L 5 KR 796/21 KH

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 33 KR 25/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 796/21 KH
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 04.08.2021 abgeändert und die Widerklage abgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen.           

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 17.927,46 Euro festgesetzt.

 

 

Tatbestand:

 

Im Streit steht die Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung.

 

Die Klägerin betreibt ein nach § 108 SGB V zugelassenes Plankrankenhaus. Der bei der Beklagten krankenversicherte F. E. (nachfolgend: Versicherter), geboren 0000, wurde im Zeitraum vom 27.05. bis 08.06.2015 stationär wegen eines Harnweginfekts mit Pseudomonas pneumoniae antibiotisch behandelt.

 

Die Behandlung wurde der Beklagten unter dem 16.06.2015 in Rechnung gestellt. Diese beglich die Rechnung zunächst vollständig und leitete nachfolgend mit Blick auf die angesetzte Beatmungszeit ein Prüfverfahren ein. Sie informierte die Klägerin hierüber mit Schreiben vom 09.07.2015. Mit Gutachten vom 11.12.2015 kam der MDK, namentlich die Internistin B. zu dem Ergebnis, die seitens der Klägerin geltend gemachten 289 Beatmungsstunden seien insgesamt nicht zu berücksichtigen. Trotz der Durchführung der Therapie auf der Intensivstation sei lediglich eine intensivmedizinische Überwachung und keine intensivmedizinische Versorgung erfolgt. Der bei bekannter Muskeldystrophie vom Erb-Duchenne Typ bereits NIV heimbeatmete Versicherte sei seitens der Pflege als kreislaufstabil und respiratorisch stabil beschrieben worden. Eine eingeschränkte Kommunikation sei möglich gewesen. Es sei davon auszugehen, dass der Zustand der Versorgung im Krankenhaus dem Zustand der Versorgung im häuslichen Bereich entsprochen habe. Die Beatmungsstunden seien daher nach der DKR 1001l nicht zu berücksichtigen. Statt der DRG A11H sei lediglich die DRG L63C anzusetzen. Hieraus ergebe sich ein Entgelt von 3.420,55 € anstelle der geltend gemachten 21.193,36 €.

 

Die Beklagte forderte die Klägerin zur Berichtigung der Abrechnung und Rückzahlung des aus ihrer Sicht überzahlten Betrages von 17.927,46 € auf. 

 

Die Klägerin widersprach und vertrat die Auffassung, die geltend gemachten Beatmungsstunden seien vollständig zu berücksichtigen. Der Versicherte sei während des gesamten Zeitraums der stationären Behandlung auf der pneumologischen Intensivstation intensivmedizinisch versorgt und behandelt worden. Dem stehe auch nicht entgegen, dass der Versicherte seitens des Pflegepersonals als kreislaufstabil beschrieben worden sei.

 

Die Beklagte verrechnete unter dem 14.04.2016 die vermeintliche Erstattungsforderung mit einer unstrittigen Forderung der Klägerin und verwies mit Schreiben vom 20.04.2016 auf den Sozialrechtsweg. Das Prüfverfahren sei abgeschlossen. Eine außergerichtliche Zahlungsaufforderung der Klägerin blieb erfolglos.

 

Am 04.01.2017 hat die Klägerin in Höhe der verrechneten Erstattungsforderung Leistungsklage bei dem Sozialgericht erhoben. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen die vorgenannten Ausführungen wiederholt und ergänzt, bei dem Versicherten habe es sich um einen multimorbiden jungen Mann gehandelt, der aufgrund der schwergradigen Muskeldystrophie über ein Tracheostoma invasiv beatmet worden sei. Die Behandlung seines Harnwegsinfekts sei nur auf der Intensivstation möglich gewesen. Gerade vor dem Hintergrund der stark eingeschränkten Kommunikation und der Multimorbidität sei eine 24-stündige Überwachung und Betreuung auf der Intensivstation medizinisch indiziert gewesen. Der Versicherte sei z.B. aufgrund bestehender Kontrakturen nicht in der Lage, eine Notrufklingel zu betätigen. Die Versorgung auf einer Normalstation hätte für den - langjährig bekannten - Versicherten lebensbedrohliche Risiken mit sich gebracht.

