juni 2014 auf und stellte ab dem 23. Januar 2017 einen GdB von 40 fest.

Deshalb erhob die Klägerin Widerspruch, zu dessen Begründung sie auf die ärztliche Bescheinigung des
H1 verwies. Danach habe sie unter einem Mamma-Carcinom der linken Brust gelitten, die Ablatio sei am 22. Februar 2014 durchgeführt worden. Am 30. November 2016 sei eine Mammarekonstruktion durch Eigengewebe vom rechten Oberschenkel erfolgt. Um Beibehaltung der Schwerbehinderteneigenschaft werde gebeten.

Ebenso kam zur Vorlage der Bericht des Universitätsklinikum
F1 über den stationären Aufenthalt der Klägerin vom 29. November bis zum 6. Dezember 2016, der als Diagnosen ausgedehntes DCIS linke Brust, Zustand nach (Z. n.) stereotaktischer Biopsie am 27. November 2013, Z. n. partieller Resektion mit Defektdeckung durch Mobilisation und Adaption von mehr als 25 % des Brustdrüsengewebes am 7. Januar 2014, Nachresektion am 14. Januar 2014 und Ablatio mammae links am 22. Februar 2014 nannte. Am 30. November 2016 sei eine Mammarekonstruktion links durch Eigengewebe vom Oberschenkel rechts vorgenommen worden. Postoperativ habe sich eine gute Rekapillarisierung der Lappenplastik gezeigt, eine Minderdurchblutung sei nicht aufgetreten.

Die
B1 gab an, die Klägerin hausärztlich zu betreuen. Aufgrund der Mammarekonstruktion bei Z. n. Ablatio bei Mamma-Carcinom links sei aus medizinischer Sicht die Beibehaltung der Schwerbehinderteneigenschaft gerechtfertigt gewesen.

Versorgungsärztlich führte
M1 aus, der Verlust der linken Brust sei nach Ablauf der Heilungsbewährung mit einem Einzel-GdB von 30 korrekt bewertet, nach der Mammarekonstruktion sei diese Bewertung weitgehend. Auch das Lymphödem sei hinreichend berücksichtigt.

Der Beklagte wies daraufhin den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 5. Oktober 2017 zurück. Nachdem kein Rezidiv der malignen Grunderkrankung aufgetreten sei, bedinge der Verlust der linken Brust einen Einzel-GdB von 30. Unter Berücksichtigung der weiteren Funktionseinschränkung „Lymphstauung des linken Armes, Gebrauchseinschränkung des linken Armes“ ergebe sich ein Gesamt-GdB von 40. Nach der Mammarekonstruktion sei diese Bewertung eher weitgehend.

Mit dem streitgegenständlichen Antrag vom 14. August 2018 begehrte die Klägerin die Neufeststellung des GdB. Sie nannte als hierfür maßgebliche Gesundheitsstörungen eine starke Beeinträchtigung und eingeschränkte Beweglichkeit des rechten Beines aufgrund der Muskelentfernung für den Brustaufbau, eine Bewegungseinschränkung der linken Schulter und eine Fatigue-Symptomatik, wodurch sie vor allem bei ihrer Arbeitstätigkeit behindert werde.

Aus dem ärztlichen Entlassungsbericht des P1sanatorium
A1 über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme der Klägerin vom 26. April bis zum 17. Mai 2018 ergaben sich die Diagnosen DCIS linke Mamma pTis pN0 (0/2sn) M0 G3 R0 L0 V0, 30. November 2016 Mammarekonstruktion links mit Eigengewebe vom Oberschenkel rechts, sekundäres Lymphödem linker Arm, chronische Rückenschmerzen, psychophysische Erschöpfung und Stressinkontinenz. Das arbeitstägliche Leistungsvermögen für die ausgeübte Beschäftigung als Küchenhilfe habe sechs Stunden und mehr betragen. Die Klägerin habe angegeben, seit der Operation unter einem Lymphödem am linken Arm zu leiden, es erfolgten regelmäßige Lymphdrainagen. Daneben bestünden Verspannungen im Halswirbelsäulen (HWS)-/Brustwirbelsäulen (BWS)-Bereich und Schmerzen in der Lendenwirbelsäule (LWS) mit Ausstrahlung ins rechte Bein. Die Schulterbeweglichkeit links sei eingeschränkt, der Nackengriff nur mit Mühe, der Schürzengriff nicht möglich gewesen. Durch die Operationen sei sie psychisch sehr belastet, die Krankheitsverarbeitung sei noch nicht abgeschlossen gewesen.

Es habe bei Aufnahme eine leichte Stressharninkontinenz bestanden. Die Narbe nach Mammarekonstruktion sei reizlos gewesen. Im Schulter-Nacken-Bereich habe sich die Muskulatur deutlich verspannt gezeigt, ein Druck- oder Klopfschmerz der Wirbelsäule (WS) habe nicht vorgelegen. An der linken Schulter habe eine eingeschränkte Beweglichkeit mit einer Abduktion nur bis circa 100° imponiert, sonst seien alle anderen Gelenke aktiv und passiv frei beweglich ohne Ödeme gewesen. Im psychischen Befund habe sich die Klägerin stabil, freundlich zugewandt und zu allen Qualitäten orientiert präsentiert. Bei einem angegebenen Grad der psychischen Belastung durch die Tumorerkrankung von drei bei einer Skala von eins bis zehn sei eine psychologische Betreuung nicht erforderlich gewesen, eine solche Notwendigkeit bestehe erst ab einem Belastungsgrad von sechs.

Zum Abschluss der Rehabilitationsmaßnahme habe sich die Klägerin sowohl psychisch als auch physisch recht gut erholt gefühlt. Die Beweglichkeit der Schulter-Arm-Region sei deutlich gebessert gewesen, hingegen seien nach längerem Stehen immer noch Schmerzen im rechten Oberschenkel aufgrund der Entnahme von Eigengewebe aufgetreten. Für ein Lymphödem hätten keine Hinweise bestanden.

Der Frauenarzt
H1 gab an, die Klägerin beklage auch weiterhin eine Schultersteife links sowie eine Ödemneigung im Thorax und Oberarmbereich links. Sie erhalte Lymphdrainagen. In ihrer Beschäftigung sei sie eingeschränkt, da sie nicht fünf Stunden lang stehen könne. Ansonsten bestehe ein relatives Wohlbefinden. Aus dem beigefügten Bericht des E1 ergab sich anamnestisch ein Z. n. Schulter-OP links (dritte Operation) bei der Diagnose Schultersteife links.

Der Versorgungsarzt
B2 bewertete den Gesamt-GdB auch weiterhin mit 40 (Verlust der linken Brust Teil-GdB 20, Lymphstauung des linken Armes, Gebrauchseinschränkung des linken Armes Teil-GdB 20 und psychovegetatives Erschöpfungssyndrom Teil-GdB 10). Die Gebrauchseinschränkung des rechten Beines begründe keinen Teil-GdB von mindestens 10.

Hierauf gestützt lehnte das LRA durch Bescheid vom 12. November 2018 die Höherbewertung des GdB ab.

Den deswegen erhobenen Widerspruch begründete die Klägerin insbesondere mit der Gebrauchseinschränkung ihres rechten Beines. Sie legte das ärztliche Attest der
V1 vor, wonach sie bei einem Z. n. Mammarekonstruktion links mit Eigengewebe vom Oberschenkel rechts im Bereich der Entnahmestelle, des medialen Oberschenkels, bei längerer Belastung Schmerzen angegeben habe. Ebenso kam zur Vorlage der bereits aktenkundige Rehabilitationsentlassungsbericht des P1sanatorium     A1.

Aus der ärztlichen Bescheinigung des Frauenarztes
H1 ließ sich entnehmen, dass die letzte Untersuchung der Klägerin am 28. Januar 2018 erfolgt sei. Bei einem Z. n. operiertem Mammacarcinom sei eine Mammarekonstruktion mit Eigengewebe aus dem rechten Oberschenkel vorgenommen worden. Seitdem bestünden starke Beschwerden am linken Arm und der linken Schulter aufgrund eines Lymphödems. Ebenso träten an der Gewebeentnahmestelle am rechten Oberschenkel starke Schmerzen auf. Aufgrund chronischer Rückenschmerzen und schneller Erschöpfbarkeit sei die Klägerin häufig an der Grenze ihrer Kompensationsfähigkeit. Sie fühle sich langfristig nicht in der Lage, eine berufliche hebende Tätigkeit zu tolerieren.       

