L 10 R 612/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 6 R 2195/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 612/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Ein Verlängerungstatbestand nach § 43 Abs. 4 Nr. 3 i.V.m. § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VI setzt neben der Beschäftigungslosigkeit und der Arbeitslosmeldung auch voraus, dass der Betroffene tatsächlich auch eine versicherungspflichtige Beschäftigung sucht und den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (sog. subjektive Verfügbarkeit), mithin nicht lediglich zur Aufrechterhaltung von Anwartschaftszeiten als arbeitsuchend geführt wird.

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 21.01.2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten steht die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung im Streit.

Der 1968 geborene Kläger absolvierte - seinen eigenen Angaben nach - vom 01.09.1986 bis 30.06.1988 eine Ausbildung - jedenfalls - zum Rohrinstallateur und war anschließend als Rohrinstallateur, Einrichter in der Produktion, Sondergaslogistik und ab 2012 als technischer Zeichner versicherungspflichtig beschäftigt. Zum 31.01.2016 gab er diese Tätigkeit auf - seither nahm er auch keine berufliche Tätigkeit mehr auf - und bezog anschließend bis 18.07.2016 und vom 16.10.2017 bis 14.10.2018 Leistungen der Bundesagentur für Arbeit (Arbeitslosengeld I) und vom 19.07.2016 bis 15.10.2017 Krankengeld. Ab dem 01.02.2019 bezog er - mit Unterbrechungen - bis zum 31.05.2021 (siehe Auskünfte des zuständigen Jobcenters H1 vom 11.08.2022, Bl. 121 Senatsakte, und 01.02.2024, Bl. 270 Senatsakte) Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Arbeitslosengeld II). Anschließend hat er - jedenfalls bis zur erneuten Antragstellung am 25.01.2024 (s. Bl. 274 Senatsakte) - weder Arbeitslosengeld II noch andere staatliche Leistungen (mehr) bezogen. Dennoch hat die Beklagte mit bestandskräftigem Vormerkungsbescheid vom 29.06.2023 (Bl. 286 f. Senatsakte) auch im Zeitraum 01.04.2021 bis 31.12.2021 Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II verbindlich festgestellt.

Am 29.06.2017 beantragte er die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung und gab zur Begründung u.a. an, an psychischen Beschwerden (u.a. Depressionen, Ängste, Schwindel, Schmerzen am ganzen Körper, Kopfschmerzen), stark schwankendem Blutdruck und Problemen am Sprunggelenk zu leiden. Die Beklagte zog medizinische Befundunterlagen der den Kläger behandelnden Ärzte bei und ließ ihn durch die P1 (M/12 VA-ÄT, Untersuchungstag: 29.08.2017) und den S1 (M/13 VA, Untersuchungstag: 29.08.2017) medizinisch begutachten. S1 diagnostizierte u.a. Wirbelsäulenschmerzen, lumbal verstärkt, ohne radikuläre Symptomatik, Schulterbeschwerden links mit Funktionseinschränkungen und leichter Impingement-Symptomatik, eine Osteochondrosis dissecans des linken Sprunggelenkes mit Funktionseinschränkungen und eine bekannte Neuritis vestibularis mit Gleichgewichtsstörungen und schätzte die quantitative Leistungsfähigkeit des Klägers für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf arbeitstäglich mindestens sechs Stunden ein. P1 wies auf Aggravationstendenzen beim Kläger hin, diagnostizierte eine Anpassungsstörung und bestätigte die Leistungseinschätzung des S1.