 

Unter dem 09.11.2018 hat die Beklagte die Klageforderung der Klägerin anerkannt und ihrerseits Widerklage erhoben.

 

Die Beklagte hat zuletzt schriftsätzlich beantragt,

            die Klägerin zur Zahlung von 17.927,46 € zu verurteilen.

 

Die Klägerin hat das Anerkenntnis der Beklagten angenommen und ihrerseits beantragt,

            die Widerklage abzuweisen. 

 

Die Beklagte hat im Wesentlichen ausgeführt, die von der Klägerin geltend gemachte DRG A11H (Beatmung > 249 Stunden, ohne komplexe oder bestimmte OR-Prozedur, ohne intensivmedizinische Komplexbehandlung > 588 / 828 / 1104 Aufwandspunkte, ohne komplizierte Konstellation, Alter > 15 Jahre, ohne komplexe Diagnose oder Prozedur, ohne äußerst schwere CC) sei nicht anzusetzen. Vielmehr seien die 289 Beatmungsstunden insgesamt nicht zu berücksichtigen. Dies führe zur Ansteuerung der DRG L63C (Infektionen der Harnorgane mit äußerst schweren CC, ohne Komplexbehandlung bei multiresistenten Erregern, Alter > 5 Jahre oder ohne äußerst schwere CC, mit Komplexbehandlung bei multiresistenten Erregern). Gemäß der Ziffer 1001l der hier zeitlich einschlägigen DKR 2015 werde eine maschinelle Beatmung (künstliche Beatmung) definiert als ein Vorgang, bei dem Gase mittels einer mechanischen Vorrichtung in die Lunge bewegt werden. Die Atmung werde unterstützt durch das Verstärken oder Ersetzen der eigenen Atemleistung des Patienten. Bei der künstlichen Beatmung sei der Patient in der Regel intubiert oder tracheotomiert und werde fortlaufend beatmet. Bei intensivmedizinisch versorgten Patienten könne eine maschinelle Beatmung auch über Maskensysteme erfolgen, wenn diese anstelle der bisher üblichen Intubation oder Tracheotomie eingesetzt würden. Für den Sonderfall der heimbeatmeten Patienten seien Beatmungszeiten zu erfassen, wenn es sich um einen „intensivmedizinisch versorgten Patienten“ handele. Es komme nicht (nur) auf die intensivmedizinische Versorgung an, sondern (auch) darauf, ob der Patient einer solchen bedurfte. Dies sei angesichts des dokumentierten stabilen Zustands des Versicherten nicht der Fall gewesen. Nach der Definition des BSG sei intensivmedizinische Behandlung, Überwachung und Pflege von Patienten erforderlich, bei denen die für das Leben notwendigen vitalen oder elementaren Funktionen von Atmung, Kreislauf, Homöostase und Stoffwechsel lebensgefährlich bedroht oder gestört seien, mit dem Ziel, diese Funktionen zu erhalten, wiederherzustellen oder zu ersetzen, um Zeit für die Behandlung des Grundleidens zu gewinnen. Die Vergütungsregelungen zielten gerade darauf ab, die Behandlung heimbeatmeter Patienten nicht den hochpreisigen Beatmungs-DRG zuzuordnen, wenn diese wegen einer wenig dramatischen Behandlung aufgenommen würden.

 

Das Sozialgericht hat unter dem 12.10.2017 den Sachverständigen H., Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin, mit der Erstattung eines Gutachtens zu der Frage beauftragt, ob in der Zeit vom 27.05.2015 bis zum 08.06.2015 eine intensivmedizinische Versorgung des Versicherten erforderlich und wirtschaftlich war.

 

Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 08.04.2019 ausgeführt, die Klägerin habe die Behandlungsunterlagen nur fragmentarisch vorgelegt. Die Unterlagen zur Intensität der pflegerischen Versorgung und die Intensivkurven hätten vollständig gefehlt. Der Harnwegsinfekt des Versicherten sei bei einem vorhergehenden stationären Aufenthalt festgestellt worden. Die Krankenhausbehandlung des Versicherten sei unter dem 22.05.2015 ohne Angabe einer konkreten Erkrankung wegen des Nachweises diverser Keime verordnet worden. Zum Zeitpunkt der Aufnahme seien Atmungsfunktion und Herzkreislauffunktion stabil gewesen. In der mikrobiologischen Untersuchung sei der Krankheitserreger Pseudomonas aeruginosa ohne Nachweis einer besonderen Resistenzlage diagnostiziert worden. Infolge der angeborenen Muskelatrophie vom Typ Erb-Duchenne habe der Versicherte an zahlreichen weiteren Erkrankungen und Komplikationen gelitten, namentlich an

