S 20 SO 238/18

Sozialgericht
SG Münster (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 238/18
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Klage wird abgewiesen.

 

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten der Beigeladenen.

 

Der Streitwert wird auf 2.500.000 € festgesetzt.

 

 

Tatbestand:

 

Die Beteiligten streiten um die Höhe der Erstattung nach § 46a SGB XII. Der Kläger begehrt die Erstattung von Leistungen, die nach seiner Auffassung dem Jahr 2014 zuzuordnen sind.

 

Das beklagte Land erhält von der beigeladenen Bundesrepublik Deutschland eine Erstattung nach § 46a SGB XII für die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII (im Folgenden: Grundsicherungsleistungen). Die für den Abruf der Erstattung (§ 46a Abs. 3 SGB XII) erforderlichen Daten erhält der Beklagte von den örtlichen und überörtlichen Trägern der Sozialhilfe. Der Beklagte leitet die von der Beigeladenen erbrachte Erstattung an die Träger der Sozialhilfe in Nordrhein-Westfalen weiter. Der Kläger ist überörtlicher Träger der Sozialhilfe in Nordrhein-Westfalen.

 

Die Beigeladene erstattete dem Beklagten für das Jahr 2014 Grundsicherungsleistungen in Höhe von insgesamt 1.447.094.009,53 €. An den Kläger leitete der Beklagte im Jahr 2013 einen Betrag in Höhe von 97.972.941,62 € weiter (Schriftsatz des Beklagten vom 7.10.2020).

 

Am 21.12.2018 hat der Kläger Klage erhoben. Er macht geltend, dass in die Erstattung auch existenzsichernde Leistungen an Personen einzubeziehen seien, bei denen der zuständige Rentenversicherungsträger die dauerhafte volle Erwerbsminderung erst nachträglich nach § 45 SGB XII festgestellt habe.

 

Zur Begründung führt der Kläger aus: In den vom ihm gewährten stationären Leistungen seien existenzsichernde Leistungen enthalten, bei denen es sich um Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt oder um Grundsicherungsleistungen handeln könne. Im Falle einer rückwirkenden Feststellung der dauerhaften vollen Erwerbsminderung habe er rückwirkend Grundsicherungsleistungen für das Jahr 2014 bewilligt. Einer Aufhebung oder einer Umdeutung der Bescheide, mit denen Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt bewilligt worden seien, bedürfe es nicht. Diese Bescheide würden nachträglich auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt, was zulässig sei. Dies beruhe auf dem sich aus § 19 Abs. 2 Satz 2 SGB XII ergebenden Vorrang der Grundsicherungsleistungen vor den Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt. Der für einen Grundsicherungsanspruch erforderliche Antrag sei jeweils gestellt worden; den geringen Anforderungen an einen wirksamen Antrag sei jeweils genügt worden. Hieraus ergebe sich ein Anspruch des Klägers auf höhere Erstattung gemäß § 46a SGB XII. Bei rückwirkender Feststellung der Leistungsberechtigung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII habe er - der Kläger - einen Erstattungsanspruch nach den §§ 104, 107 SGB X gegen sich selbst. Dieser Anspruch sei nicht durch § 44c Nr. 2 SGB XII ausgeschlossen und führe zu nach § 46a SGB XII erstattungsfähigen Nettoausgaben.

 

Der Kläger hat zunächst beantragt,

 

  1. festzustellen, dass die Beigeladene, handelnd durch das Bundesministerium für  X, verpflichtet ist, ihm - dem Kläger - die für das Jahr 2014 kassenwirksam erbrachten, existenzsichernden Leistungen für die in der Anlage K 1 zur Klageschrift bezeichneten Leistungsempfänger zu erstatten, bei denen rückwirkend festgestellt ist, dass die Voraussetzungen für eine Bewilligung für Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Jahr 2014 in der in Anlage K 1 jeweils aufgeführten Höhe vorlagen,

 

  1. den Beklagten zu verurteilen, an ihn - den Kläger - insgesamt 6.624.532,77 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit der Klage zu zahlen.

 

Im Vorfeld der mündlichen Verhandlung hat der Kläger eine aktualisierte Aufstellung vorgelegt, und hierzu vorgetragen, es handele sich um Leistungsbezieher handele, bei denen die dauerhafte volle Erwerbsminderung rückwirkend festgestellt worden sei (Schriftsatz vom 13.8.2021).

