S 89 KR 572/20

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
89
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 89 KR 572/20
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Bei der Prognose nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V sind Entgeltveränderungen aufgrund Mutterschutzes zu berücksichtigen.
2. Die Regelung in § 6 Abs. 4 S. 1 SGB V ist auf neue Beschäftigungsverhältnisse nicht anzuwenden.

GSW

Sozialgericht Berlin

 

 

S 89 KR 572/20

 

 

 

Im Namen des Volkes

Urteil

In dem Rechtsstreit

         
 

 

- Klägerin -

Proz.-Bev.:

gegen

1.       Techniker Krankenkasse,
- Hauptverwaltung - 

Bramfelder Str. 140, 22305 Hamburg,

2.       Techniker Krankenkasse Pflegekasse,  

Bramfelder Str. 140, 22305 Hamburg,
 

- Beklagte -

 

hat die 89. Kammer des Sozialgerichts Berlin ohne mündliche Verhandlung am 1. März 2024 durch die Richterin am Sozialgericht … sowie die ehrenamtliche Richterin Frau … und den ehrenamtlichen Richter Herrn … für Recht erkannt:

 

Der Bescheid vom 13. September 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. März 2020 wird aufgehoben und die Beklagten verpflichtet, den Bescheid vom 28. Mai 2018 zurückzunehmen. Es wird festgestellt, dass die Klägerin bei den Beklagten im Zeitraum vom 1. Mai 2018 bis zum 18. November 2018 pflichtversichert war.

 

Die Beklagten erstatten der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten.

 

 

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin in der Zeit vom 1. Mai 2018 bis zum 18. November 2018 versicherungsfrei in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung war.

 

Die 1983 geborene Klägerin war zunächst in der Zeit vom 1. Januar bis zum 30. April 2018 mit einem Gehalt unter der Jahresarbeitsentgeltgrenze (JAEG) abhängig beschäftigt und wurde bei der Beklagten zu 1) als versicherungspflichtiges Mitglied geführt.

 

Am 1. Mai 2018 begann die Klägerin ein neues Beschäftigungsverhältnis bei den B. W. mit einem vereinbarten Monatsgehalt von 5.942,02 Euro brutto. Die Klägerin war bei Aufnahme der Tätigkeit bereits schwanger, was dem Arbeitgeber zu dem Zeitpunkt auch bekannt war. Die Klägerin hatte dem Arbeitgeber zudem in den ersten Wochen des Beschäftigungsverhältnisses mündlich angekündigt, Elternzeit nehmen zu wollen.

 

Der Arbeitgeber der Klägerin meldete sie wegen Überschreitens der JAEG als versicherungsfreies Mitglied bei der Beklagten zu 1) als Einzugsstelle an.

 

Die Beklagten stellten daraufhin mit Bescheid vom 28. Mai 2018 fest, dass die Klägerin seit dem 1. Mai 2018 bei ihnen freiwillig kranken- und pflegepflichtversichert sei, und setzten Beiträge in Höhe von insgesamt 798,72 Euro monatlich fest.

 

Am 10. August 2018 begab sich die Klägerin in den Mutterschutz, gebar am 23. September 2018 ihr Kind T. H. und blieb bis zum 18. November 2018 im Mutterschutz. Am 25. September 2018 beantragte sie Elternzeit, in der sie sich im Zeitraum vom 19. November 2018 bis zum 22. März 2019 befand. Sie bezog währenddessen Elterngeld in Höhe von monatlich 1.187,23 Euro. Während der Elternzeit stufte die Beklagte zu 1) die Klägerin auf der Grundlage der beitragspflichtigen Mindesteinnahmen für freiwillig Versicherte ein. Gegen die für diesen Zeitraum ergangenen Beitragsbescheide vom 24. Oktober 2018 und vom 18. Dezember 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Juni 2019 ist beim Sozialgericht unter dem Az. S 211 KR 1367/19 eine Klage anhängig (Klagezeitraum laut Klageantrag: 19. November 2018 bis 22. August 2019).

 

Mit Schreiben vom 26. Juni 2019 beantragte die Klägerin bei den Beklagten, den Bescheid vom 28. Mai 2018 zu überprüfen, da nach ihrer Auffassung die Regelungen des § 6 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) nicht eingehalten worden seien.

 

Die Beklagten hielten an ihrer Entscheidung fest und begründeten dies damit, dass § 6 Abs. 4 SGB V nur bei bereits bestehenden Beschäftigungsverhältnissen einschlägig sei (Überprüfungsbescheid vom 13. September 2019).