  • der Unfähigkeit, selbständig dauerhaft oder intermittierend zu atmen mit Abhängigkeit von einer kontinuierlichen invasiven Beatmung über eine Trachealkanüle,  
  • der Unfähigkeit, wegen Schluckbeschwerden (ausreichend) Nahrung oral zu sich zu nehmen mit Abhängigkeit von der Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr über eine Ernährungssonde,
  • zahlreichen Gelenkversteifungen (Kontrakturen) mit der Unfähigkeit, sich selbst im Bett zu lagern oder das Bett zu verlassen.

Infolge der invasiven Beatmung über Luftröhrenschnitt (Tracheostoma) sei darüber hinaus die verbale Kommunikation massiv beeinträchtigt gewesen.

Eine stationäre Aufnahme zur Sanierung des Befundes sei wegen des Risikos einer Urosepsis angesichts der Begleiterkrankungen und des früheren Verlaufs infektiöser Erkrankungen (drei Lungenentzündungen in den Jahren 2010 und 2012, Urosepsis in 2014) gerechtfertigt gewesen. 

Die aus 2007 stammende Definition des BSG zur intensivmedizinischen Versorgung beziehe sich auf Zitate aus 1976 und sei aus heutiger Sicht nicht geeignet, ausreichend trennscharf zwischen Patienten mit und ohne intensivmedizinischer Versorgung zu differenzieren. Der Übergang zwischen Intensivmedizin (IST), Intermediate-Care-Behandlung (IMC) und Versorgung auf Normalstation sei fließend. Einen Bewertungsrahmen böten die folgenden Kriterien:

  • gestörte bzw. bedrohte Organfunktionen,
  • spezielle Operationen, Krankheitszustände oder Erkrankungen, die das Risiko einer sich entwickelnden (potentiell) bedrohlichen Funktionsstörung in sich bergen und deshalb einer engmaschigen Überwachung bedürfen,
  • spezielle pathologische Befunde oder Laborwerte oder
  • Zustände, die einen erhöhten Pflegeaufwand bedürfen.

Der Fachausschuss für ordnungsgemäße Kodierung und Abrechnung (FoKA) empfehle insoweit, auf zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern konsentierte Scoringsysteme wie den TISS-28 oder den FR(=Frühreha)-Barthel-Index zurückzugreifen.

Der TISS (Therapeutic Intervention Scoring System)-28 beschreibe die Intensität der Behandlungspflege. Ein Punkt entspreche im Durchschnitt 10,8 Minuten Pflegeaufwand. Werte bis zu 10 Punkten entsprächen einer Intensivüberwachung, 11-22 Punkte einer Intermediate Care Versorgung und Werte ab mindestens 23 Punkten einer Intensivbehandlung im engeren Sinne.

Die Grundpflege werde differenziert durch den Barthel-Index abgebildet. Sie erfasse die Aktivitäten des täglichen Lebens und bewerte das Maß an Selbständigkeit bzw. die erforderliche pflegerische Unterstützung. Bei voller Selbständigkeit seien maximal 100 Punkte möglich, bei kompletter pflegerischer Unterstützung null Punkte. Der Index sei für die Zuweisung von Patienten in ein gestuftes System der Rehabilitation um Merkmale der Behandlungspflege ergänzt worden (intensivmedizinisch überwachungspflichtiger Zustand, absaugpflichtiges Tracheostoma, intermittierende Beatmung, beaufsichtigungspflichtige Verhaltensstörung mit Eigen- und/oder Fremdgefährdung, schwere Verständigungsstörung, beaufsichtigungspflichtige Schluckstörung). Diese Items würden bei Vorliegen mit minus 25 oder minus 50 Punkten bewertet. Der Frühreha-Barthel-Index könne also mit minus 325 bis plus 100 Punkten ausgeprägt sein. Von einer intensivmedizinischen Versorgung in Form einer Phase-B-Rehabilitation sei auszugehen, wenn der Patient weniger als 35 Punkte erhalte.