 

Der Kläger beantragt nunmehr,

 

  1. festzustellen, dass die Beigeladene, handelnd durch das Bundesministerium für X., verpflichtet ist, ihm - dem Kläger - die für das Jahr 2014 kassenwirksam erbrachten, existenzsichernden Leistungen für die in Anlage K 1_neu und Anlage K 8 bezeichneten Leistungsempfänger zu erstatten, bei denen rückwirkend festgestellt ist, dass die Voraussetzungen für eine Bewilligung für Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Jahr 2014 in der in Anlage K 1_neu und Anlage K 8 jeweils aufgeführten Höhe vorlagen,

 

  1. den Beklagten zu verurteilen, an ihn - den Kläger - insgesamt 7.108.303,67 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz auf einen Betrag von 6.624.532,77 € ab Rechtshängigkeit der Klage und auf einen weiteren Betrag von 483.770,90 € ab Rechtshängigkeit des erweiterten Antrags zu zahlen.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Er vertritt die Auffassung, dass er keinen höheren Erstattungsanspruch aus § 46a SGB XII gegen die Beigeladene habe und daher auch der geltend gemachte Zahlungsanspruch des Klägers gegen ihn - den Beklagten - nicht bestehe. In den Fällen der nachträglichen Feststellung der dauerhaften vollen Erwerbsminderung fehle es an Nettoausgaben für Geldleistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, die für einen Erstattungsanspruch gemäß § 46a Abs. 1 SGB XII erforderlich wären. Maßgeblich für die Beurteilung, ob Grundsicherungsleistungen gewährt würden, sei der Zeitpunkt der Kassenwirksamkeit der betreffenden Ausgaben. Zu diesem Zeitpunkt habe der Kläger keine Grundsicherungsleistungen gewährt. Eine rückwirkende Neuzuordnung sei nicht zulässig.

 

Die Beigeladene beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Sie hebt ebenfalls hervor, dass dem Kläger in den Fällen der nachträglichen Feststellung der dauerhaften vollen Erwerbsminderung im Jahr 2014 keine Nettoausgaben für Grundsicherungsleistungen entstanden sind.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen.

 

Entscheidungsgründe:

 

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

 

1. Der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist eröffnet.

 

Nach § 51 Abs. 1 Nr. 6a SGG entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten u.a. in Angelegenheiten der Sozialhilfe. Eine Angelegenheit der Sozialhilfe liegt vor, wenn die angefochtene Entscheidung ihre rechtliche Grundlage in Vorschriften des SGB XII findet oder in einem rechtlichen Zusammenhang mit der Verwaltungstätigkeit nach dem SGB XII steht (BSG, Beschluss vom 25.09.2013 - B 8 SF 1/13 R - juris Rn. 9). Wenn sich die Klage nicht gegen einen Verwaltungsakt richtet, ist auf die Natur des Rechtsverhältnisses abzustellen, aus dem der Klageanspruch hergeleitet wird (zur Abgrenzung von öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Streitigkeiten: BSG, Beschluss vom 25.10.2017 - B 7 SF 1/16 R - juris Rn. 6; zum Vorliegen einer Angelegenheit der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach § 51 Abs. 1 Nr. 4a SGG: BSG, Urteil vom 31.5.2016 - B 1 AS 1/16 KL - juris Rn. 10). Werden mehrere prozessuale Ansprüche im Wege der objektiven Klagehäufung (§ 56 SGG) verfolgt, ist die Eröffnung des Rechtsweges für jeden Anspruch gesondert zu prüfen (Flint in jurisPK-SGG, 2017, § 51 Rn. 316).

 

Der Feststellungsantrag betrifft eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in einer Angelegenheit der Sozialhilfe. Der Kläger leitet die Erstattungspflicht, deren Feststellung er begehrt, aus § 46a SGB XII her.

 