Nach der versorgungsärztlichen Stellungnahme des
Z1 sei eine Abhilfe nicht möglich gewesen. Der Verlust der Brust sei bereits hoch bewertet, es sei eine Rekonstruktion mit Gewebe aus dem Oberschenkel erfolgt. Eine relevante Gebrauchseinschränkung des Beines folge hieraus nicht. Ebenso liege keine dauerhaft behandlungsbedürftige psychische Störung vor. Die Ödembildung des linken Armes sei behandelbar und ausreichend gewürdigt. An der bisherigen versorgungsärztlichen Stellungnahme sei festzuhalten.

Durch Widerspruchsbescheid vom 21. August 2019 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Über den GdB sei letztmals mit Bescheid vom 19. Januar 2017 entschieden worden. In den Verhältnissen, die diesem Bescheid zugrunde gelegen hätten, sei eine wesentliche Änderung nicht eingetreten. Nach Auswertung der zur Vorlage gekommenen medizinischen Unterlagen habe eine Verschlimmerung, die eine Erhöhung des GdB rechtfertigen könnte, nicht festgestellt werden können.  


Am 29. August 2019 hat die Klägerin beim Sozialgericht Freiburg (SG) Klage erhoben, mit der sie die Feststellung eines GdB von mindestens 50 verfolgt hat.

Neben bereits aktenkundigen medizinischen Unterlagen hat die Klägerin den Bericht des H2, Praxis für Physiotherapie, zur Vorlage gebracht, wonach bei ihr wiederkehrende Wassereinlagerungen unter der linken Schulter und in der linken Brust aufgetreten seien, die sich je nach Belastung verschlimmert hätten. Zudem habe in der linken Schulter eine Bewegungseinschränkung ab einer Höhe von 90° bestanden, damit seien alle Tätigkeiten über 90° Flexion oder Abduktion mit Schmerzen verbunden gewesen. Trotz mittlerweile fünfjähriger Therapie hätten diese Einschränkungen auch weiterhin vorgelegen. Außerdem habe die Klägerin wiederkehrende Wassereinlagerungen im rechten Oberschenkel seit der Gewebeentnahme für die Brustrekonstruktion beklagt; längeres Stehen sei ihr deshalb sehr schwer gefallen. 

Das SG hat zunächst die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen.

N1 hat von Behandlungen der Klägerin am 10. Mai und am 3. Juni 2019 wie am 3. Februar 2020 berichtet. Als Diagnosen habe er eine persistierende Arthralgie des linken Kniegelenks sowie ein femoropatellares Schmerzsyndrom links bei Gonarthrose links und degenerativer Innenmeniskusläsion links gestellt. Das linke Kniegelenk sei reizlos und ohne Erguss bei einer Beweglichkeit von Extension/Flexion 0-0-135° gewesen. Es seien immer wieder Schwellungszustände aufgetreten, insbesondere längeres Stehen und Gehen sei hierdurch eingeschränkt gewesen. Die Funktionsbehinderung des linken Beines habe einen Einzel-GdB von 10 bedungen, der Gesamt-GdB habe sich hierdurch nicht geändert. Aus der beigefügen Beurteilung der MRT des linken Kniegelenks vom 18. Juni 2019 hat sich ein fortgeschrittener degenerativer Schaden, ein Einriss des Innenmeniskushinterhorns in der Wurzel, eine leichte mucoide Degeneration des ACL ohne Kontinuitätsunterbrechung, eine mediale Gonarthrose Grad 1 bis 2, eine Chondropathie Grad 3 an der dorsalen Patellafläche, ein mäßiger Gelenkerguss, eine leichte Synovitis, kein freier Gelenkkörper und eine Bakerzyste ergeben.

Der sachverständigen Zeugenaussage der S1 hat sich eine erste Untersuchung der Klägerin nach Praxisübernahme von      H1 am 10. Februar 2020 entnehmen lassen. Es habe ein Z. n. DCIS links mit Wiederaufbau, ein Uterus myomatosus und eine Einschränkung der Armbeweglichkeit links bestanden.

Das SG hat sodann das internistische Gutachten des H3 aufgrund der ambulanten Untersuchung der Klägerin am 1. Juli 2020 erhoben. Dieser hat auf internistischem Fachgebiet lediglich eine Adipositas objektivieren können. Das von der Klägerin angegebene sekundäre Lymphödem des linken Armes nach Lymphknotenentfernung in der Achselhöhle sei nicht nachweisbar gewesen, wobei die Effektivität der angewandten Lymphdrainage zu berücksichtigen gewesen sei. Nicht ausgeschlossen habe können, dass sich nach längerem Stehen tatsächlich am rechten Fuß ein Ödem ausbilde. Außerhalb des internistischen Fachgebiets habe eine verminderte Beweglichkeit des linken Schultergelenks bestanden. Für das seelische Befinden der Klägerin sei der Verlust der Mamma von wesentlicher Bedeutung gewesen. Die mäßige Adipositas habe keinen Einzel-GdB gerechtfertigt. Das Lymphödem des linken Armes habe zu keinen wesentlichen Funktionsbeeinträchtigungen geführt, jedoch vorbeugende Maßnahmen erfordert, um eine Zunahme der Symptomatik zu verhindern. Ein Einzel-GdB von 10 sei deshalb gerechtfertigt gewesen. Für den Gesamt-GdB seien vorwiegend die orthopädischen Beeinträchtigungen, das linke Schultergelenk, und die seelische Belastung durch den Verlust der linken Brust maßgeblich gewesen.

Die Klägerin habe angegeben, dass seit der Operation der Brust die linke Schulter nicht mehr so beweglich sei, der linke Arm sei schmerzhaft und es habe sich ein Lymphödem entwickelt, das Lymphdrainagen erforderte. Wegen des Ungleichgewichts der oberen Extremitäten sei auch ihr Nacken verspannt. Seit der Gewebeentnahme am rechten Oberschenkel habe der rechte Fuß zum Anschwellen geneigt, nach dem Liegen oder Sitzen habe sie zunächst nicht gut gehen können. In der rechten Schädelhälfte seien Migränebeschwerden aufgetreten. Seitdem sie bei der Arbeit ausgerutscht sei, habe sie Beschwerden im rechten Knie. Zudem sei eine leichte Harninkontinenz störend.

Der Allgemein- und Kräftezustand sei bei deutlicher Adipositas (92 kg, 172 cm) gut gewesen. Ein Ödem habe weder am linken Arm noch am rechten Fuß festgestellt werden können. Die Beweglichkeit des linken Schultergelenks sei deutlich eingeschränkt, der Nacken- wie Schürzengriff nicht möglich gewesen. Am linken Schultergelenk und der Nackenmuskulatur habe zusätzlich eine deutliche Druckschmerzhaftigkeit imponiert, hingegen habe an der WS keine Klopfdolenz vorgelegen. In der linken Brust hätten keine suspekten Resistenzen festgestellt werden können.

Die Klägerin hat im Weiteren den Bericht des N1 über ihre Vorstellung am 8. Juni 2020 zur Gerichtsakte gereicht. Sie habe demnach über unveränderte Schmerzen im linken Knie geklagt und zeitweise auch eine Schwellung und Flüssigkeit im Gelenk bemerkt. Eine Schmerzmedikamentation sei nicht erfolgt. Ein Erguss habe nicht vorgelegen, die Beweglichkeit sei Extension/Flexion 0-0-135° gewesen. Als Diagnosen seien eine medial betonte Gonarthrose links und eine degenerative Innenmeniskusläsion gestellt worden.

Aus der MRT des linken Kniegelenks vom 25. Mai 2020 hat sich u. a. eine leichte Degeneration des Außenmeniskushinterhorns, eine degenerative Schädigung und Läsionen des Innenmeniskushinterhorns, eine Femoropatellararthrose, eine drittgradige Chondropathie retropatellar, eine viertgradige Chondropathie des medialen Femorortibialgelenks, eine drittgradige Gonarthrose und eine Baker-Zyste ergeben.