Im konkreten Fall sei zunächst festzustellen, dass die Gutachterin des MDK fälschlich von nichtinvasiver Beatmung ausgehe. Der Versicherte sei aber laufend tracheotomiert gewesen.

Der Aufwand für die Behandlungspflege habe gemäß TISS-28 bei 19-20 Punkten gelegen, namentlich

Standard-Monitoring = 5

Labor = 1

Medikation = 3

Beatmung = 5

Künstliche Luftwege = 1

Atemtherapie = 1

Ausfuhr = 2

Enterale Ernährung = 2

Summe                                             = 20

In den letzten drei Tagen seien keine Laborleistungen mehr erbracht worden (Summe = 19).

Der Frühreha-Barthel-Index habe bei Aufnahme minus 165 betragen.

Zusammenfassend sei damit faktisch von einer intensivmedizinischen Versorgung des Versicherten auszugehen. Dieser sei nicht lediglich intensivmedizinisch überwacht worden. Denn dies würde voraussetzen, dass der Versicherte sich selbst habe mobilisieren, waschen und ernähren sowie seine Ausscheidungsfunktion kontrollieren können. 240 Minuten Behandlungspflege und ca. 240 Minuten Grundpflege entsprächen einer Personalbindung von mindestens acht Stunden und überstiegen damit die Schwelle von sechs Stunden pro Tag für eine Intermediate Care Versorgung. Eine Versorgung auf einer Normalstation sei zu keinem Zeitpunkt ausreichend gewesen. Die Klägerin habe die DRG A11H zutreffend angesetzt.

 

Der MDK hat nach Vorlage der vollständigen Behandlungsdokumentation in einer gutachterlichen Stellungnahme vom 14.06.2019 demgegenüber eingewandt, der OPS in der Version 2015 nutze zur Berechnung der Aufwandspunkte für die intensivmedizinische Komplexbehandlung (OPS-Kode 8-980) bei Erwachsenen die SAPS- [=Simplified Acute Physiology Score] und TISS-Skala.

Die Anzahl der Aufwandspunkte ergebe sich aus der Summe der täglichen SAPS II (ohne den Glasgow Coma scale) und die Summe von 10 täglich ermittelten aufwendigen Leistungen aus dem TISS Katalog. Von den erfassten Leistungen, namentlich

 

Apparative Beatmung

5

Infusion multipler Katecholamine (>1)

4

Flüssigkeitsersatz in hohen Mengen (>5 l/24 Std.)

4

Peripherer arterieller Katheter

5

Linksvorhof-Katheter / Pulmonalis-Katheter

8

Hämofiltration / Dialyse

3

Intrakranielle Druckmessung

4

Behandlung einer metabolischen Azidose / Alkalose

4

Spezielle Interventionen auf der ITS (z.B. Tracheotomie, Kardioversion)

5

Aktionen außerhalb der Station (Diagnostik / Operation)

5

 

sei bei fortgesetzter Heimbeatmung lediglich die apparative Beatmung mit fünf Punkten anzuerkennen.

Den FR-Barthel-Index mit -165 anzusetzen sei fraglich, da der Sachverständige hier einen intensivmedizinisch überwachungspflichtigen Zustand anerkannt habe. Genau diese Frage sei aber streitig, nämlich ob der Versicherte medizinisch als intensivpflichtig anzuerkennen sei oder aufgrund der hohen Pflegebedürftigkeit (lediglich) intensivmedizinisch überwacht worden sei.

Der MDK prüfe das Vorliegen einer intensivmedizinischen Versorgung nicht anhand des TISS-28 oder des FR-Barthel-Index, sondern anhand der „medizinischen Kriterien“.

Die Klinik habe hierzu in ihren Unterlagen keine Summenscores erfasst oder den FR-Barthel-Index vorgelegt.