Der Leistungsantrag bezieht sich ebenfalls auf eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in einer Angelegenheit der Sozialhilfe. Als Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Zahlungsanspruch des Klägers gegen den Beklagten kommt allein § 7 Abs. 1 AG-SGB XII in Betracht. Die Vorschrift regelt die Verteilung der vom Bund gewährten Erstattung nach § 46a SGB XII auf die Träger der Sozialhilfe in Nordrhein-Westfalen, wobei die Verteilung ausdrücklich auf die Höhe der Bundeserstattung beschränkt ist (§ 7 Abs. 1 Satz 2 AG-SGB XII). Die Rechtsposition des Klägers gegenüber dem Beklagten ist daher abhängig von dem nach § 46a SGB XII bestehenden Rechtsverhältnis zwischen dem Beklagten und der Beigeladenen. Wegen dieser Akzessorietät ist der vom Kläger geltend gemachte Anspruch ebenfalls sozialhilferechtlicher Natur. Die vorliegende Konstellation unterscheidet sich damit maßgeblich von einem Rechtsstreit, der eine Kostenbeteiligung kreisangehöriger Gemeinden nach § 5 Abs. 5 AG-SGB II betrifft, weil insoweit keine Akzessorietät gegenüber den Rechten und Pflichten nach dem SGB II besteht (hierzu: Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11.2.2015 - L 19 AS 2204/14 B -).

 

Einer Vorabentscheidung über den Rechtsweg bedurfte es nicht, weil kein Beteiligter die Zulässigkeit des Rechtsweges gerügt hat (§ 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 17a Abs. 3 Satz 2 GVG).

 

2. Der Kläger hat eine zulässige Klageänderung vorgenommen.

 

Mit Schriftsatz vom 13.8.2021 hat der Kläger die durch die Klageschrift bestimmten Streitgegenstände geändert (zur Möglichkeit der schriftsätzlichen Klageänderung: Guttenberger in jurisPK-SGG, 2017, § 99 Rn. 45). Es kann offen bleiben, ob die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach § 99 Abs. 3 Nr. 2 und 3 SGG das Nichtvorliegen einer Klageänderung fingiert wird (vgl. Guttenberger, a.a.O., § 99 Rn. 30). Die Klageänderung ist jedenfalls sachdienlich (§ 99 Abs. 1 Alt. 2 SGG, weil zu erwarten ist, dass hierdurch der die Erstattung für das Jahr 2014 betreffende Streit zwischen den Beteiligten endgültig bereinigt wird (vgl. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 99 Rn. 10). Im Übrigen ist eine Einwilligung des Beklagten und der Beigeladenen anzunehmen, weil sie der Änderung nicht widersprochen haben (§ 99 Abs. 1 Alt. 1, Abs. 2 SGG).

 

Aus dem Vorliegen einer zulässigen Klageänderung ergibt sich nicht, dass die Klage insgesamt zulässig ist. Die Zulässigkeit einer Klage bleibt vom Vorliegen der allgemeinen Sachurteilsvoraussetzungen abhängig (BSG, Urteil vom 23.4.2015 - B 5 RE 23/14 R - juris Rn. 12).

 

3. Der Feststellungsantrag nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG zulässig.

 

Nach dieser Vorschrift kann mit der Klage die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Ein Rechtsverhältnis ist die Rechtsbeziehung zwischen mehreren Personen oder zwischen Personen und Sachen, die sich aus der Anwendung einer Rechtsnorm auf das Verhältnis von mehreren Personen zueinander oder auf das Verhältnis einer Person zu einer Sache ergibt (Senger in jurisPK-SGG, 2017, § 55 Rn. 31). Feststellungsfähig ist das Rechtsverhältnis, wenn zwischen den Beteiligten ein Meinungsstreit besteht, aus dem sich eine Seite berühmt, ein bestimmtes Tun oder Unterlassen der anderen Seite fordern zu können. Erfasst ist von § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG auch die Feststellung einzelner Beziehungen oder Berechtigungen aus einem umfassenderen Rechtsverhältnis (BSG, Urteil vom 5.7.2018 - B 8 SO 21/16 R - juris Rn. 17). Gegenstand der Feststellungsklage kann auch ein Rechtsverhältnis zwischen dem Beklagten und einem Dritten sein (Senger in jurisPK-SGG, 2017, § 55 Rn. 34). Ein Feststellungsinteresse in Bezug auf ein Drittrechtsverhältnisses setzt aber voraus, dass der Kläger durch das Rechtsverhältnis in eigenen Rechten betroffen sein kann (BSG, Urteil vom 2.8.2001 - B 7 AL 18/00 R - juris Rn. 11).

 

Der Erstattungsanspruch des Beklagten gegen die Beigeladene, dessen Feststellung der Kläger begehrt, ist ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis. Wegen der in § 7 Abs. 1 Satz 2 AG-SGB XII normierten Beschränkung der Verteilung und Weiterleitung auf die Höhe der Bundeserstattung kann der Kläger zudem geltend machen, durch das Rechtsverhältnis in eigenen Rechten betroffen zu sein.

