L 5 SB 34/21

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG Hannover (NSB)
Aktenzeichen
S 23 SB 284/18
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 5 SB 34/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 29. Januar 2021 wird zurückgewiesen.

Kosten für das Berufungsverfahren sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung der Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und B (Berechtigung für eine ständige Begleitung). Festgestellt ist nach Teilanerkenntnis im Klageverfahren ein Grad der Behinderung (GdB) von 70.

Der Beklagte hatte bei dem 1985 geborenen Kläger mit Bescheid vom 8. Januar 2015 einen GdB von 50 wegen eines psychischen Leidens mit funktionellen Störungen festgestellt.

Im Streit steht der Antrag vom 30. Dezember 2016, mit dem der Kläger eine Verschlimmerung seiner psychischen Störungen sowie erstmals Beeinträchtigungen aufgrund der Diagnosen „Borderline-Störung, Infantilismus, Trigeminusneuralgie, posttraumatische Belastungsstörung“ geltend machte. Zugleich beantragte er die Merkzeichen G, B und RF (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht). Nachdem der Beklagte ein in einem Rentenverfahren erstelltes psychiatrisch-psychotherapeutisches Gutachten vom 29. Mai 2017 beigezogen hatte, lehnte er den Antrag mit Bescheid vom 20. Dezember 2017 i.G.d. Widerspruchsbescheides vom 4. April 2018 ab.

Hiergegen hat der Kläger am 7. Mai 2018 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben und zuletzt nach Teilanerkenntnis des Beklagten mit dem Ziel der Zuerkennung der Merkzeichen G und B geführt. Die psychischen Beeinträchtigungen führten zur Orientierungslosigkeit, weshalb die Voraussetzungen des Merkzeichens G vorlägen; gleichzeitig sei der Kläger antriebslos und desorientiert, weshalb das Merkzeichen B zuzuerkennen sei.  

Das SG hat Befundberichte der Fachärzte für Allgemeinmedizin Dr. F. (Bl. 48 ff. der Gerichtsakte – GA) und Dr. G. (Bl. 69 f.) des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. H. (Bl. 71 f.) und des Facharztes für Anästhesiologie Dr. I. (Bl. 74 f.) eingeholt. Wegen der Einzelheiten der Befundberichte wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen. Das SG hat zudem Beweis erhoben durch Einholung eines fachpsychiatrischen Gutachtens der Fachärztin für Psychiatrie Dr. J.. Nach ihrer Einschätzung liegt eine schwere psychische Störung mit mittelgradigen Anpassungsstörungen vor; die Bewegungsfähigkeit sei allerdings nicht erheblich beeinträchtigt. Wegen der Einzelheiten des Gutachtens vom 13. Januar 2020 wird auf Bl. 145 ff. GA und wegen einer ergänzenden Stellungnahme auf Bl. 179 f. GA Bezug genommen.

Der Beklagte hat ein Teilanerkenntnis mit Schriftsatz vom 6. März 2020 abgegeben und den GdB ab dem 30. Dezember 2016 mit 70 wegen eines „Psychischen Leidens mit funktionellen Störungen, komplexe posttraumatische Belastungsstörung, depressive Störung, Angst-Panikstörung“ festgestellt. Der Kläger hat das Teilanerkenntnis angenommen und die Klage gerichtet auf die Zuerkennung der Merkzeichen G und B fortgeführt.

Mit Gerichtsbescheid vom 29. Januar 2021 hat das SG die Klage nach Anhörung der Beteiligten abgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Zuerkennung der beantragten Merkzeichen, weil keinerlei Beeinträchtigung seines physischen Gehvermögens vorliege.

Gegen den ihm am 1. Februar 2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 25. Februar 2021 Berufung eingelegt und darauf verwiesen, dass auch die erhebliche psychische Beeinträchtigung zur Zuerkennung der Merkzeichen führen müsse. Der Kläger beruft sich auf die UN-Behindertenrechtskonvention und die Gleichstellung von psychischen mit physischen Erkrankungen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 29. Januar 2021 aufzuheben und den Bescheid des Beklagten vom 20. Dezember 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. April 2018 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 6. März 2020 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm die Merkzeichen G und B festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält den Gerichtsbescheid des SG für zutreffend.

Mit Beschluss vom 28. September 2022 hat der Senat nach Anhörung der Beteiligten die Entscheidung über die Berufung auf den Berichterstatter gem. § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) übertragen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und den Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Grundlage der Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Entscheidung ergeht nach Maßgabe des § 153 Abs. 5 SGG durch die Berichterstatterin als Vorsitzende und die ehrenamtlichen Richter.

Die nach §§ 143, 144 SGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat die über das (Teil-)Anerkenntnis des Beklagten hinausgehende Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid ist in Gestalt des Teilanerkenntnisses rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten; vgl. § 54 Abs. 2 SGG. Er hat keinen Anspruch auf die Feststellung der Merkzeichen G und B nach §§ 228 Abs. 1 Satz 1, Abs. 6, 229 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 i.V.m. § 152 Abs. 1 und 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX).

Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 SGB IX in der Fassung des Bundesteilhabegesetzes vom 23. Dezember 2016 (vorherige, im Wesentlichen inhaltsgleiche Regelung: § 69 Abs. 1 SGB IX in der Fassung vom 7. Januar 2015) stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch weitere gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für behinderte Menschen sind. Einzelheiten enthält insoweit die auf der Grundlage des § 30 Abs. 16 Bundesversorgungsgesetz (BVG; früher: Abs. 17) mit Wirkung ab 1. Januar 2009 erlassene Versorgungsmedizin–Verordnung (VersMedV) mit ihrer Anlage zu § 2 – Versorgungsmedizinische Grundsätze - VMG (vgl. nunmehr die eigenständige Ermächtigung in § 153 Abs. 2 SGB IX und die Übergangsregelung in § 241 Abs. 5 SGB IX).

1.

Die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens G liegen nicht vor.

Gemäß § 228 Abs. 1 S. 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 152 Abs. 5 SGB IX Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr i. S. des § 230 Abs. 1 SGB IX. Nach § 229 Abs. 1 S. 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.

Der Kläger erfüllt die Voraussetzung einer Schwerbehinderung. Insoweit steht die Feststellung eines GdB von 70 wegen einer psychischen Störung nicht im Streit. Allerdings ist das Gehvermögen des Klägers nicht im Sinne der Vorschrift eingeschränkt. Dabei liegen unstreitig weder Schädigungen des Stütz- und Bewegungsapparates vor (unmittelbare Beeinträchtigung der Gehfunktion) noch bestehen innere Leiden wie etwa Herz-Kreislaufstörungen, die die Gehfunktion mittelbar beeinträchtigen (vgl. zur unauffälligen Mobilität des Klägers – Stehen, Gehen, Treppensteigen, Zurücklegen von Wegen – Bl. 23 des psychiatrischen Gutachtens, hier Bl. 167 GA). Der Kläger hat auch weder Anfallsleiden im Sinne einer hirnorganischen Störung noch ist seine Orientierungsfähigkeit im Sinne dieser Vorschrift gestört. Die Störung der Orientierungsfähigkeit bei geistig behinderten Menschen ist nur dann anzunehmen, wenn sie sich im Straßenverkehr auf Wegen, die sie nicht täglich benutzen, nur schwer zurechtfinden können (vgl. Teil D Nr. 1 Ziff. f. der Versorgungsmedizinischen Grundsätze – VMG -). Unabhängig davon, dass eine solche Störung bei einem GdB unter 80 nur in besonders gelagerten Einzelfällen in Betracht kommen soll (vgl. Teil D. Nr. 1 Ziff. f. VMG), ist der Kläger zur Überzeugung des Senats in der Lage sich zu orientieren. Die vom Kläger beschriebene, durch Panikattacken ausgelöste Hilflosigkeit im öffentlichen Straßenverkehr ist keine – andauernde - mangelnde Orientierungsfähigkeit im Sinne dieser Vorschrift, sondern eine punktuelle Störung der Handlungsfähigkeit infolge eines Krankheitsereignisses.

Fällt der Kläger demnach nicht unter die in Teil D. Nr. 1 Ziff. a. bis f. VMG genannten Regelbeispiele, schließt das die Zuerkennung des Merkzeichens nicht aus, weil es sich nicht um eine abschließende Aufzählung, sondern um Regelbeispiele handelt. Insoweit hat das BSG ausgeführt, dass im Lichte eines verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbots alle körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen einzubeziehen sind (vgl. Orientierungssatz des Urteils vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R -). In diesem Sinne sind auch Personen mit psychischen Störungen, die eine gleich schwere Auswirkung auf die Gehfunktion haben, dem Personenkreis der genannten Regelbeispiele gleichzusetzen (BSG, aaO). Im Fall des Klägers bestehen jedoch keine psychischen Störungen, die den Gehvorgang beeinträchtigen. Insoweit hat der Senat zwar keinen Zweifel daran, dass der Kläger sich aufgrund der erheblichen psychischen Beeinträchtigungen sozial isoliert, Menschen(-mengen) nicht erträgt und der Unterstützung eines Freundes bedarf, um Wege des Alltages bewältigen zu können. Diese Auswirkungen sind Folge der von der Gutachterin Dr. J. gestellten Diagnose einer „Panikstörung mit Agoraphobie“ (vgl. Seite 20 des psychiatrischen Gutachtens, hier Bl. 164 GA). Es handelt sich jedoch nicht um eine psychische Störung, die sich spezifisch auf das Gehvermögen auswirkt, weshalb die Voraussetzungen des Merkzeichens nicht erfüllt sind (vgl. auch Urteil des erkennenden Senats vom 30. Mai 2016 – L 5 SB 108/14).

2.

Liegen bei dem Kläger die Voraussetzungen des Merkzeichens G nicht vor (und sind auch nicht die Merkzeichen „Gl“ und „H“ festgestellt), scheitert schon daran die Feststellung des Merkzeichens B nach §§ 228 Abs. 6, 229 Abs. 2 SGB IX.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach Maßgabe des § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.

Rechtskraft
Aus
Saved