Ein über das Standard-Monitoring hinausgehender Aufwand sei nicht ersichtlich. Der Versicherte sei respiratorisch und hämodynamisch stabil gewesen. Die Beatmung sei an dem mitgebrachten Heimbeatmungsgerät fortgesetzt worden. Der Beatmungsmodus sei nicht geändert worden. Die Blutgasanalyse sei in unregelmäßigen und zum Teil langen zeitlichen Abständen erfolgt und habe sich als stabil erwiesen. Es sei damit lediglich eine intensivmedizinische Überwachung nachgewiesen, nicht aber die Notwendigkeit einer intensivmedizinischen Versorgung. Der Versicherte sei lediglich über das normale Maß pflegerischer Tätigkeiten auf einer Normalstation hinaus pflege- und betreuungsintensiv gewesen. Hierfür sei der OPS 9-200 - hochaufwendige Pflege von Erwachsenen - einschlägig. 

 

Das Sozialgericht hat eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen H. eingeholt. Dieser ist bei seiner Einschätzung verblieben. Er hat ergänzend im Wesentlichen ausgeführt, dass der FoKA in seiner Stellungnahme zur Thematik empfehle, bei einem TISS-28-Score von 10-22 Punkten zusätzlich den FR -Barthel-Index einzubeziehen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation sehe bei einem Index von weniger als 30 eine intensivmedizinische Struktur für die Versorgung der Patienten als notwendig an.

Die Scoring-Kriterien der intensivmedizinschen Komplexbehandlung seien nicht übertragbar. Die Einführung dieses Kodes im Jahr 2005 sei nicht dafür vorgesehen zu entscheiden, ob ein Patient intensivmedizinisch versorgt sei oder nicht, sondern hiermit sollten besonders teure intensivmedizinische Fälle sachgerechter vergütet werden.

Soweit der MDK ausgeführt habe, der Einsatz der besonderen Mittel der Intensivstation sei nicht notwendig gewesen, sei dies nicht nachvollziehbar. Der Versicherte sei bei einem Ausfall des Beatmungsgeräts unmittelbar vital gefährdet und nicht in der Lage gewesen, z.B. bei einer Diskonnektion zwischen Beatmungsschlauch und Trachealkanüle diese Verbindung selbst wiederherzustellen. Die benannte Stabilität des Versicherten sei das Ergebnis der intensivmedizinischen Versorgung. Ohne diese wäre der Versicherte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in kürzester Zeit instabil geworden.

 

In einer weiteren gutachterlichen Stellungnahme vom 07.01.2021 ist der MDK bei seiner Einschätzung verblieben. Bei einem zuvor heimbeatmeten Patienten müsse sich der aktuelle Zustand durch Exazerbation von einem stabilen (häuslichen) Zustand unterscheiden, der eine Veränderung der Beatmungsparameter oder andere Eingriffe in das therapeutische Regime erforderlich machen. Eine solche Veränderung sei nicht ersichtlich. Eine 8-stündige Blutgasanalyse sei nicht erfolgt, ebenso wenig wie ein tägliches Routinelabor.

 

Nachfolgend haben sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Mit Urteil vom 04.08.2021 hat das Sozialgericht die Klägerin auf die Widerklage hin verurteilt, an die Beklagte 17.927,46 € zu zahlen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass zwar eine stationäre Behandlung des Versicherten erforderlich gewesen sei, die Klägerin eine Vergütung aber nicht in dem geltend gemachten Umfang beanspruchen könne. Die Klägerin habe daher den überzahlten Betrag zu erstatten. Die in Rechnung gestellte DRG A11H scheide nach Auffassung der Kammer aus.

Der Versicherte sei nicht intensivmedizinisch versorgt worden. Zu keinem Zeitpunkt habe eine lebensgefährliche Bedrohung oder Störung vorgelegen. Der mögliche Ausfall der Beatmungsgeräte sei eine rein hypothetische Erwägung. Zudem habe eine solche Betrachtung zur Folge, dass jeder beatmungspflichtige Versicherte intensivmedizinisch versorgt sei. Dies lasse sich mit dem Inhalt der Regelung in DKR 1001l Nr. 4 nicht übereinbringen. Eine bloße - unstrittig sehr aufwendige - Pflege sei nicht ausreichend. Eine Anknüpfung allein an die Scores TISS-28 und FR-Barthel-Index sei von den Vertragsparteien nicht vorgenommen worden.

 

Gegen das ihr am 03.09.2021 zugestellte Urteil hat die Klägerin am Montag, den 04.10.2021 Berufung eingelegt.