 

4. Der auf Zahlung von 7.108.303,67 € nebst Zinsen gerichtete Leistungsantrag ist gemäß § 54 Abs. 5 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig.

 

5. Die Feststellungsklage ist unbegründet.

 

Die Beigeladene ist nicht verpflichtet, dem Beklagten die für das Jahr 2014 kassenwirksam erbrachten, existenzsichernden Leistungen des Klägers für die in der Anlage K 1_neu und Anlage K 8 bezeichneten Leistungsempfänger zu erstatten, bei denen rückwirkend festgestellt ist, dass die Voraussetzungen für eine Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Jahr 2014 in der in Anlage K 1_neu und Anlage K 8 aufgeführten Höhe vorlagen.

 

a) Als Rechtsgrundlage für einen Erstattungsanspruch des Beklagten gegen die Beigeladene kommt in erster Linie § 46a Abs. 1 Nr. 2 SGB XII in Betracht.

 

Nach § 46a Abs. 1 Nr. 2 SGB XII in der seit dem 1.1.2013 geltenden Fassung erstattet der Bund den Ländern ab dem Jahr 2014 einen Anteil von 100 Prozent der im jeweiligen Kalenderjahr den für die Ausführung des Gesetzes nach diesem Kapitel zuständigen Trägern entstandenen Nettoausgaben für Geldleistungen nach diesem Kapitel. Die Höhe der Nettoausgaben für Geldleistungen nach § 46a Abs. 1 SGB XII ergibt sich aus den Bruttoausgaben der für die Ausführung des Gesetzes nach dem Vierten Kapitel des SGB XII zuständigen Träger, abzüglich der auf diese Geldleistungen entfallenden Einnahmen (§ 46a Abs. 2 Satz 1 SGB XII in der seit dem 1.1.2013 geltenden Fassung). In § 46a Abs. 3 bis 5 SGB XII sind Einzelheiten zum Abruf der Erstattung durch die Länder (Abs. 3) und zu den die Länder treffenden Nachweispflichten (Abs. 4 und 5) geregelt.

 

b) Soweit ein Sozialhilfeträger im Jahr 2014 Sozialhilfe in Form der Kostenübernahme für eine stationäre Betreuung geleistet hat und die Leistungsbezieher ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht vollständig durch einzusetzendes Einkommen (§§ 82 bis 84 SGB XII) oder einzusetzendes Vermögen (§ 90 SGB XII) sichern konnten, hat er lebensunterhaltssichernde Leistungen nach dem SGB XII erbracht, bei denen es sich um Geldleistungen im Sinne von § 46a Abs. 1 SGB XII handelt.

 

Der Begriff der Geldleistung im Sinne von § 46a SGB XII knüpft an die Regelungen in Art. 104a Abs. 3 Satz 1 und 2 GG an, wonach ein Bundesgesetz, das Geldleistungen gewährt und von den Ländern ausgeführt wird, im Auftrag des Bundes ausgeführt wird, wenn es bestimmt, dass der Bund die Hälfte der Ausgaben oder mehr trägt. Der Begriff der Geldleistung nach Art. 104a Abs. 3 Satz 1 GG ist zwar in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht geklärt (vgl. BSG, Urteil vom 10.3.2015 - B 1 AS 1/14 KL - juris Rn. 24). Dass die lebensunterhaltssichernden Leistungen auch im Falle der stationären Unterbringung Geldleistungen darstellen können, wird aber in § 46a Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB XII vorausgesetzt („Leistungsberechtigte außerhalb und in Einrichtungen“). Hiervon ist auch in den Gesetzgebungsmaterialien im Zusammenhang mit der Neufassung des § 46a SGB XII zum 1.1.2013 ausgegangen worden (vgl. BT-Drucksache 17/11055, Seite 3). Für das Vorliegen einer Geldleistung nach § 46a SGB XII - also im Rechtsverhältnis zwischen Bund und Ländern - ist es unerheblich, dass der Sozialhilfeträger im Rechtsverhältnis zum Leistungsberechtigten die in einer Einrichtung erbrachte vollstationäre Eingliederungshilfe als Sachleistung in Form der Sachleistungsverschaffung erbringt (BSG, Urteil vom 28.10.2008 - B 8 SO 22/07 R -) und der Bedarf an notwendigem Lebensunterhalt als in die stationäre Leistung eingeschlossener    als Rechenposten dem Umfang der Grundsicherungsleistungen entspricht (§ 27b Abs. 1 Satz 2 SGB XII in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung - a.F. -; vgl. BSG, Urteil vom 23.03.2021 - B 8 SO 16/19 R - juris Rn. 21).