Das SG hat bei L2, ein weiteres Gutachten nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 27. August 2020 erhoben. Bei der Klägerin habe ein Schmerzsyndrom der gesamten WS mit leichter Einschränkung der Beweglichkeit und statischer Belastbarkeit bei Adipositas (Einzel-GdB 10), ein Schmerzsyndrom des linken Schultergelenks im Sinne eines Einklemmungssyndroms (Impingement) mit leichter Einschränkung der Beweglichkeit und Belastbarkeit (Einzel-GdB 10), ein Schmerzsyndrom des linken Kniegelenks mit leichter Einschränkung der Belastbarkeit und Gehfähigkeit bei leichten verschleissbedingten Veränderungen und gesichertem Innenmeniskushinterhornschaden (Einzel-GdB 10) und ein lokales Schmerzsyndrom des rechten Oberschenkels nach Unterhautfettentnahme (Einzel-GdB unter 10) bestanden. Den Gesamt-GdB sei vom Beklagten zutreffend mit 40 bewertet gewesen. 

Die Klägerin habe ausgeführt, seit der Brustoperation unter anhaltenden Schmerzen und einer Bewegungseinschränkung im linken Schultergelenk zu leiden. Auch sei es infolge der Brustoperation immer wieder zu Lymphstauungen am linken Arm und der linken Schulter gekommen. Die Bewegungseinschränkung habe ab Schulterhöhe begonnen, das weitere Anheben der Schulter sei schmerzhaft. Am rechten Oberschenkel sei die Gewebeentnahmestelle weiterhin sehr schmerzhaft, die Narbe druck- und berührungsempfindlich; beim Stehen und Gehen hätten die Beschwerden zugenommen. Im Bereich des linken Kniegelenks seien ein Innenmeniskusschaden und ein Knorpelschaden festgestellt worden, auch hier seien immer wieder Schmerzen aufgetreten. Schon vor der Brustoperation habe sie unter Rückenschmerzen gelitten, diese hätten andauernd bestanden, die ganze WS sei betroffen, die HWS verspannt. Nach längerem Gehen, Stehen und auch Sitzen hätten sich die Schmerzen verstärkt. Immer wieder leide sie auch unter Kopfschmerzen. Die BWS und die LWS seien ebenso verspannt und ihre Beweglichkeit schmerzhaft eingeschränkt. Motorische oder sensible Störungen seien aber nicht aufgetreten.

Den Weg zum Untersuchungszimmer habe die Klägerin in normalem Schritttempo zurücklegen können, das Gangbild sei seitengleich harmonisch und unauffällig gewesen. Das Be- und Entkleiden sei langsam, aber in einem harmonischen Bewegungsablauf und vollständig eigenständig erfolgt. Über den Dornfortsätzen der gesamten HWS habe ein Druck- und Klopfschmerz imponiert, die Beweglichkeit sei in allen Ebenen endgradig eingeschränkt gewesen. Auch über den Dornfortsätzen der gesamten BWS habe ein Druck- und Klopfschmerz bestanden, ihre Gesamtbeweglichkeit sei eingeschränkt gewesen, das Zeichen nach Ott habe 28/32 cm betragen. Ebenso habe ein Druck- und Klopfschmerz über den Dornfortsätzen der gesamten LWS vorgelegen, der Finger-Boden-Abstand (FBA) mehr als 30 cm betragen. Für die Schultergelenke habe sich eine Beweglichkeit von Arm seitwärts/körperwärts rechts 170-0-30°, links 150-0-30°, Arm rückwärts/vorwärts rechts 60-0-170°, links 45-0-160°, Arm auswärts/einwärts drehen (Oberarm anliegend) rechts 60-0-90°, links 50-0-90° und Arm auswärts/einwärts drehen (Oberarm 90° seitwärts abgehoben) rechts 60-0-70°, links 50-0-70° ergeben. Sowohl am rechten als auch am linken Kniegelenk sei die Beweglichkeit für die Streckung und Beugung frei gewesen, eine Kapselschwellung oder ein Erguss habe nicht bestanden.

Im Weiteren hat das SG das psychiatrische Gutachten des R1, aufgrund der ambulanten Untersuchung der Klägerin am 7. Dezember 2020 erhoben. Bei der Klägerin habe eine leichte depressive Anpassungsstörung und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung vorgelegen. Diese Störungen seien mit einer leichten psychischen und deutlicheren psychosomatischen Symptomatik einhergegangen. Eine psychotherapeutische oder psychopharmakologische Behandlung sei bislang nicht durchgeführt worden. Es habe sich um eine leichtere psychovegetative Störung ohne wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit gehandelt, die mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten gewesen sei. Die somatischen Behinderungen habe der Beklagte mit einem Teil-GdB von 30 für den Verlust der linken Brust und mit einem Teil-GdB von 20 für die Lymphstauung des linken Armes mit Gebrauchseinschränkung bewertet. H3 sei in seinem Gutachten für die Lymphstauung lediglich von einem Teil-GdB von 10 ausgegangen. Habe man in Rechnung gestellt, dass die Symptomatik der Lymphstauung wesentlich von psychosomatischen Aspekten bestimmt worden sei, hätten sich die Unterschiede in der Bewertung hierauf zurückführen lassen. Damit hätten sich seine erhöhte Bewertung der psychischen wie psychosomatischen Gesundheitsstörungen und die verringerte Bewertung des Lymphödems ausgeglichen. Der Gesamt-GdB sei mit 40 zu bewerten gewesen; dies habe auch der aktuellen Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit der Klägerin entsprochen.

Die Klägerin habe angegeben, die zweimal erfolgte Biopsie sei ohne klaren Befund geblieben, sicherheitshalber seien trotzdem ihre linke Brust und der Lymphknoten entfernt worden. Bei der anschließenden Histologie habe man aber nichts Bösartiges gefunden. Die Folgen dieser falschen Behandlung seien gewesen, dass sie eineinhalb Jahre den linken Arm nicht über die Horizontale habe heben und sie sich zuhause nicht um ihre kleinen Kinder habe kümmern können. Seit der Operation habe ihr Ehemann Angst sie anzufassen, er liebe sie zwar noch, sie hätten aber keine sexuelle Beziehung mehr. Unter der Distanz zu ihrem Mann leide sie sehr, sich lasse sich diese Gefühle aber nicht anmerken. Seit der Aufbauplastik sehe die linke Brust anders aus als die rechte, deswegen schäme sie sich. Eine psychotherapeutische Behandlung sei nur in der onkologischen Kur erfolgt. Die Klägerin habe sich als gesunden, positiven und aktiven Mensch beschrieben.

Morgens stehe sie gegen 4.30 Uhr auf, bereite das Frühstück und koche für ihre Familie vor. Um 5.30 Uhr fahre sie mit dem Auto 14 km zu ihrer Arbeitsstelle und arbeite von 6 bis 14.30 Uhr. Zurück zu Hause erledige sie den Haushalt. Zweimal wöchentlich habe sie Physiotherapie. Am Abend sehe sie fern oder telefoniere mit Freunden und Arbeitskollegen. Gegen 20.30 Uhr gehe sie zu Bett und wache nachts mehrfach auf.

Die Klägerin habe flüssig, spontan und lebhaft über ihre Situation berichten können. Die psychischen Grundfunktionen seien intakt gewesen, kognitive Einbußen oder psychotische Symptome hätten nicht bestanden, die Kontaktaufnahme sei freundlich und offen erfolgt. Die Schilderung ihrer Krebserkrankung sei detailliert, von einer Vorwurfshaltung gefärbt gewesen, sie habe offenbar den Sachverhalt eines Carcinoma in situ nicht verstanden und die Brustamputation als Behandlungsfehler gewertet gehabt. Die Stimmung habe hingegen nicht manifest depressiv bei intaktem Antrieb und ungestörter affektiver Modulation imponiert.         