 

Zur Begründung hat sie sich im Wesentlichen auf die Feststellungen des Sachverständigen H. gestützt. Wenn das Sozialgericht diese bezweifle, sei ein Obergutachten einzuholen.

 

Die Klägerin beantragt,

            das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 04.08.2021 abzuändern und die Widerklage abzuweisen.

 

Die Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. An keiner Stelle sei eine Instabilität von Atmung, Kreislauf, Homöostase oder Stoffwechsel aus der Patientenakte ersichtlich. Das Sozialgericht sei seiner Amtsermittlungspflicht nachgekommen. Bei nur unregelmäßigen und zum Teil mit langen zeitlichen Abständen durchgeführten Blutgasanalysen könne nicht von einem hinreichenden Monitoring von Atmung und Kreislauf und damit von intensivmedizinischer Versorgung ausgegangen werden.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der den Versicherten betreffenden Patientenakte Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

 

Entscheidungsgründe:

 

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat die Klägerin zu Unrecht auf die Widerklage der Beklagten hin mit dem angefochtenen Urteil vom 04.08.2021 zur Zahlung von 17.927,46 € verurteilt. Das Urteil war dementsprechend abzuändern und die allein noch anhängige Widerklage abzuweisen.

 

Die Widerklage der Beklagten war zulässig, aber unbegründet. Denn die Beklagte hat keinen Anspruch auf Zahlung von 17.927,46 €.

 

Rechtsgrundlage des streitgegenständlichen Zahlungsanspruchs ist der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch. Da die Rechtsbeziehungen zwischen Krankenkassen und als Leistungserbringer zugelassenen Krankenhäusern öffentlich-rechtlicher Natur sind (§ 69 Abs. 1 Satz 2 SGB V – vgl. hierzu Krasney, in: BeckOGK, § 69 SGB V Rn. 36 f.) tritt an die Stelle des zivilrechtlichen Bereicherungsrechts nach § 812 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch. Der Beklagten steht ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch gegen die Klägerin zu, wenn sie den streitigen Teil der Krankenhausvergütung ohne Rechtsgrund gezahlt hat.

 

Dies ist nicht der Fall. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Vergütungsanspruch (auch) in Höhe der hier streitigen 17.927,46 €.

 

Rechtsgrundlage des Vergütungsanspruchs ist § 109 Abs. 4 Satz 3 SGB V, § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 9 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über die Entgelte für voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen (KHEntgG) sowie § 17b Abs. 1 Satz 3 Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) in Verbindung mit § 39 Abs. 1 SGB V und dem Fallpauschalenkatalog für das Jahr 2015. Der Vergütungsanspruch für die Krankenhausbehandlung eines gesetzlich Krankenversicherten und damit korrespondierend die Zahlungspflicht einer Krankenkasse entsteht dabei - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus erfolgt und im Sinne von § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist (siehe BSG, Urteil vom 14.10.2014 - B 1 KR 25/13 R). 

 

Die Beteiligten sind sich einig, dass sich ein Anspruch der Beklagten auf den hier streitigen Betrag von 17.927,46 € rechnerisch zutreffend ergibt, wenn der Behandlungsfall anstatt auf der Grundlage der Kodierung der DRG A11H in der Fassung des Fallpauschalenkatalogs 2015 auf der Grundlage der DRG L63C abzurechnen ist.

 

Die Klägerin hat ihre Abrechnung allerdings zutreffend auf Grundlage der DRG A11H vorgenommen. Diese setzt eine Beatmungsdauer von insgesamt mehr als 249 Stunden (ohne komplexe oder bestimmte OR-Prozedur, ohne intensiv-medizinische Komplexbehandlung > 588 / 828/ 1104 Aufwandspunkte, ohne komplizierte Konstellation, Alter > 15 Jahre, ohne komplexe Diagnose oder Prozedur, ohne äußerst schwere CC) voraus.