 

Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein und wies darauf hin, dass sie bei der Entscheidung der Beklagten vom 28. Mai 2018 bereits schwanger gewesen sei. Die Beklagten wiesen den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 5. März 2020 zurück. Bei der vom Arbeitgeber bei Meldung der Sozialversicherung zu treffenden Beurteilung, ob die JAEG überschritten werde, sei eine vorausschauende Betrachtungsweise auf der Grundlage der gegenwärtigen und bei normalem Verlauf für ein Zeitjahr zu erwartenden Einkommensverhältnisse festzustellen. Zukünftige Entgelterhöhungen sowie Entgeltminderungen seien erst ab dem Zeitpunkt zu berücksichtigen, an dem die Änderung eintrete, selbst wenn zum Beurteilungszeitpunkt eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Änderung bestehe. Daher spiele die Entgeltminderung aufgrund Mutterschutzes bzw. Elternzeit bei der Beurteilung des Arbeitgebers keine Berücksichtigung. Die in § 6 Abs. 4 SGB V geregelte abweichende Verfahrensweise sei für Fälle der Neubeschäftigung – wie bei der Klägerin – nicht anzuwenden.

 

Die Klägerin hat am 31. März 2020 Klage erhoben. Sie ist der Auffassung, dass sie in der Tätigkeit ab dem 1. Mai 2018 weiterhin bei der Beklagten zu 1) pflichtversichert sei. Die von der Beklagten gestellte Prognose zur JAEG sei offensichtlich falsch. Bei Berücksichtigung des Verdienstes in den ersten vier Monaten des Jahres, der der Beklagten bekannt gewesen sei, wäre die JAEG auch bei durchgängiger Beschäftigung in dem neuen Beruf nicht überschritten worden. Zudem sei der Beklagten bekannt gewesen, dass die Klägerin schwanger gewesen sei. Daher sei es offensichtlich gewesen, dass die Klägerin die JAEG nicht überschreiten werde. In die Prognose seien zwar keine atypischen oder krankhaften Verläufe einer Schwangerschaft einzustellen, sehr wohl aber Entgeltveränderungen, die wegen der Mutterschutzfristen regelmäßig zu erwarten seien. Bei der zum Jahresende 2018 anzustellenden Prognose bezüglich des Kalenderjahres 2019 sei der Entgeltausfall aufgrund der Schutzfristen des Mutterschutzgesetzes zu berücksichtigen.

 

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Bescheid vom 13. September 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. März 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 28. Mai 2018 zurückzunehmen, sowie festzustellen, dass die Klägerin bei den Beklagten im Zeitraum vom 1. Mai 2018 bis zum 18. November 2018 pflichtversichert war.

 

Die Beklagten beantragen,

            die Klage abzuweisen.

 

Sie verweisen auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte zum hiesigen Verfahren sowie zum Verfahren S 211 KR 1367/19 – insbesondere auf die dort eingeholte Stellungnahme des GKV-Spitzenverbandes vom 26. April 2021 – sowie auf den Inhalt der Verwaltungsakte verwiesen, die der Kammer vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe

 

Das Gericht konnte nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben.

 

Streitgegenständlich ist der Überprüfungsbescheid vom 13. September 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. März 2020, das Überprüfungsbegehren (Rücknahme des Bescheids vom 28. Mai 2018) sowie die Feststellung, dass die Klägerin bei den Beklagten im Zeitraum vom 1. Mai 2018 bis zum 18. November 2018 pflichtversichert war. Die Kammer hat den Klageantrag sinngemäß so ausgelegt, dass es um die Feststellung für diesen Zeitraum geht, da die im Klageverfahren S 211 KR 1367/19 anhängigen Beitragsbescheide, die die Höhe der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge ab Eintritt in die Elternzeit (19. November 2018) regeln, nicht Gegenstand des Widerspruchsverfahrens wurden. Denn § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist nicht einschlägig, da die neuen Beitragsbescheide den im Widerspruchsverfahren streitgegenständlichen Überprüfungsbescheid nicht abändern. Ein bloßer Sachzusammenhang genügt nicht (BSG, Urteil vom 28. Oktober 2014 – B 14 AS 39/13 R, Rn. 11 - juris). Zudem hat der Klägervertreter im Verfahren S 211 KR 1367/19 klargestellt, dass der dortige Klagezeitraum die Zeit vom 19. November 2018 bis zum 22. August 2019 ist (Schreiben vom 4. Juni 2021).