Die erfolgte Krebsbehandlung der Klägerin sei indessen nicht zu beanstanden, auch nach den vorliegenden Berichten sei das Behandlungsergebnis zumindest befriedigend gewesen. Trotz der objektiv erfolgreichen Behandlung habe die Klägerin die therapeutische Vorgehensweise wie auch das Ergebnis völlig abweichend bewertet. Sie habe geglaubt, insbesondere, weil histologisch keine Krebszellen nachgewiesen worden seien, dass es sich insgesamt nicht um einen bösartigen Tumor gehandelt habe und sie Opfer eines ärztlichen Kunstfehlers geworden sei. Folge der Behandlung sei auch, dass sie zu ihrem Ehemann keine intime Beziehung mehr habe, also in jeder Hinsicht „die Dumme“ sei. In diesem Vorwurf sei nicht nur das Missverständnis der Erkrankung und der durchgeführten Behandlung, sondern auch die enorme Belastung, unter der die Klägerin viele Jahre gestanden habe (Kampf gegen die Abschiebung, Ablehnung ihres Ehemanns durch ihre Familie und deshalb circa zehn Jahre kein Kontakt zu ihrer Familie), zum Ausdruck gekommen. So sei der Kampf um die Schwerbehinderteneigenschaft einerseits der Versuch, die damit verbundenen Erleichterungen im Erwerbsleben zu sichern, andererseits aber auch ein Kampf um Anerkennung und Wiedergutmachung. Auch wenn die Klägerin ihre Depressionen gegenüber ihrer Familie verberge, hätten sich ihre psychischen Reaktionen doch in psychosomatischer Hinsicht, insbesondere als wiederkehrende Schmerzen und Schwäche im linken Arm, aber auch im Bereich des rechten Beines, wo das Fettgewebe für die Brustrekonstruktion entnommen worden sei, gezeigt. Ihr Leidenszustand sei deutlich stärker, als er sich somatisch habe objektivieren lassen; eine psychotherapeutische Behandlung habe sie aber nie in Betracht gezogen, auch nicht die Einnahme eines Antidepressivums.
Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG bei C2, ein weiteres Gutachten erhoben. Diese hat bei der Klägerin eine chronische Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Korrelaten, eine Körperschematastörung mit Störung der Libido und der sozialen Beziehungen wie eine chronische depressive Entwicklung diagnostiziert. Diese Funktionsstörungen seien jeweils mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten gewesen, der Teil-GdB für die psychischen Störungen habe 30 betragen. Unter Berücksichtigung eines Teil-GdB von 30 für den Verlust der linken Brust und eines Teil-GdB von 20 für die Lymphstauung des linken Armes und dessen Gebrauchseinschränkung sei ein Gesamt-GdB von 50 begründet gewesen.

Anamnestisch habe die Klägerin angegeben, dass ihre linke Brust zu Unrecht amputiert worden sei; sie sei sich ganz sicher, dass die behandelten Ärzte einen Fehler gemacht hätten. 2017 habe sie ihre Ärzte wegen eines Behandlungsfehlers angezeigt, diese Anzeige hätte aber keinen Erfolg gehabt. Bis heute leide sie unter den Folgen der Brustamputation; wegen der Ödembildung benötige sie zweimal wöchentlich Lymphdrainage, immer habe sie Muskelschmerzen im Nacken, im Armbereich leide sie auch oft unter Taubheitsgefühlen und einem Kraftverlust. Die Beweglichkeit des linken Armes über Kopf sei sehr eingeschränkt. Zusätzlich seien infolge der Gewebeentnahme für die Brustrekonstruktion am rechten Oberschenkel Schmerzen und eine Gefühlsstörung aufgetreten. Besonders schlimm sei der sexuelle Rückzug ihres Ehemanns; seit der Brustoperation könne er sie weder anschauen noch mit ihr sexuell aktiv sein. Auch schlafe sie getrennt von ihrem Ehemann. Aus kulturellen Gründen sei ihr ein Gespräch mit ihm hierüber nicht möglich. Wegen der Schwere der Arbeitsanforderungen in ihrer beruflichen Tätigkeit als Küchenhilfe sei oft die Einnahme von Ibuprofen notwendig. Sie bezahlte selbst für Thai-Massagen, die ihr besser als die Physiotherapie hülfen. Jede Nacht leide sie unter Schlafstörungen und Gedankenkreisen, oft habe sie auch Magenbeschwerden, Angst vor dem Tod, Bluthochdruck, Herzrasen und zwischenzeitlich Angst vor ihrer Arbeit. Eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung erfolge nicht, sie würde sich bei einer solchen schämen und könnte dies auch ihren Kindern nicht erzählen.

In der Untersuchungssituation habe sich ein deutliches kulturelles Problem der Klägerin im Umgang mit ihren psychischen Beeinträchtigungen gezeigt. Die Klägerin sei wach, allseits orientiert, im Kontakt freundlich und offen bei adäquatem Affekt, vorhandener Schwingungs- und Modulationsfähigkeit, ohne kognitive Defizite bei psychomotorischer Anspannung gewesen. Bei dem Bericht über die Brustoperation und den Auswirkungen auf ihre Ehe, ihre Einsamkeit sowie das Nicht-Sprechen-Können über dieses Thema mit anderen sei sie traurig und enttäuscht gewesen. Ein Verlust der Lebensfreude habe sich gezeigt.

Bislang hätten die erhobenen Diagnosen so nicht gestellt werden können, da die Klägerin nicht entsprechend über die Themen Sexualität und familiäre Beziehungen befragt worden sei. Auch träten diese Störungen nicht so gehäuft und typisch auf wie etwa solche depressiver Art oder Anpassungsstörungen. Interessant gewesen sei, dass die Klägerin alle Bereiche ihres Körpers, die mit der Brustoperation in Zusammenhang gestanden hätten, somatisch wahrnehme und weitere Beschwerden am linken Bein nicht zur Begründung ihres Antrags auf Neufeststellung des GdB geltend gemacht habe. Hier sei die Körperschematastörung deutlich sichtbar. R1 habe diese Somatisierungsstörung und den soziokulturellen Hintergrund der Klägerin nicht ausreichend berücksichtigt.

Der Beklagte ist dem im Gutachten vertretenen Gesamt-GdB von 50 mit der versorgungsärztlichen Stellungnahme des H4 entgegengetreten. Bei der internistischen Begutachtung habe ein Lymphstau im linken Arm nicht objektiviert werden können, auch im orthopädischen Gutachten hätten sich hierfür keine wesentlichen Hinweise ergeben. Der angenommene Einzel-GdB von 20 für die Bewegungseinschränkung der linken Schulter sei unter Ausnutzung des Ermessensspielraums noch vertretbar. Die Belastungseinschränkung des linken Kniegelenks bei gesichertem Innenmeniskushinterhornschaden könne mit einem Einzel-GdB von 10 berücksichtigt werden. Die angegebenen Schmerzen am rechten Oberschenkel erreichten nicht das Ausmaß einer feststellungsfähigen Behinderung. R1 habe in seinem psychiatrischen Gutachten unter Berücksichtigung der bislang von der Klägerin nicht in Anspruch genommenen psychotherapeutischen oder medikamentösen Behandlung zutreffend einen Einzel-GdB von 20 angenommen. Der von C2 vorgeschlagene Einzel-GdB von 30 sei nicht nachvollziehbar, da eine psychische Störung mit anhaltender wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit unter Berücksichtigung aller Befunde nicht vorliege. Unter Würdigung, dass der Verlust der linken Brust mit Wiederaufbauplastik mit einem Einzel-GdB von 30 wie die Lymphstauung und die Gebrauchseinschränkung des linken Armes mit einem Einzel-GdB von 20 sehr großzügig bewertet seien, werde aber selbst bei dem von C2 vertretenen Einzel-GdB von 30 die Schwerbehinderteneigenschaft nicht erreicht.

Das SG hat die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört. Die Klägerin hat hierauf auf das Gutachten der C2 hingewiesen. Diese werde von einer Vielzahl von Sozialgerichten als Sachverständige bestellt und habe nachvollziehbar aufgrund eigener Untersuchung einen Gesamt-GdB von 50 begründet. Die Ausführungen des Beklagten seien hingegen lediglich nach Aktenlage, die zu ungenau sei, erfolgt.                   