 

Allein streitig ist insoweit zwischen den Beteiligten der Ansatz von 289 Beatmungsstunden. Nach der für den Behandlungsfall einschlägigen DKR 2015 Nr. 1001l ist die hierfür erforderliche maschinelle Beatmung („künstliche Beatmung”) ein Vorgang, bei dem Gase mittels einer mechanischen Vorrichtung in die Lunge bewegt werden. Die Atmung wird unterstützt durch das Verstärken oder Ersetzen der eigenen Atemleistung des Patienten. Bei der künstlichen Beatmung ist der Patient in der Regel intubiert oder tracheotomiert und wird fortlaufend beatmet. Bei intensivmedizinisch versorgten Patienten kann eine maschinelle Beatmung auch über Maskensysteme erfolgen, wenn diese an Stelle der bisher üblichen Intubation oder Tracheotomie eingesetzt werden. Nach DKR 2015 - 1001l Nr. 4 gilt, dass für den Sonderfall von heimbeatmeten Patienten, die über ein Tracheostoma beatmet werden, analog zur Regelung zu intensivmedizinisch versorgten Patienten, bei denen die maschinelle Beatmung über Maskensysteme erfolgt, vorzugehen ist. Dies bedeutet, dass die Beatmungszeiten zu erfassen sind, wenn es sich im Einzelfall um einen „intensivmedizinisch versorgten Patienten“ handelt.

 

Zur Überzeugung des Senats handelte es sich bei dem Versicherten im vorliegenden Einzelfall um einen „intensivmedizinisch versorgten Patienten“.

 

Die inhaltliche Bestimmung der Begrifflichkeit "intensivmedizinisch versorgter Patient" ist insoweit eine rechtliche Frage. Da die DKR weder den Begriff "intensivmedizinische Versorgung" noch den der "intensivmedizinischen Behandlung" definieren, ist von der fachsprachlichen Verwendung des Begriffs der "Intensivmedizin" auszugehen. Hierzu führt das BSG in seinem Urteil vom 28.02.2007 - B 3 KR 17/06 R - aus: "Intensivmedizin ist Behandlung, Überwachung und Pflege von Patienten, bei denen die für das Leben notwendigen sogenannten vitalen oder elementaren Funktionen von Atmung, Kreislauf, Homöostase und Stoffwechsel lebensgefährlich bedroht oder gestört sind, mit dem Ziel, diese Funktionen zu erhalten, wiederherzustellen oder zu ersetzen, um Zeit für die Behandlung des Grundleidens zu gewinnen. Heute ist diese Rundum-Betreuung noch sehr viel stärker ausgeprägt. Die Zahl der betreuten Patienten auf der Intensivstation ist deutlich geringer als auf normalen Krankenstationen, weil das Pflegepersonal die Körperfunktionen ihrer Patienten wesentlich umfangreicher beobachten und überwachen muss. Die apparative Versorgung ist vielfältiger und umfasst neben den Geräten zur kontinuierlichen Kontrolle von EKG, Blutdruck, Körpertemperatur und anderen Vitalparametern meist zusätzliche Spezialapparaturen - etwa Beatmungsgeräte, elektronisch gesteuerte Medikamentenpumpen, Beobachtungsmonitore oder Dialysegeräte, die alle - abhängig vom jeweiligen Krankheitsbild - in unmittelbarer Nähe zum Patientenbett vorhanden sein müssen. Auch die ärztliche Tätigkeit ist intensiver als auf anderen Stationen; der Arzt muss bei auftretenden Krisen unmittelbar eingreifen, entsprechende Notfallkompetenz besitzen und die Intensivapparatur zielgerecht einsetzen können.“

 

Zutreffend ist das Sozialgericht zunächst davon ausgegangen, dass nicht bei jedem heimbeatmeten Patienten, der über ein Tracheostoma beatmet und dessen Beatmung im Krankenhaus fortgesetzt wird, allein aufgrund dieses Umstands Beatmungsstunden zu berücksichtigen wären. Ansonsten hätte es der einschränkenden Voraussetzung "wenn es sich im Einzelfall um einen intensivmedizinisch versorgten Patienten handelt" in der DKR 2015 - 1001l Nr. 4, nicht bedurft (vgl. LSG NRW, Urt. vom 14.02.2019 – L 16 KR 562/17).

 

Allerdings steht zur Überzeugung des Senats fest, dass es sich bei dem Versicherten im vorliegenden Einzelfall im Zeitraum vom 27.05.2015 bis zum 08.06.2015 um einen - über die bloße Beatmung hinausgehend - im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts notwendigerweise intensivmedizinisch versorgten Patienten handelte. 