 

c) Die Geldleistungen für Personen, die im Jahr 2014 nicht die Altersgrenze erreicht hatten (§ 41 Abs. 2 SGB XII) und bei denen in diesem Jahr keine dauerhafte volle Erwerbsminderung festgestellt war (§ 41 Abs. 3 i.V.m. § 45 SGB XII), sind aber keine Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, die zu im Jahr 2014 entstandenen Nettoausgaben geführt haben. Das gilt auch, wenn die dauerhafte volle Erwerbsminderung nach der später getroffenen Feststellung des zuständigen Rentenversicherungsträges bereits im Jahr 2014 vorlag.

 

Bei den lebensunterhaltssichernden Leistungen, die ein Sozialhilfeträger im Falle der stationären Unterbringung gewährt, handelt es sich entweder um Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 27 ff. SGB XII) oder um Grundsicherungsleistungen (§§ 41 ff. SGB XII). Der notwendige Lebensunterhalt in stationären Einrichtungen (§ 27b Abs. 1 Satz 2 SGB XII a.F.) ist entweder der einen oder der anderen Hilfeart, der weitere notwendige Lebensunterhalt (§ 27b Abs. 2 Satz 1 SGB XII in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung) ist stets der Hilfe zum Lebensunterhalt zuzuordnen (BSG, Urteile vom 27.2.2019 - B 8 SO 15/17 R - juris Rn. 25 und 23.3.2021 - B 8 SO 16/19 R - juris Rn. 13). Die Leistungen für den notwendigen Lebensunterhalt in stationären Einrichtungen sind also nicht automatisch als Grundsicherungsleistungen zu qualifizieren. Für die insoweit erforderliche Abgrenzung zur Hilfe zum Lebensunterhalt kommt es materiell-rechtlich darauf an, dass die Leistungsempfänger entweder die Altersgrenze erreicht haben oder dauerhaft voll erwerbsgemindert sind (§ 41 Abs. 2, 3 SGB XII).

 

In verfahrensrechtlicher Hinsicht wird § 41 Abs. 3 SGB XII durch § 45 SGB XII ergänzt. Danach prüft grundsätzlich nicht der Sozialhilfeträger, ob beim jeweiligen Antragsteller dauerhafte volle Erwerbsminderung vorliegt, sondern der zuständige Rentenversicherungsträger, an dessen Feststellung der Rentenversicherungsträger gebunden ist (§ 45 Satz 2 SGB XII). Bis zur Entscheidung des Rentenversicherungsträgers darf der Sozialhilfeträger grundsätzlich noch keine Grundsicherungsleistungen, sondern muss er Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt erbringen (Blüggel in jurisPK-SGB XII, 3. Auflage 2020, § 45 Rn. 35).

 

Bereits dem Wortlaut des § 46a Abs. 1 SGB XII („der im jeweiligen Kalenderjahr […] entstandenen Ausgaben“) lässt sich entnehmen, dass es für die Beurteilung, ob bestimmte Leistungen in die Erstattung nach § 46a Abs. 1 Nr. 2 SGB XII einzubeziehen sind, auf die Verhältnisse im jeweiligen Jahr - hier im Jahr 2014 - ankommt. Berücksichtigungsfähig sind nur Nettoausgaben, die sich auf Geldleistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII beziehen. Eine hiervon abweichende Regelung enthält lediglich § 46a Abs. 3 Satz 3 SGB XII, wonach Leistungen für Leistungszeiträume im folgenden Haushaltsjahr, die bereits im laufenden Haushaltsjahr erbracht werden, dem Folgejahr zuzuordnen sind. Umgekehrt fehlt aber eine Regelung, dass bei rückwirkender Leistungsbewilligung eine Zuordnung zu einem zurückliegenden Jahr in Betracht kommt. Daher können rückwirkend bewilligte Leistungen nur dem Jahr zugeordnet werden, in dem sie zu Nettoausgaben geführt haben, regelmäßig also dem Jahr der Bewilligung. Die Auffassung des Klägers wird auch nicht durch § 46a Abs. 3 Satz 4 SGB XII (in der seit dem 1.1.2016 geltenden Fassung) gestützt, wonach der Abruf für Nettoausgaben aus Vorjahren, für die bereits ein Jahresnachweis vorliegt, in den darauf folgenden Jahren nach Maßgabe des Absatzes 1 jeweils nur vom 15. Juni bis 14. August zulässig ist. Die Vorschrift kann nur eingreifen, wenn im jeweiligen Vorjahr Grundsicherungsleistungen gewährt worden sind (vgl. Blüggel in jurisPK-SGB XII, 3. Auflage 2020, § 46a Rn. 52).