 

Die Klage ist als Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Feststellungsklage zulässig. Die Feststellungsklage ist neben der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässig, da die Aufhebung des Bescheides vom 28. Mai 2018, mit dem die freiwillige Mitgliedschaft festgestellt und Beiträge hierfür erhoben wurden, nicht im gleichen Maße Rechtssicherheit gewährleistet wie die ausdrückliche Feststellung, dass eine Pflichtmitgliedschaft bestanden hat.

 

Die Klage ist begründet. Der Überprüfungsbescheid vom 13. September 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. März 2020 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagten auf Rücknahme des Bescheids vom 28. Mai 2018. Die Klägerin unterliegt im Zeitraum vom 1. Mai 2018 bis zum 18. November 2018 der Versicherungspflicht in der Kranken- und Pflegeversicherung. 

 

Rechtsgrundlage für das auf Verpflichtung der Beklagten zur Rücknahme des Bescheids vom 28. Mai 2018 gerichtete Begehren ist § 44 SGB X. Nach dessen Abs. 1 ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen worden ist, soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.

 

Diese Voraussetzungen liegen vor. Der Bescheid vom 28. Mai 2018 ist rechtswidrig. Die Beklagten haben zu Unrecht für den Zeitraum vom 1. Mai 2018 bis zum 18. November 2018 Beiträge für die freiwillige Kranken- und Pflegepflichtversicherung festgesetzt. Denn die Klägerin war in diesem Zeitraum versicherungspflichtiges Mitglied bei den Beklagten. Die bis zum 30. April 2018 bestehende Versicherungspflicht setzte sich auch bei dem Beschäftigungswechsel am 1. Mai 2018 fort, weshalb die obligatorische Anschlussversicherung nach § 188 Abs. 4 S. 1 SGB V mangels eines Endes der Versicherungspflicht nicht eingetreten ist.

 

Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V sind Angestellte, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind, versicherungspflichtig in der gesetzlichen Krankenversicherung. Angestellte, deren regelmäßiges Jahresarbeitsentgelt die JAEG nach den Absätzen 6 oder 7 übersteigt, sind gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V versicherungsfrei. § 6 Abs. 6 bestimmt, dass die JAEG im Jahr 2003 45 900 Euro beträgt (S.1) und sich zum 1. Januar eines jeden Jahres in dem Verhältnis, in dem die Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer (§ 68 Abs. 2 Satz 1 des Sechsten Buches) im vergangenen Kalenderjahr zu den entsprechenden Bruttolöhnen und -gehältern im vorvergangenen Kalenderjahr stehen, ändert (S.2). Die Bundesregierung setzt die Jahresarbeitsentgeltgrenze in der Rechtsverordnung nach § 160 Sozialgesetzbuch Sechsten Buches (SGB VI) fest (S.4). Die JAEG beträgt im Jahr 2018 59.400 Euro. Nach § 6 Abs. 4 S. 1 SGB V endet die Versicherungspflicht, wenn die JAEG überschritten wird, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie überschritten wird, wobei dies nach S. 2 nicht gilt, wenn das Entgelt die vom Beginn des nächsten Kalenderjahres an geltende JAEG nicht übersteigt.

 

Die Klägerin war im Streitzeitraum unstreitig eine Angestellte, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt ist (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). Die Kammer ist davon überzeugt, dass für den Zeitraum vom 1. Mai 2018 bis zum 18. November 2018 Versicherungspflicht in der Krankenversicherung bestand.

 

Dies ergibt sich entgegen der Auffassung der Klägerin nicht aus § 6 Abs. 4 SGB V, wonach die Versicherungspflicht (erst) mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die JAEG überschritten wird, endet. Denn diese Regelung ist nach der Überzeugung der Kammer nur für laufende Beschäftigungsverhältnisse anwendbar und nicht bei Neuaufnahme (oder Wechsel) einer Beschäftigung mit einem über der JAEG liegenden regelmäßigen Arbeitsentgelt (so auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20. März 2019 – L 5 KR 799/18, Rn. 39 – juris; Vossen, in Krauskopf, 120. EL November 2023, SGB V § 6 Rn. 66; Ulmer, in BeckOK SozR, 71. Ed. 1.12.2023, SGB V § 6 Rn. 17; a.A. Felix, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 6 SGB V (Stand: 21.12.2023), Rn. 31; BeckOGK/Peters, 1.9.2019, SGB V § 6 Rn. 21). Das ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der Regelung, da mit ihr der kurzfristige Wechsel zwischen Versicherungspflicht und -freiheit vermieden werden soll, um eine gewisse Kontinuität im Versicherungsverlauf zu gewährleisten (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20. März 2019 – L 5 KR 799/18, Rn. 39 – juris; Vossen, in Krauskopf, 120. EL November 2023, SGB V § 6 Rn. 64). Ziel des Gesetzgebers war es, Versicherungsfreiheit erst dann eintreten zu lassen, wenn das Überschreiten der JAEG von Dauer ist (BSG, Urteil vom 7. Juni 2018 – B 12 KR 8/16 R, Rn. 15 - juris). Dass das erste Beschäftigungsjahr einer neuen Tätigkeit stets versicherungspflichtig sein soll, unabhängig von der Höhe des Entgelts, steht im Widerspruch zur Grundregel in § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V und dürfte der Gesetzgeber nicht gewollt haben. Wenn von Beginn an ein regelmäßiges Einkommen über der JAEG zu erwarten ist, gibt es keinen schlüssigen Grund, diese Prognose bei Neuaufnahme einer Tätigkeit vorübergehend nicht für maßgeblich zu halten. Auch eine soziale Schutzbedürftigkeit der Beschäftigungswechsler mit einem hochgerechneten Einkommen über der JAEG ist nicht zu sehen (BeckOK SozR/Ulmer, 71. Ed. 1.12.2023, SGB V § 6 Rn. 17). 