Mit Bescheid vom 19.09.2017 lehnte die Beklagte die beantragte Rente wegen Erwerbsminderung mangels Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen ab. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies sie nach Beiziehung weiterer medizinischer Unterlagen (u.a. Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 27.03.2018) mit Widerspruchsbescheid vom 20.06.2018 zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 16.07.2018 Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben. Das SG hat die den Kläger behandelnden Ärzte (schriftlich) als sachverständige Zeugen befragt. B1 hat mitgeteilt (Bl. 44 ff. SG-Akte), der Kläger leide an einer Osteochondrosis dissecans der medialen Talusschulter sowohl des rechten als auch des linken Sprunggelenkes, einer Fibromyalgie, einer Tendinitis calcarea Schulter links, einer beginnend bis mittelgradig ausgeprägten Coxarthrose bds., einer rezidivierenden Epicondylitis radialis bds., Senk-Spreizfüßen bds. und einem chronisch degenerativen Wirbelsäulensyndrom. Die Steh- und Gehfähigkeit des Klägers sei aufgrund der multiplen Probleme am Bewegungsapparat eingeschränkt, weshalb eine vollschichtige Verrichtung einer leichten körperlichen Tätigkeit nicht möglich sei. Es sei lediglich noch eine stundenweise - etwa vier Stunden täglich - Tätigkeit im Sitzen möglich. Eine Wegstrecke von 500 m und mehr könne der Kläger unter Schmerzen sicherlich bewältigen. E1 hat mitgeteilt (Bl. 62 f. SG-Akte), dass es beim Kläger im Jahr 2012 zu einem Ausfall des rechten Gleichgewichtsorgans gekommen sei, weshalb er keine Tätigkeiten (mehr) ausüben könne, die den Gleichgewichtssinn besonders nutzten. Sitzende Tätigkeiten würden üblicherweise keine Einschränkungen mit sich bringen. Der Kläger sei auch in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen und 500 m zu Fuß zu gehen. Allerdings leide der Kläger in erster Linie an einer psychosomatischen Störung. A1 hat mitgeteilt (Bl. 68 f. SG-Akte), dass der Kläger an einer Dysthymia leide mit Einschränkungen bei der Konzentration und Ausdauer. Derzeit könne der Kläger auch keine leichten Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausüben. Diese Minderung der Leistungsfähigkeit bestehe längerfristig, wenn nicht sogar dauerhaft.

Nach Vorlage der sozialmedizinischen Stellungnahme L1 (Bl. 76 f. SG-Akte) durch die Beklagte hat das SG von Amts wegen das Sachverständigengutachten des F1 eingeholt (Bl. 80 ff. SG-Akte, Untersuchungstag: 12.04.2019). Der Sachverständige hat als Gesundheitsstörungen eine somatoforme Störung mit multilokulären Schmerzen und einer Taubheit des Gesichtes und aller Extremitäten sowie einen Residualzustand nach Labyrinthausfall rechts mit persistierendem phobischem Schwindel beschrieben, ebenfalls auf Aggravationstendenzen beim Kläger hingewiesen und die quantitative Leistungsfähigkeit für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Beachtung qualitativer Einschränkungen (namentlich nur gelegentliches Heben von Lasten bis zu 10 kg, keine Nachtschichten, keine Arbeiten an gefährlichen Maschinen, auf Leitern oder Gerüsten, nur Tätigkeiten mit normaler geistiger Beanspruchung und normaler Verantwortung sowie mit Publikumsverkehr, auch Arbeiten unter erschwerten Bedingungen wie Wärme, Kälte, Feuchtigkeit möglich, keine Tätigkeiten unter erhöhtem Stress) auf vollschichtig eingeschätzt. Auch sei es dem Kläger möglich, täglich viermal eine Strecke von 500 m zu Fuß zurückzulegen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Diesem Gutachten ist der Kläger entgegengetreten und hat einen Bericht über seine stationäre Behandlung im Klinikum W1 vom 30.06.2019 bis 03.07.2019 vorgelegt (Bl. 105 ff. SG-Akte, Diagnosen: rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome, sonstige und nicht näher bezeichnete Störungen des Ganges und der Mobilität, somatoforme autonome Funktionsstörung, schwere motorische Funktionseinschränkung, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren). Hierzu und zu den Einwendungen des Klägers hat der Sachverständige F1 in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 19.08.2019 Stellung genommen (Bl. 113 ff. SG-Akte) und an seiner bisherigen Leistungseinschätzung festgehalten.

Mit Gerichtsbescheid vom 21.01.2020 hat das SG die Klage im Wesentlichen gestützt auf das Gutachten des F1 abgewiesen.