Durch Gerichtsbescheid vom 16. März 2022 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Feststellung eines Gesamt-GdB von 50. Ausgangspunkt für die GdB-Feststellung sei die durchgemachte Krebserkrankung, die nach Ablauf der Heilungsbewährung und bei Rezidivfreiheit nicht mehr als Behinderung berücksichtigt werden könne. Der Verlust der linken Brust rechtfertige einen Einzel-GdB von 30, wobei dieser vergleichsweise hohe GdB bereits in erheblichem Umfang die psychischen Folgen eines solchen Verlustes mitberücksichtige. Aus dem Gutachten des L2 folge, dass die Funktionseinschränkungen der WS, der linken Schulter, des linken Kniegelenks und des rechten Beines jeweils mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten seien. Auch für das Lymphödem ergebe sich kein höherer Einzel-GdB, gutachterlich habe H3 lediglich eine geringgradige Ausprägung beschrieben. In psychischer Hinsicht leide die Klägerin nach dem Gutachten des R1 an einer leichten depressiven Anpassungsstörung mit einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung bzw. nach den gutachterlichen Ausführungen der C2 an einer chronischen Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren, einer Körperschematastörung und an einer chronischen depressiven Entwicklung. Unabhängig von den im Einzelnen zu stellenden Diagnosen seien diese Funktionsbehinderungen mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Dies folge zum einen aus dem psychopathologischen Befund, der sich im Hinblick auf die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als wenig gravierend darstelle, und zum anderen entscheidend daraus, dass eine psychiatrische, psychotherapeutische oder psychopharmakologische Behandlung nicht erfolge, womit in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (LSG) ein wesentlicher Leidensdruck bei der Klägerin nicht bestehe. Hinzukomme, dass die von C2 diagnostizierte Körperschematastörung zur Begründung eines Einzel-GdB von 30 sich nur auf die Libido und gewisse soziale Beziehungen auswirke, diese aber nur einen geringen Anteil an den Teilhabemöglichkeiten in der Gesellschaft hätten.

Insgesamt sei damit aus dem Einzel-GdB von 30 für den Verlust der linken Brust und dem Einzel-GdB von 20 für die psychische Erkrankung ein Gesamt-GdB von 40 zu bilden, wobei herauszustellen sei, dass zwischen diesen Behinderungen erhebliche Überschneidungen bestünden, da der Einzel-GdB für den Verlust der Brust bereits in deutlichem Umfang die hierdurch verursachten psychischen Beeinträchtigungen berücksichtige.                


Am 27. April 2022 hat die Klägerin gegen den ihrem Prozessbevollmächtigten am 28. März 2022 zugestellten Gerichtsbescheid des SG Berufung beim LSG eingelegt.

Zur Berufungsbegründung führt sie aus, entgegen der Ansicht des SG betrage der Gesamt-GdB mindestens 50. Sie leide unter rezidivierenden Wassereinlagerungen unter der linken Schulter und in der linken Brust, die sich nach Belastung verschlimmerten. Außerdem sei die Beweglichkeit der linken Schulter ab einer Höhe von 90° eingeschränkt, zudem sei sie schmerzhaft. Hieraus sei ersichtlich, dass auch ohne Berücksichtigung von psychischen Beschwerden für den Verlust der linken Brust ein Einzel-GdB von 30 erreicht werde. Unzutreffend sei das SG davon ausgegangen, dass für die zusätzlichen Behinderungen an der WS, der linken Schulter, dem linken Knie und am rechten Unterschenkel lediglich jeweils ein Einzel-GdB von 10 angemessen sei; diese Funktionsstörungen seien mindestens mit einem Einzel-GdB von 20 zu berücksichtigen. Entgegen den gutachterlichen Ausführungen des
R1 resultiere aus ihren Funktionsstörungen, wie sich aus dem Gutachten der C2 ergebe, ein massiver Leidensdruck. Die Stärke des empfundenen Leidensdrucks äußere sich bei ihr nicht maßgeblich in der Behandlung, die sie in Anspruch nehme, um das Leiden zu heilen oder dessen Auswirkungen zu lindern. Eine fehlende ärztliche Behandlung möge zwar regelmäßig dazu führen, dass von einer leichten psychischen Störung auszugehen sei; in dem Gebiet, in dem sie wohne, sei allerdings psychiatrische und psychologische Hilfe Mangelware. Es gebe lediglich einen Arzt, Termine seien allenfalls alle paar Monate möglich. Nicht zuletzt in der Hoffnung der Entwicklung eines Therapieansatzes habe sie das Gutachten bei C2 beantragt. Diese habe funktionelle Auswirkungen der psychischen Funktionsstörungen in allen Lebensbereichen beschrieben, womit letztlich ein Gesamt-GdB von 50 angemessen sei. Das SG sei hingegen ohne sachliche Auseinandersetzung dem Gutachten der C2, die z. B. vom SG Darmstadt regelmäßig mit der Erstellung von Gutachten beauftragt werde, nicht gefolgt. Zumindest hätte ein Obergutachten eingeholt werden müssen.   

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 16. März 2022 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 12. November 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. August 2019 zu verpflichten, unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 19. Januar 2017 ab dem 14. August 2018 einen Grad der Behinderung von mindestens 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

            die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und verweist auf die vom SG von Amts wegen erhobenen Gutachten.

Die Klägerin hat mitgeteilt, bei einer Untersuchung im OTC
G1 sei eine Gonarthrose bestätigt worden. Der Senat hat deshalb den V2 schriftlich als sachverständigen Zeugen vernommen. Dieser hat eine Behandlung der Klägerin sei dem 15. Januar 2018 und die hierbei erhobenen Diagnosen Cervicalsyndrom, Myogelosen der Halswirbelsäulenmuskulatur, Innenbandzerrung Kniegelenk links, Gonarthrose Kniegelenk links, Prellung Schulter und Unterschenkel sowie Rückenbeschwerden im Bereich der HWS und LWS bei degenerativen Veränderungen mitgeteilt. Bei der Gonarthrose des linken Kniegelenks handele es sich um eine schwere Varusgonarthrose, es bestehe eine OP-Indikation, die Auswirkungen der weiteren Diagnosen seien gering bis leicht. Der GdB auf orthopädischem Gebiet werde mit 10 geschätzt. Ergänzend sind Durchgangsarzt- und Verlaufsberichte über Unfälle der Klägerin am 3. Mai 2019 (Ausrutschen auf einer Wasserpfütze und Verdrehen des linken Kniegelenks) und am 28. August 2021 (Ausrutschen und Umknicken mit dem rechten Fuß) sowie der Bericht über die Vorstellung der Klägerin am 15. Januar 2018 (Cervicalsyndrom, Myogelose) vorgelegt worden. 

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstands wird ergänzend auf die Verwaltungs- und Gerichtsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe


Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft (§§ 143144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 16. März 2022, mit dem das SG die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage der Klägerin (§ 54 Abs. 1 SGG) auf Aufhebung des Bescheides vom 12. November 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. August 2019 und auf Verpflichtung des Beklagten, unter – sinngemäßer – teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 19. Januar 2017 ab dem 14. August 2018 einen GdB von mindestens 50 festzustellen, abgewiesen hat.

Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der vorliegenden Klageart der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 R –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34).


Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 12. November 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. August 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in Ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Zur Überzeugung des Senats, wie auch des SG, hat die Klägerin keinen Anspruch auf die teilweise Aufhebung des Bescheides vom 19. Januar 2017 und Feststellung eines GdB von mindestens 50 ab dem 14. August 2018. Nach Auswertung der im Verwaltungsverfahren wie auch im erstinstanzlichen und im Berufungsverfahren zur Vorlage gekommenen ärztlichen Unterlagen und Meinungsäußerungen, insbesondere der Gutachten des H3, des L2 und des R1, haben sich die bei der Klägerin bestehenden Funktionsstörungen nicht in einem Umfang verschlimmert und es sind auch keine zusätzlichen Funktionsbehinderungen hinzugetreten, wegen denen ab dem maßgeblichen Zeitpunkt des Neufeststellungsantrags vom 14. August 2018 der GdB von 40 auf mindestens 50 zu erhöhen wäre. Soweit C2 in dem bei ihr im erstinstanzlichen Verfahren nach § 109 SGG erhobenen Gutachten den Gesamt-GdB mit 50 bewertet hat, hat dies auch den erkennenden Spruchkörper ebenso wie das SG nicht zu überzeugen vermocht.

Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Danach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten der Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X). Dabei liegt eine wesentliche Änderung vor, soweit der Verwaltungsakt nach den nunmehr eingetretenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen nicht mehr so erlassen werden dürfte, wie er ergangen war. Die Änderung muss sich nach dem zugrunde liegenden materiellen Recht auf den Regelungsgehalt des Verwaltungsaktes auswirken. Das ist bei einer tatsächlichen Änderung nur dann der Fall, wenn diese so erheblich ist, dass sie rechtlich zu einer anderen Bewertung führt. Von einer wesentlichen Änderung ist auszugehen, wenn aus dieser eine Veränderung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgt (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 12). Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt – teilweise – aufzuheben und durch die zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG, Urteil vom 22. Oktober 1986 – 9a RVs 55/85 –, juris, Rz. 11 m. w. N.). Die Feststellung einer wesentlichen Änderung setzt einen Vergleich der Sach- und Rechtslage bei Erlass des – teilweise – aufzuhebenden Verwaltungsaktes und zum Zeitpunkt der Überprüfung voraus (vgl. BSG, Urteil vom 2. Dezember 2010 – B 9 V 2/10 R –, SozR 4-3100 § 35 Nr. 5, Rz. 38 m. w. N.).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Im Vergleich zum maßgeblichen Vergleichsbescheid, dem
Bescheid vom 19. Januar 2017, durch den der Beklagte den GdB von 50 auf 40 ab dem 23. Januar 2017 herabgesetzt hat, sind bei der Klägerin keine weiteren Funktionsstörungen hinzugetreten und die bereits berücksichtigten Funktionsstörungen haben sich auch nicht in einem Umfang verschlimmert, dass eine wesentliche Änderung i. S. d. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X eingetreten ist, die eine Erhöhung des Gesamt-GdB um mindestens 10 rechtfertigt.

Der Anspruch der Klägerin richtet sich nach § 152 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung durch Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234). Danach stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (Satz 2). Menschen sind nach § 2 Abs. 2 SGB IX im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich des SGB IX haben. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX).

Nachdem noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen, somit die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung ­­– VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (vgl. BSG, Urteil vom 1. September 1999 – B 9 V 25/98 R –, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.

Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“ oder „Altersstar“) bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2, c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind bei ihm nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2, e). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet.
Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander (VG, Teil A, Nr. 3, a).

Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10, 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (VG, Teil A, Nr. 3, c). Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (VG, Teil A, Nr. 3, d).

Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Einzel- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – B 9 SB 35/10 B –, juris, Rz. 5).

Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juni 1998 – B 9 SB 17/97 R –, juris, Rz. 13). Der Einzel-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Einzel-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.

Gemessen an diesen gesetzlichen Vorgaben und der höchstrichterlichen Rechtsprechung, der der Senat folgt, hat der Beklagte rechtsfehlerfrei durch Bescheid vom 12. November 2018 die Höherbewertung des GdB abgelehnt.

Führend sind bei der Klägerin die im Funktionssystem „Geschlechtsapparat“ zu berücksichtigenden Funktionsstörungen. Eine wesentliche Änderung i. S. d. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Form einer Verschlimmerung, wegen der im vorliegenden Funktionssystem eine höherer Teil-GdB gerechtfertigt wäre, ist jedoch zur Überzeugung des Senats nicht objektiviert.  

In vorliegenden Funktionssystem hat aufgrund des DCIS nach den VG, Teil B, Nr. 14.1 bis zum Ablauf der zweijährigen Heilungsbewährung der Teil-GdB zunächst 50 betragen. Dieser Teil-GdB hat dem Gesamt-GdB entsprochen, wie ihn das LRA durch Bescheid vom 13. Juni 2014 ab dem 13. März 2014 festgestellt hat.

Nach Ablauf der Heilungsbewährung (VG, Teil A, Nr. 7, b), VG, Teil B, Nr. 1, c) hat der Beklagte den Gesamt-GdB durch Bescheid vom 19. Januar 2017 von 50 auf 40 ab dem 23. Januar 2017 bindend (§ 77 SGG) herabgesetzt. Hierbei hat er den Verlust der linken Brust mit einem Teil-GdB von 30 und die Lymphstauung des linken Armes sowie dessen Gebrauchseinschränkung mit einem Teil-GdB von 20 berücksichtigt (vgl. versorgungsärztliche Stellungnahme des                      
C1).

Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Senatsurteil vom 14. Oktober 2021 – L 6 SB 2703/20 –, juris, Rz. 49) sind nach den VG, Teil B, Nr 14.1 auch Operations- und Bestrahlungsfolgen nach einer Krebserkrankung im Funktionssystem „Geschlechtsapparat“ zu bewerten, so dass eine Zuordnung der therapiebedingten Funktionseinschränkungen zu anderen Funktionssystemen, an denen die Folgen manifest werden, ausscheidet. Eine Zergliederung der Funktionseinschränkungen, die aus der operativen Behandlung und/oder Chemotherapie resultieren, soll damit vermieden werden. Aber auch unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung, an der der Senat weiterhin festhält, sind im vorliegenden Funktionssystem die Voraussetzungen für eine höhere Bewertung des Teil-GdB mangels einer wesentlichen Änderung i. S. d. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht erfüllt. 

Eine solche wesentliche Änderung i. S. einer Verschlimmerung ist zur Überzeugung des Senats weder beim Verlust der linken Brust bzw. dem Z. n. Mammarekonstruktion links durch Eigengewebe vom Oberschenkel rechts am 30. November 2016, wie ihn der Senat dem im
Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung <ZPO>) verwerteten Bericht des Universitätsklinikums F1 über den stationären Aufenthalt der Klägerin vom 29. November bis zum 6. Dezember 2016 entnimmt, noch in den weiteren Folgen der Behandlung des DCIS (Lymphstauung des linken Armes, Gebrauchseinschränkung des linken Armes, Schmerzen an der Gewebeentnahmestelle für die Mammarekonstruktion am rechten Oberschenkel und psychische Funktionsstörungen) objektiviert.

Mit dem streitgegenständlichen Neufeststellungsantrag vom 14. August 2018 hat die Klägerin selbst keine Verschlechterung bei der Mammarekonstruktion links geltend gemacht. Aus dem urkundsbeweislich verwerteten ärztlichen Entlassungsbericht des P1sanatorium A1 über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme der Klägerin vom 26. April bis zum 17. Mai 2018 ergibt sich für den Senat, dass die Narbe reizlos gewesen ist. Auch H3 hat in dem bei ihm im erstinstanzlichen Verfahren erhobenen internistischen Gutachten keine entsprechende Verschlechterung beschrieben. Eine solche kann auch den weiteren medizinischen Unterlagen, ärztlichen Meinungsäußerungen und erhobenen Gutachten nicht entnommen werden.

Ebenso ist eine wesentliche Verschlimmerung in Bezug auf den maßgeblichen Vergleichsbescheid vom 19. Januar 2017 hinsichtlich der Lymphödeme am linken Arm und am rechten Bein nicht eingetreten. Bei den gutachterlichen Untersuchungen durch H3 und durch L2 hat die Klägerin vielmehr angegeben, dass sich ein Lymphödem am linken Arm, das Lymphdrainagen erfordere, bereits nach der Operation, damit im Jahr 2016, entwickelt habe. Der rechte Fuß bzw. das rechte Bein, so die Klägerin im Weiteren, sei auch bereits seit der Gewebeentnahme für die Mammarekonstruktion im Jahr 2016 schmerzhaft und neige zum Anschwellen. H3 hat zusätzlich bei seiner gutachterlichen Untersuchung ein sekundäres Lymphödem des linken Armes nach Lymphknotenentfernung in der Achselhöhle und ebenso ein Ödem am rechten Bein nicht feststellen können, hat insofern aber auf die Effektivität der erfolgten Lymphdrainagen verwiesen. Eine Verschlimmerung des Lymphödems in der Form, dass nach Erlass des maßgeblichen Vergleichsbescheides vom 19. Januar 2017 die Klägerin vermehrt habe Lymphdrainagen in Anspruch nehmen müssen, hat diese hingegen nicht geltend gemacht und ergibt sich auch nicht aus dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme.