 

Die Versicherungspflicht ergibt sich aber aus § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, da das regelmäßige Jahresarbeitsentgelt in der neuen Beschäftigung ab dem 1. Mai 2018 die JAEG nicht überstieg und daher keine Versicherungsfreiheit nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V besteht.

 

Der Begriff des Arbeitsentgelts ist in § 14 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) definiert. Zu berücksichtigen sind danach alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden (vgl. BSG, Urteil vom 15. Juli 2009 – B 12 KR 1/09 R). Das Arbeitsentgelt ist vor dem Hintergrund, dass die Beurteilung der Versicherungspflicht bereits bei Aufnahme der Beschäftigung und auch danach zu jeder Zeit mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden können soll, dann regelmäßig i.S.d. § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, wenn der Betroffene einen Anspruch auf sie hat und sie ihm mit hinreichender Sicherheit zufließen werden (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20. März 2019 – L 5 KR 799/18, Rn. 37 - juris). Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 9. Februar 1993 - 12 RK 26/90 - und vom 7. Juni 2018 - B 12 KR 8/16 R) ist für die Ermittlung des Jahresarbeitsentgelts zu berücksichtigende Verdienst nur derjenige, von dem damit zu rechnen ist, dass er bei normalem Verlauf - abgesehen von einer anderweitigen Vereinbarung über das Entgelt oder von nicht voraussehbaren Änderungen in der Beschäftigung - voraussichtlich ein Jahr anhalten wird. Hiernach ist die Überschreitung der JAEG vorausschauend zu ermitteln (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20. März 2019 – L 5 KR 799/18, Rn. 37 - juris). Maßgebend ist daher vorliegend, ob die vereinbarte Entlohnung bei Beschäftigungsbeginn hochgerechnet auf einen Zeitraum von 12 Monaten die maßgebliche Grenze überschreiten wird. Bei der Berechnung werden die monatlichen Entgeltansprüche des Versicherten auf ein Jahr hochgerechnet (in der Regel mittels einer Multiplikation mit zwölf; BSG, Beschluss des Großen Senats vom 30. Juni 1965 - GS 2/64).

Berücksichtigt man diese Grundsätze, führt entgegen der Ansicht der Klägerin nicht allein der unterjährige Beginn der neuen Beschäftigung zu einem prognostischen Unterschreiten der JAEG. Denn es ist das ab Mai erzielte Entgelt auf 12 Monate hochzurechnen (und nicht nur das ab Mai bis Jahresende mit dem zuvor erzielten Einkommen zu addieren).

 

Allerdings überstieg das regelmäßige Arbeitsentgelt der Klägerin nicht die JAEG, da nach der Überzeugung der Kammer der Ausfall des Arbeitsentgelts während des Mutterschutzes zu berücksichtigen ist.

 