Gegen den - seinen Prozessbevollmächtigten am 29.01.2020 zugestellten - Gerichtsbescheid hat der Kläger am 19.02.2020 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Entgegen der Ausführungen im erstinstanzlichen Gerichtsbescheid und entgegen der Einschätzung des Sachverständigen F1 leide der Kläger an erheblichen psychischen Gesundheitseinschränkungen, die auch zu einer Einschränkung seiner quantitativen Leistungsfähigkeit führten. Er befinde sich seit Jahren und immer wieder in psychiatrischer Behandlung bei S2 (gemeint: A1) sowie dem B2 (gemeint: B3) und werde mit einer Vielzahl von Psychopharmaka und Schmerzmedikamenten, u.a. Opiaten, behandelt. Es werde sich kein Arbeitgeber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt finden, der eine Person mit leichten Tätigkeiten beschäftige, die dauerhaft psychisch erkrankt sei und sich immer wieder stationär in Behandlung befinde. Der Kläger erhalte eine monatliche Rente wegen Berufsunfähigkeit aus einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung. Zudem seien in dem ebenfalls vor dem SG geführten Verfahren auf Anerkennung einer Schwerbehinderung (S 13 SB 1529/19) zwei Sachverständigengutachten eingeholt worden - bei S3 und T1 -, aus denen sich ergebe, dass der Kläger an Depressionen und einer Angststörung leide und der Grad der Behinderung (GdB) hierfür bei 30 bis 40 liege. Es bestehe folglich entgegen den Ausführungen des Sachverständigen F1 eine stärker behindernde Störung. Außerdem sei beim LSG Baden-Württemberg ein Verfahren des Klägers gegen die gesetzliche Pflegeversicherung anhängig gewesen (L 4 P 556/21), das im Rahmen eines Erörterungstermins vergleichsweise dahingehend beendet worden sei, dass dem Kläger seitens der Pflegeversicherung ab dem 01.10.2021 Pflegegeld nach der Pflegestufe 2 bewilligt worden sei (Bl. 83a ff. Senatsakte, s. Pflegegutachten vom 17.02.2022, Bl. 88a ff. Senatsakte, und Kurzgutachten vom 09.03.2022, Bl. 104a ff. Senatsakte). Die Klägerseite hat außerdem weitere Befundberichte - u.a. der Fachärztin A1 vom 10.01.2023 (Bl. 123a Senatsakte) und des B3 zuletzt vom 18.11.2022 (Bl. 124a Senatsakte) - vorgelegt.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 21.01.2020 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19.09.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.06.2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab dem 01.06.2017 eine Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.         

Zur Begründung verweist sie u.a. auf die Stellungnahmen ihres sozialmedizinischen Dienstes.

Der Senat hat die Akte des Verfahrens S 13 SB 1529/19 beigezogen und die sich darin befindlichen medizinischen Unterlagen, u.a. die Gutachten des S3 und des T1, zur Senatsakte genommen. Aus dem Gutachten des S3 (Bl. 31 ff. Senatsakte, Untersuchungstag: 08.06.2021) lassen sich als Diagnosen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet eine Somatisierungsstörung, Angst und depressive Störung, gemischt, Vorhandensein psychosozialer Belastungsfaktoren (familiäre Problematik, Persönlichkeitsakzentuierung, Rentenwunsch) und Kopfschmerzleiden, nicht näher spezifizierbar, entnehmen. S3 hat den Ausprägungsgrad dieser Erkrankungen als leicht bis eher mittel eingestuft und hierfür einen Teil-GdB von 30 veranschlagt. Dem Gutachten des T1 (Bl. 52 ff. Senatsakte, Untersuchungstag: 08.06.2021) sind als Diagnosen auf orthopädischem Fachgebiet endgradige Funktionseinschränkungen der Halswirbelsäule (HWS) und der Lendenwirbelsäule (LWS) jeweils ohne radikuläre Ausfallsymptomatiken zu entnehmen, die T1 mit einem Teil-GdB von 10 bewertet hat. Die Beklagte hat daraufhin die (weitere) beratungsärztliche Stellungnahme des L1 vom 05.01.2022 vorgelegt (Bl. 73 Senatsakte), in der dieser an der bisherigen Leistungseinschätzung festgehalten hat.

Der Senat hat außerdem den Entlassungsbrief der SLK Lungenklinik L2 vom 27.08.2020 über die stationäre schmerztherapeutische Behandlung des Klägers vom 10.08.2020 bis 26.08.2020 beigezogen (Bl. 110 f. Senatsakte), aus der der Kläger arbeitsunfähig entlassen worden ist.

Sodann hat der Kläger das im Rahmen des beim LSG Baden-Württemberg geführten Berufungsverfahrens auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft (L 3 SB 131/22) eingeholte Sachverständigengutachten des N1 vom 13.01.2023 (Bl. 126a ff. Senatsakte, Untersuchungstag: 11.01.2023) vorgelegt. N1 hat darin die Diagnosen einer rezidivierenden depressiven Störung - gegenwärtig schwere
Episode -, einer dissoziativen Bewegungsstörung mit Ataxie und Tremor, einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, den Verdacht auf (V.a.) eine somatoforme autonome Funktionsstörung des Urogenitalsystems und eine Migräne ohne Aura gestellt, die psychische Störung als schwer mit zumindest mittelschweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten im Sinne der Versorgungsmedizinischen Grundsätze und den Teil-GdB für die psychische Störung auf 70 eingeschätzt. Die Beklagte hat daraufhin die sozialmedizinische Stellungnahme des N2 vom 14.03.2023 vorgelegt (Bl. 150 f. Senatsakte), in der dieser weiterhin an der bisherigen Leistungseinschätzung festgehalten hat. 