 

Hierbei kann der Senat offenlassen, ob die Definition in der DKR 2020 - 1001s - herangezogen werden kann. Hierfür spräche, dass die dort nunmehr ausdrücklich vorgenommene - und in der Nr. 4 für die heimbeatmeten Patienten in Bezug genommene - Definition des „intensivmedizinisch versorgten Patienten“ die Definition des BSG im Urteil vom 28.02.2007 - B 3 KR 17/06 R - aufgreift.

 

Jedenfalls erfolgte neben der Fortführung der maschinellen Beatmung vorliegend auch die Behandlung der hinzugetretenen Harnwegsinfektion notwendigerweise mit den Mitteln der Intensivstation. Denn die Vitalfunktionen des Versicherten waren nicht nur durch die Muskeldystrophie vom Erb-Duchenne-Typ eingeschränkt – diese hinderten ihn an der uneingeschränkten Spontanatmung –, sondern waren darüber hinaus aufgrund der Harnwegsinfektion bedroht.

 

Wenngleich sich eine krisenhafte Entwicklung im Behandlungszeitraum nicht feststellen ließ, so war die Bedrohung der Vitalfunktionen durch die Infektionserkrankung nicht lediglich abstrakt, sondern insbesondere angesichts der medizinischen Vorgeschichte des Versicherten konkret. Nach den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen H. bestanden schon in der normalen Behandlungssituation nachvollziehbar erhebliche Einschränkungen der verbalen Kommunikation durch das Tracheostoma. Darüber hinaus hinderten die zahlreichen Gelenkversteifungen den Versicherten schon regelhaft daran, sich selbst im Bett zu lagern. Seine Fähigkeit, im Falle einer Funktionsstörung der maschinellen Beatmung selbst Hilfe herbeizurufen, war nachvollziehbar beeinträchtigt. Andererseits war der Versicherte in seiner Bewegung nicht so eingeschränkt wie ein Wachkomapatient, so dass eine bewegungsbedingte Behinderung der maschinellen Beatmung nicht ausgeschlossen war.

 

Nach der unbestrittenen anamnestischen Darstellung des Sachverständigen hatte der Versicherte darüber hinaus in den Jahren 2010 und 2012 bereits drei Lungenentzündungen und in 2014, also zeitnah zu dem vorliegenden Behandlungszeitraum, eine Urosepsis erlitten. Angesichts dieser Disposition war neben den einer maschinellen Beatmung ohnehin innewohnenden Risiken eine infektionsbedingte schleichende Verschlechterung des Allgemeinzustands und insbesondere auch der pulmonalen Leistungsbreite des Versicherten nicht fernliegend. Nachvollziehbar bedurfte dieser - über den Umstand der bloßen Fortführung der Heimbeatmung hinausgehende - Zustand der durchgehenden Überwachung und jederzeitigen Interventionsbereitschaft mit den personellen und sächlichen Mitteln der Intensivstation.

 

Daran, dass dem Versicherten diese Versorgung auf der pulmologischen Intensivstation der Klägerin auch tatsächlich zugekommen ist, hegt der Senat keine Zweifel.

 

Nicht heranzuziehen sind die Voraussetzungen des OPS 8-980 (intensivmedizinische Komplexbehandlung). Eine Komplexbehandlung ist nicht Voraussetzung für die Feststellung der intensivmedizinischen Versorgung. Vielmehr geht der Senat mit dem Sachverständigen H. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 15.12.2019 davon aus, dass die im OPS 8-980 geregelten Aufwandspunkte dafür vorgesehen sind, besonders teure intensivmedizinische Fälle sachgerechter zu vergüten. Eine Gleichsetzung von „schlichter“ intensivmedizinischer Behandlung und intensivmedizinischer Komplexbehandlung im Sinne des OPS 8-980 scheidet damit aus. Eine solche intensivmedizinische Komplexbehandlung hat die Klägerin im Übrigen zu Recht nicht kodiert.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung.

 

Es besteht kein Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen.

 

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs. 1 S 1, 1. HS SGG i.V.m. §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 1 und Abs. 3, 47 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG).

 

Rechtskraft
Aus
Saved