In die Prognose sind zwar keine atypischen oder krankhaften Verläufe einer Schwangerschaft einzustellen, sehr wohl aber Entgeltveränderungen, die wegen der Mutterschutzfristen im Fall einer Schwangerschaft regelmäßig zu erwarten sind (BSG, Urteil vom 7. Juni 2018 – B 12 KR 8/16 R, Rn. 16 – juris zu der Prognose für das Folgejahr bei § 6 Abs. 4 S. 2 SGB V). Die Schutzfrist beträgt regelmäßig sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Entbindung (§ 3 MuSchG). Der Auffassung der Beklagten und des GKV-Spitzenverbandes, dass das BSG in seiner Entscheidung vom 7. Juni 2018 – a.a.O. klargestellt hat, dass die Entgeltveränderungen im Mutterschutz nur bei der Prognose nach § 6 Abs. 4 S. 2 SGB V zu berücksichtigen sind, aber nicht bei der Prognose nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, ist die Kammer nicht gefolgt. Zwar führt das BSG auf, dass es sich nicht in Widerspruch zur früheren Senatsrechtsprechung im Urteil vom 7. Dezember 1989 – 12 RK 19/87 setzt, wo es eine Gehaltserhöhung im Rahmen der Prognose nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V für eine Statusentscheidung erst ab dem Zeitpunkt für relevant hielt, ab dem das höhere Arbeitsentgelt tatsächlich gezahlt wird. Allerdings ist die Kammer nicht davon überzeugt, dass das BSG damit sagen wollte, dass der zu einer Gehaltserhöhung aufgestellte Grundsatz auch für die Entgeltveränderung im Mutterschutz gilt. Die Sachverhalte sind nicht vergleichbar, da eine Gehaltserhöhung eine arbeitsvertragliche (privatautonome) Vereinbarung ist, und die Entgeltveränderung im Mutterschutz Ausfluss einer gesetzlich vorgeschriebenen Mutterschutzzeit. Warum dennoch beide Sachverhalte gleichbehandelt werden sollten, ist nicht ersichtlich und führt das BSG auch nicht weiter aus. Für die Kammer war vor allem nicht nachvollziehbar, warum Sachverhalte (hier: Mutterschutz) bei der Prognose in § 6 Abs. 4 S. 2 SGB V grundlegend anders beurteilt werden sollten, als bei der Prognose in § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V. Denn die hinter der JAEG stehende typisierende Schutzbedürftigkeit (BSG, Urteil vom 7. Juni 2018 – B 12 KR 8/16 R, Rn. 14 - juris) liegt beiden Prognosen zugrunde.

 

Während des Mutterschutzes erhielt die Klägerin gem. § 19 Abs. 1 MuSchuG Mutterschaftsgeld nach dem SGB V sowie einen Zuschuss des Arbeitgebers nach § 20 MuSchuG. Beide Zahlungen gelten nicht als Arbeitsentgelt. Das von der Krankenkasse gezahlte Mutterschaftsgeld ist eine Entgeltfortzahlung und gehört daher nicht zum Arbeitsentgelt nach § 14 SGB IV. Auch der Zuschuss des Arbeitgebers zum Mutterschutzgeld nach § 20 MuSchuG ist nach der speziellen Regelung des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 SvEV vom Arbeitsentgelt gem. § 14 SGB IV ausgenommen (Werner, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 4. Aufl., § 14 SGB IV (Stand: 01.08.2021), Rn. 99).

 

Da demnach die Mutterschutzzeit ohne Arbeitsentgelt bei der Prognose zu berücksichtigen ist, lag das bei Beginn der Beschäftigung zum 1. Mai 2018 regelmäßige Arbeitsentgelt für das Jahr 2018 bei 52.106,94 Euro und damit unter der JAEG (59.400 Euro). Für die Berechnung hat die Kammer den Bruttolohn mit 12 multipliziert (5.942,02 Euro x 12 = 71.306,40 Euro), dann das Ergebnis durch die 52 Wochen eines Jahres geteilt (71.306,40 Euro/52 = 1.371,24 Euro) und dieses Ergebnis mit 38 Wochen (52 Gesamtwochen abzüglich der Mutterschutzwochen) multipliziert (1.371,24 Euro x 38 = 52.106,94 Euro).

Im Rahmen der Prognose ist der objektiv feststehende und erkennbare Sachverhalt zugrunde zu legen (BSG, Urteil vom 7. Juni 2018 – B 12 KR 8/16 R, Rn. 18 - juris). Unerheblich ist, ob die Beklagte Kenntnis davon hatte, dass die Klägerin ein Kind erwartete. Maßgeblich für eine Prognose sind die zum Prognosezeitpunkt bekannten und erkennbaren Umstände; später bekanntwerdende Tatsachen bleiben unberücksichtigt (BSG, Urteil vom 7. Juni 2018 – B 12 KR 8/16 R, Rn. 18 - juris).

 

Da Versicherungspflicht in der Krankenversicherung bestand, war die Klägerin auch versicherungspflichtig in der Pflegeversicherung gem. § 20 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI).

 

Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Sache.

 

Die Berufung bedurfte nach § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG keiner Zulassung, da der Wert des Beschwerdegegenstandes (Beiträge für den Streitzeitraum) 750 € übersteigt.

 

 

Rechtskraft
Aus
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