Die Beweglichkeit der Schultergelenke hat L2 gutachterlich mit Arm seitwärts/körperwärts rechts 170-0-30°, links 150-0-30°, Arm rückwärts/vorwärts rechts 60-0-170°, links 45-0-160°, Arm auswärts/einwärts drehen (Oberarm anliegend) rechts 60-0-90°, links 50-0-90° und Arm auswärts/einwärts drehen (Oberarm 90° seitwärts abgehoben) rechts 60-0-70°, links 50-0-70° befundet. Eine GdB-relevante Funktionseinschränkung besteht demnach nicht. Nach den VG, Teil B, Nr. 18.13 wird erst bei einer Bewegungseinschränkung des Schultergelenks (einschließlich des Schultergürtels) mit einer Armhebung nur bis zu 120° mit entsprechender Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit ein Einzel-GdB von 10 erreicht. Eine Verschlimmerung i. S. d. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X besteht demnach auch insofern nicht.

Auch in den bei der Klägerin infolge des DCIS und dessen Therapie eingetretenen psychischen Funktionsstörungen ist unabhängig davon, ob man sie, wie gutachterlich R1, als leichte depressive Anpassungsstörung und anhaltende somatoforme Schmerzstörung oder, wie gutachterlich C2, als chronische Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Korrelaten, als Körperschematastörung mit Störung der Libido und der sozialen Beziehungen und als chronische depressive Entwicklung diagnostiziert, keine Verschlimmerung eingetreten. Gegenüber beiden Gutachtern hat die Klägerin als Ursache für diese Funktionsstörungen die nach ihrer Ansicht zu Unrecht erfolge Brustamputation links, die Mammarekonstruktion, die weiteren Folgen der Therapie des DCIS und den sexuellen Rückzug ihres Ehemanns angegeben. Diese Ursachen haben aber bereits bei Erlass des maßgeblichen Vergleichsbescheides vom 19. Januar 2017 bestanden. Eine Verschlimmerung der Funktionsstörungen ist damit nicht nachgewiesen, auch wenn die Klägerin zur Begründung des streitgegenständlichen Neufeststellungsantrags erstmals eine ärztlich nicht bestätigte Fatigue-Symptomatik geltend gemacht hat.

Gegen das Eintreten einer Verschlimmerung spricht, dass sich aus dem ärztlichen Entlassungsbericht des P1sanatorium A1 über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme der Klägerin vom 26. April bis zum 17. Mai 2018 ein arbeitstägliches Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr sowohl für die von ihr ausgeübte Beschäftigung als Küchenhilfe in einer Krankenhausküche als auch für den allgemeinen Arbeitsmarkt ergeben hat. Dem vorgenannten Bericht entnimmt der Senat im Weiteren, dass trotz der Diagnose einer psychophysischen Erschöpfung aufgrund des von der Klägerin angegebenen Belastungsgrades, mithin der Einschätzung ihres Leidensdrucks, von lediglich drei auf einer Skala von eins bis zehn, eine psychologische Betreuung nicht für erforderlich gehalten worden ist. 

Der von R1 gutachterlich erhobene Tagesablauf spricht ebenso gegen eine wesentliche Verschlimmerung. Im Gegenteil ergibt sich aus ihm das Bild einer äußerst aktiven und belastbaren Person mit Aufstehen um 4:30 Uhr, Zubereiten des Frühstücks und Vorkochen des Mittagessens für die Familie, Fahrt um 5:30 Uhr mit dem Auto zur Arbeit, damit eigenständiger Mobilität, Ausübung einer körperlich anspruchsvollen Beschäftigung in einer Großküche als Küchenhilfe in einem Umfang von täglich von 6 bis 14:30 Uhr und danach noch Übernahme der vollständigen Haushaltstätigkeiten trotz Arbeitslosigkeit ihres Ehemanns. Daneben nimmt die Klägerin zweimal wöchentlich Termine zur Physiotherapie wahr, ist damit auch insoweit zur Strukturierung ihres Tagesablaufs fähig, sieht abends fern, nutzt damit Medien, und telefoniert abends mit Freunden und Arbeitskollegen, woraus sich kein sozialer Rückzug, sondern vielmehr eine soziale Integration auch über den Kreis der Familie hinaus ergibt. 

Zudem findet auch weiterhin keine fachärztliche, psychotherapeutische oder medikamentöse Behandlung der psychischen Funktionsbehinderungen statt. Bei einer fehlenden ärztlichen oder der gleichgestellten (§§ 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 28 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung <SGB V>) psychotherapeutischen Behandlung durch – bei gesetzlich Versicherten zugelassene – Psychologische Psychotherapeuten kann aber in der Regel, worauf das SG zutreffend hingewiesen hat, nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze (VG, Teil B, Nr. 3.7) darstellt (vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 2018 – L 6 SB 4718/16 –, juris, Rz. 42; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2010 – L 8 SB 1549/10 –, juris, Rz. 31). Soweit die Klägerin zur Berufungsbegründung insofern vorgebracht hat, dass in dem Gebiet, in dem sie wohne, eine psychiatrische oder psychologische Behandlung „Mangelware“ sei, führt diese lediglich pauschale Behauptung zu keiner abweichenden Bewertung. Denn selbst, wenn sie zutreffend sein sollte, wäre ein Zunahme des Leidensdrucks der Klägerin, damit eine wesentliche Verschlimmerung i. S. d. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X auch weiterhin nicht nachgewiesen. Zudem hat die Klägerin noch nicht einmal Bemühungen um eine Behandlung bei dem in ihrem Gebiet niedergelassenen einzigen Facharzt behauptet, geschweige denn nachgewiesen. 

Im Funktionssystem „Rumpf“ beträgt der Teil-GdB nicht mehr als 10. Die Klägerin leidet in diesem Funktionssystem unter einem Schmerzsyndrom der gesamten WS mit leichter Einschränkung der Beweglichkeit und statischen Belastbarkeit bei Adipositas, wie sich für den Senat aus dem Gutachten des L2 ergibt. Die Klägerin hat gegenüber diesem ausgeführt, dass sie unter den vorgenannten Funktionsstörungen bereits vor der Therapie des DCIS gelitten hat, demnach sind diese eigenständig zu bewerten.

Aus dem Bestehen dieser Funktionsstörungen bereits vor der Behandlung des DCIS, ohne dass deren wesentliche Verschlimmerung in Bezug auf den maßgeblichen Vergleichsbescheid vom 19. Januar 2017 nach dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme objektiviert ist, ergibt sich zugleich, dass diese keine wesentliche Änderung i. S. d. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X begründen können. Darüber hinaus begründen auch die von L2 gutachterlich erhobenen funktionellen Beeinträchtigungen keinen Teil-GdB von mehr als 10. 

Nach den VG, Teil B, Nr. 18.1 wird der GdB für angeborene und erworbene Schäden an den Haltungs- und Bewegungsorganen entscheidend bestimmt durch die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen (Bewegungsbehinderung, Minderbelastbarkeit) und die Mitbeteiligung anderer Organsysteme. Die üblicherweise auftretenden Beschwerden sind dabei mitberücksichtigt. Außergewöhnliche Schmerzen sind gegebenenfalls zusätzlich zu berücksichtigen. Schmerzhafte Bewegungseinschränkungen der Gelenke können schwerwiegender als eine Versteifung sein. Bei Haltungsschäden und/oder degenerativen Veränderungen an Gliedmaßengelenken und an der WS (z. B. Arthrose, Osteochondrose) sind auch Gelenkschwellungen, muskuläre Verspannungen, Kontrakturen oder Atrophien zu berücksichtigen. Mit bildgebenden Verfahren festgestellte Veränderungen (z. B. degenerativer Art) allein rechtfertigen noch nicht die Annahme eines GdB. Ebenso kann die Tatsache, dass eine Operation an einer Gliedmaße oder an der WS (z. B. Meniskusoperation, Bandscheibenoperation, Synovialektomie) durchgeführt wurde, für sich allein nicht die Annahme eines GdB begründen.