 

Nach dem dargestellten Konzept des § 46a SGB XII kommt es also maßgeblich darauf an, ob im jeweiligen Kalenderjahr Nettoausgaben für (Geld-) Leistungen entstanden sind, die bereits in diesem Jahr als Grundsicherungsleistungen zu qualifizieren sind. Die Feststellung der dauerhaften vollen Erwerbsminderung, die erst nach Ablauf des Kalenderjahres erfolgt, hat keine für die Erstattung für das abgelaufene Kalenderjahr. § 46a SGB XII stellt eine eigenständige und abschließende Erstattungsregelung dar, die den Rückgriff auf die zwischen Sozialleistungsträgern geltenden Regelungen ausschließt. Dies gilt sowohl für die allgemeinen (§§ 102 ff. SGB X) als auch die speziellen Erstattungsregelungen, beispielsweise bei Feststellung fehlender Erwerbsfähigkeit (§ 40a, § 44a Abs. 3 SGB II).

 

d) Wenn die dauerhafte volle Erwerbsminderung rückwirkend festgestellt wird, entstehen keine Nettoausgaben nach § 46a Abs. 1 SGB XII, wenn und soweit derselbe Sozialhilfeträger für den zurückliegenden Zeitraum bereits Hilfe zum Lebensunterhalt erbracht hat. Der Begriff der Ausgaben im Sinne von § 46a Abs. 1 SGB XII steht im Zusammenhang mit dem finanzverfassungsrechtlichen Begriff der Ausgaben (vgl. Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG). Dieser umfasst Zahlungen, die im Rechnungsjahr voraussichtlich zu leisten sind (Kube in Maunz/Dürig, GG, Stand Januar 2021, Art. 110 Rn. 94). Im Rahmen von § 46a SGB XII ist zwar bei der Prüfung, ob und in welcher Höhe Ausgaben entstehen sind, keine ex-ante-Perspektive anzunehmen, weil nur bereits entstandene Ausgaben berücksichtigungsfähig sind. Wie bei den Ausgaben nach Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG kommt es aber darauf an, ob und in welchem Jahr Geldzahlungen zu leisten sind.

 

Vor diesem Hintergrund ist es unerheblich, ob - wie der Kläger meint - bei rückwirkender Feststellung der dauerhaften vollen Erwerbsminderung ein interner Erstattungsanspruch besteht. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, resultieren aus der rückwirkenden Feststellung keine (neuen) Ausgaben.

 

Das gefundene Ergebnis ist mit der Vorrangregelung in § 19 Abs. 2 Satz 2 SGB XII vereinbar. Die Vorschrift kann nur eingreifen, wenn sowohl die Leistungsvoraussetzungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII als auch die nach dem Vierten Kapitel des SGB XII vorliegen. Die Feststellung der dauerhaften vollen Erwerbsminderung gehört, wie bereits ausgeführt, zu den verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für eine rechtmäßige Gewährung von Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII.

 

e) Andere Anspruchsgrundlagen als § 46a Abs. 1 Nr. 2 SGB XII sind ebenfalls nicht einschlägig. § 46a SGB XII stellt eine abschließende Sonderregelung dar.

 

6. Die Leistungsklage ist unbegründet.

 

Dem Kläger steht der geltend gemachte Zahlungsanspruch gegen den Beklagten nicht zu. Der Zahlungsanspruch kann sich nur aus § 7 Abs. 1 AG-SGB XII ergeben, wonach der Beklagten zur Weiterleitung der Erstattung nach § 46a Abs. 1 SGB XII an die Sozialhilfeträger verpflichtet ist. An einer Erstattung des Bundes oder einer Pflicht des Bundes zur Erstattung fehlt es hinsichtlich der streitigen Leistungen. Insoweit wird die obigen Ausführungen verwiesen.

 

Mangels Hauptanspruch ist auch der geltend gemachte Zinsanspruch ausgeschlossen.

 

7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO.

 

Rechtsgrundlage für die Streitwertfestsetzung ist § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 39 Abs. 1, § 52 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Nr. 2 GKG.

Rechtskraft
Aus
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