Der GdB bei angeborenen und erworbenen Wirbelsäulenschäden (einschließlich Bandscheibenschäden, Scheuermann-Krankheit, Spondylolisthesis, Spinalkanalstenose und dem so genannten „Postdiskotomiesyndrom“) ergibt sich nach den VG, Teil B, Nr. 18.9 primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Der Begriff Instabilität beinhaltet die abnorme Beweglichkeit zweier Wirbel gegeneinander unter physiologischer Belastung und die daraus resultierenden Weichteilveränderungen und Schmerzen. So genannte „Wirbelsäulensyndrome“ (wie Schulter-Arm-Syndrom, Lumbalsyndrom, Ischialgie sowie andere Nerven- und Muskelreizerscheinungen) können bei Instabilität und bei Einengungen des Spinalkanals oder der Zwischenwirbellöcher auftreten. Für die Bewertung von chronisch-rezidivierenden Bandscheibensyndromen sind aussagekräftige anamnestische Daten und klinische Untersuchungsbefunde über einen ausreichend langen Zeitraum von besonderer Bedeutung. Im beschwerdefreien Intervall können die objektiven Untersuchungsbefunde nur gering ausgeprägt sein.

Wirbelsäulenschäden ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität haben einen Einzel-GdB von 0 zur Folge. Gehen diese mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) einher, ist ein Einzel-GdB von 10 gerechtfertigt. Ein Einzel-GdB von 20 ist bei mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) vorgesehen. Liegen schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt vor (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) ist ein Einzel-GdB von 30 angemessen. Ein Einzel-GdB-Rahmen von 30 bis 40 ist bei mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten eröffnet. Besonders schwere Auswirkungen (etwa Versteifung großer Teile der WS; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst <z. B. Milwaukee-Korsett>; schwere Skoliose <ab ca. 70° nach Cobb>) eröffnen einen Einzel-GdB-Rahmen von 50 bis 70. Schließlich ist bei schwerster Belastungsinsuffizienz bis zur Geh- und Stehunfähigkeit ein Einzel-GdB-Rahmen zwischen 80 und 100 gegeben. Anhaltende Funktionsstörungen infolge Wurzelkompression mit motorischen Ausfallerscheinungen – oder auch die intermittierenden Störungen bei der Spinalkanalstenose – sowie Auswirkungen auf die inneren Organe (etwa Atemfunktionsstörungen) sind zusätzlich zu berücksichtigen. Bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen kann auch ohne nachweisbare neurologische Ausfallerscheinungen (z. B. Postdiskotomiesyndrom) ein Einzel-GdB über 30 in Betracht kommen.

Entsprechend diesen Vorgaben leidet die Klägerin an Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome), die einen Einzel-GdB von 10 rechtfertigen, wie L2 überzeugend dargelegt hat. Zwar ist bei der Klägerin die gesamt WS druck- und klopfschmerzhaft, eine mehr als geringgradige funktionelle Einschränkung resultiert hieraus jedoch nicht. Denn bei der gutachterlichen Untersuchung bei L2 war die Beweglichkeit der HWS in allen Ebenen nur endgradig eingeschränkt, das Zeichen nach Ott hat 28/32 cm betragen und der FBA 30 cm. Gegen das Vorliegen von mehr als nur geringgradigen funktionellen Einschränkungen spricht zudem, dass sich die Klägerin bei der ambulanten Untersuchung durch L2 zwar langsam, aber in einem harmonischen und damit nicht infolge der Funktionsbehinderungen an der WS gehinderten Bewegungsablauf aus- und anziehen hat können. Darüber hinaus steht einer mehr als geringgradigen funktionellen Einschränkung der WS entgegen, dass die Klägerin auch weiterhin ihre körperlich fordernde berufliche Tätigkeit als Küchenhilfe in einer Krankenhausgroßküche in einem arbeitstäglichen Umfang von 6 bis 14.30 Uhr ausüben kann. Letztlich hat auch der als sachverständige Zeuge im Berufungsverfahren, also ganz aktuell, angehörte V2 einen höheren Einzel-GdB als 10 auf orthopädischem Fachgebiet nicht vorgeschlagen.

Zuletzt wird auch im Funktionssystem „Beine“ kein Teil-GdB von mindestens 20 erreicht. Dem Gutachten des L2 sowie den sachverständigen Zeugenaussagen des                        N1 und des V2 entnimmt der Senat ein in diesem Funktionssystem zu berücksichtigendes Schmerzsyndrom des linken Kniegelenks, verschleissbedingte Veränderungen (Varusgonarthrose) und ein gesicherter Innenmeniskushinterhornschaden.

Die Beweglichkeit des linken wie auch des rechten Kniegelenks hat L2 als frei befundet. N1 hat am linken Kniegelenk eine Beweglichkeit von Extension/Flexion 0-0-135° festgestellt.
Nach den VG, Teil B, Nr. 18.14 liegen jedoch Bewegungseinschränkungen im Kniegelenk geringen Grades, die mit einem Einzel-GdB von 0 bis 10 zu bewerten sind, erst bei einer Bewegungseinschränkung von Streckung/Beugung bis 0-0-90° vor. 

Die am linken Kniegelenk bestehenden Knorpelschäden, die aus der Befundung der urkundsbeweislich verwerteten MRT vom 25. Mai 2020 ersichtlich sind, führen ebenso nicht zu einem Einzel-GdB von mindestens 20. Nach den VG, Teil B, Nr. 18.14 sind ausgeprägte Knorpelschäden (z. B. Chondromalacia patella Stadium II bis IV) nur dann GdB-relevant, wenn anhaltende Reizerscheinungen bestehen.
Hierunter sind sichtbare Veränderungen an den Kniegelenken in Form von Überwärmungen, Schwellungen oder Ergüssen zu verstehen, die zumindest längerfristig vorhanden sind (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. August 2011 – L 13 SB 161/10 –, juris, Rz. 28). Unter solchen anhaltenden Reizerscheinungen leidet die Klägerin hingegen nicht. Denn N1 hat als sachverständiger Zeuge mitgeteilt, dass das linke Kniegelenk reizlos und ohne Erguss ist, und auch L2 hat bei seiner gutachterlichen Untersuchung eine Kapselschwellung oder einen Erguss nicht feststellen können. Der V2 hat ebenso keine anhaltenden Reizerscheinungen befundet.

Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen, Meinungsäußerungen, sachverständigen Zeugenaussagen und erhobenen Gutachten haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen Grundlagen vermittelt. Weitere Ermittlungen waren deshalb nicht vorzunehmen. Es würde sich hierbei um Ermittlungen ins Blaue hinein handeln, mithin um eine Ausforschung des Sachverhaltes, zu der der Senat nicht verpflichtet ist (vgl. BSG, Beschluss vom 17. Oktober 2018 – B 9 V 20/18 B –, juris, Rz. 19). Insbesondere war aufgrund der voneinander abweichenden Gutachten des R1 und der C2 auch kein weiteres „Obergutachten“ zu erheben. Der Senat hat sich im Rahmen der Beweiswürdigung mit den entgegenstehenden Ergebnissen von Gutachten auseinanderzusetzen. Hält er eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einholen zu müssen. Bei einer derartigen Fallgestaltung ist für eine weitere Beweiserhebung regelmäßig kein Raum (vgl. BSG, Beschluss vom 1. April 2014 – B 9 V 54/13 B –, juris Rz. 10).

Nachdem im Funktionssystem „Geschlechtsapparat“ eine wesentliche Änderung i. S. d. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X zur Überzeugung des erkennenden Spruchköpers nicht nachgewiesen ist und in den Funktionssystemen „Rumpf“ und „Beine“ kein Teil-GdB von mehr als 10 vorliegt, wird nach den oben dargelegten Grundsätzen zur Bildung des Gesamt-GdB ein höherer Gesamt-GdB als 40, wie ihn der Beklagte bereits durch den maßgeblichen Vergleichsbescheid vom 19. Januar 2017 festgestellt hat, nicht erreicht.

Nach alledem konnte die Berufung der Klägerin keinen Erfolg haben und war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.









 

Rechtskraft
Aus
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