Daraufhin hat der Senat von Amts wegen ein Sachverständigengutachten bei R1 eingeholt (Bl. 168 ff. Senatsakte, Untersuchungstag: 10.07.2023). Der Sachverständige hat eine mittelschwere rezidivierende Depression und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert und aufgrund der vorzeitigen Erschöpfbarkeit der kognitiven Funktionen, des Antriebs und des Denktempos sowie der durchgehend depressiven Stimmungslage die quantitative Leistungsfähigkeit des Klägers für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Beachtung qualitativer Einschränkungen (namentlich: kein Tragen von Lasten über 10 kg, keine ständigen Zwangshaltungen der Wirbelsäule, kein Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, keine Akkord- oder Fließbandtätigkeiten, keine Nachtschichttätigkeiten, nur noch gelegentlicher Publikumsverkehr, keine Tätigkeiten mit besonderer geistiger Beanspruchung in Form von hoher oder höherer Verantwortung für Menschen und/oder Maschinen, vorzugsweise Tätigkeiten im Wechsel zwischen Stehen, Gehen und Sitzen, möglich jedoch auch Tätigkeiten in ständigem Sitzen mit zeitweise Stehen oder Gehen, keine Arbeiten unter der Exposition von Kälte, Wärme, Staub, Gasen, Dämpfen oder Nässe) nur noch auf drei bis unter sechs Stunden täglich eingeschätzt. Von einer Einschränkung der Wegefähigkeit sei nicht auszugehen. Angesichts der noch nicht ausgeschöpften therapeutischen Möglichkeiten sei auch noch von einer Besserung der gegenwärtig mittelschweren depressiven Störung und damit der quantitativen beruflichen Leistungsfähigkeit nicht jedoch vor Ablauf von zwei Jahren auszugehen. Die quantitative Leistungsminderung bestehe mindestens seit dem Auftreten der in dem Gutachten des N1 beschriebenen schweren Depression, also seit Anfang des Jahres 2023, unter Berücksichtigung der Ausführungen des B3 möglicherweise auch bereits seit dem Jahr 2020. Im Jahr 2019 habe in jedem Fall noch eine vollschichtige berufliche Einsetzbarkeit bestanden.

Die Beklagte hat daraufhin die weitere sozialmedizinische Stellungnahme des N2 vom 10.11.2023 vorgelegt (Bl. 228 Senatsakte), in der dieser wiederum an der bisherigen Leistungseinschätzung festgehalten hat.

Der Senat hat zudem bei dem - für den Kläger zuständigen - Jobcenter H1 Auskünfte darüber eingeholt, bis wann er (der Kläger) Arbeitslosengeld II bezogen hat (s. Bl. 254 ff. Senatsakte).

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe


Die gemäß § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung des Klägers, über die der Senat auf Grund mündlicher Verhandlung entscheidet, ist zulässig, jedoch unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Streitgegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 19.09.2017 in der Gestalt (§ 95 SGG) des Widerspruchsbescheides vom 20.06.2018, in dem es die Beklagte abgelehnt hat, dem Kläger eine Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Rechtsgrundlage für die hier begehrte Rente wegen Erwerbsminderung ist § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI). Danach haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser (Abs. 1 Satz 1 der Regelung) bzw. voller (Abs. 2 Satz 1 der Regelung) Erwerbsminderung, wenn sie - u.a. - teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind. Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung besteht über die Regelung des § 43 Abs. 2 SGB VI hinaus nach der Rechtsprechung des BSG (Großer Senat, Beschluss vom 10.12.1976, u.a. GS 2/75, in juris) bei regelmäßig bejahter Verschlossenheit des Arbeitsmarktes auch dann, wenn eine zeitliche Leistungseinschränkung von drei bis unter sechs Stunden vorliegt.
Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist hingegen nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Voraussetzung für diesen Rentenanspruch ist nach § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bzw. Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI auch, dass der Versicherte in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit hat und nach § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bzw. Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt hat. Die allgemeine Wartezeit für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit beträgt fünf Jahre, § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI. Zu Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zählen nach § 55 Abs. 2 SGB VI auch freiwillige Beiträge, die als Pflichtbeiträge gelten (Nr. 1), oder (Nr. 2) Pflichtbeiträge, für die aus den in § 3 oder § 4 SGB VI genannten Gründen Beiträge gezahlt worden sind oder als gezahlt gelten (dies betrifft insbesondere auch Pflichtbeiträge für Lohnersatzleistungen, vgl. § 3 Satz 1 Nr. 3 und Nr. 3a SGB VI) oder Beiträge für Anrechnungszeiten, die ein Leistungsträger mitgetragen hat (Nr. 3). Dabei zählt ein nur zum Teil belegter Monat als voller Monat (§ 122 Abs. 1 SGB VI). Der Fünf-Jahres-Zeitraum endet gemäß § 26 Abs. 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) i.V.m. § 187 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) am Tag vor Eintritt der Erwerbsminderung, so dass vom Eintritt der Erwerbsminderung zurückzurechnen ist.

Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung, in dem drei Jahre Pflichtbeitragszeiten enthalten sein müssen, verlängert sich u.a. um Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, Berücksichtigungszeiten sowie Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen worden ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach Nr. 1 oder 2 liegt, die nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind (§ 43 Abs. 4 SGB VI).

Der Kläger hat jedenfalls von Januar 2015 bis letztmals im Oktober 2018 Pflichtbeiträge entrichtet und ab 01.02.2019 hat er ausweislich des Versicherungsverlaufs vom 15.01.2024 und des Vormerkungsbescheids vom 29.06.2023 - allerdings mit Unterbrechungen vom 01.04. bis 30.04.2019, vom 01.07. bis 31.10.2019, vom 01.12.2019 bis 31.01.2020, vom 01.04 bis 30.04.2020, vom 01.07. bis 31.07.2020, vom 01.09. bis 30.11.2020, vom 01.01. bis 28.02.2021 - bis zum 31.12.2021 Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II und somit einen Verlängerungstatbestand nach § 43 Abs. 4 Nr. 3 SGB VI - Anrechnungszeiten gem. § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VI liegen mangels Unterbrechung i.S.v. § 58 Abs. 2 Satz 1 SGB VI nicht vor - zurückgelegt. Der Vormerkungsbescheid vom 29.06.2023 ist auch bestandskräftig geworden, so dass die darin festgestellten Zeiten - namentlich ein Bezug von Arbeitslosengeld II auch im Zeitraum 01.04.2021 bis 31.12.2021 - auch für den Senat bindend geworden sind, obwohl der Kläger nach den Auskünften des Jobcenters H1 tatsächlich lediglich bis zum 31.05.2021 Arbeitslosengeld II bezogen hat. Über den 31.12.2021 hinausgehende Anrechnungszeiten oder Verlängerungstatbestände hat der Kläger jedoch nicht zurückgelegt. Zwar ist er entsprechend der Auskünfte des für ihn zuständigen Jobcenters H1 trotz seines Ausscheidens aus dem Arbeitslosengeld II-Bezug im Rahmen der Nachbetreuung zunächst noch mehrere Monate als Arbeitsuchender geführt worden, weshalb grundsätzlich eine Anrechnungszeit gem. § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VI in Betracht kommt. Allerdings hat das zuständige Jobcenter gleichzeitig bekundet, dass diese Weiterführung als Arbeitsuchender ausschließlich zur Dokumentation seiner (des Klägers) Arbeitsunfähigkeit erfolgt ist. Dass irgendwelche Vermittlungsbemühungen unternommen worden sind oder der Kläger eigene Bemühungen zur Erlangung eines Arbeitsplatzes getätigt hat, ergibt sich aus den Auskünften des Jobcenters gerade nicht und ist vom Kläger auch nicht behauptet worden. Wie die Beklagte in ihrem Schriftsatz vom 13.02.2024 (Bl. 278 f. Senatsakte) jedoch zu Recht ausgeführt hat, setzt Arbeitslosigkeit entsprechend § 16 Abs. 1 i.V.m. § 138 Abs. 1 Nr. 2 und 3 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) neben der Beschäftigungslosigkeit und der Arbeitslosmeldung auch voraus, dass der Betroffene tatsächlich auch eine versicherungspflichtige Beschäftigung sucht und den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (sog. subjektive Verfügbarkeit), mithin also nicht lediglich zur Aufrechterhaltung von Anwartschaftszeiten als arbeitsuchend geführt wird (BSG 11.03.2004, B 13 RJ 16/03 R, zitiert - wie sämtliche Rechtsprechung - nach juris; LSG Hamburg 29.08.2018, L 2 AL 20/18  und 18.06.2013, L 2 AL 60/10; s.a. Gürtner in BeckOGK, SGB VI, § 58 Rn. 20 ff., Stand 01.09.2020). Denn die Anrechnungszeit nach § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VI soll als Leistung des sozialen Ausgleichs nur tatsächlich arbeitsuchenden Versicherten zu Gute kommen, die trotz ihrer durch die Meldung bei der die Verfügbarkeit prüfenden Agentur für Arbeit dokumentierten, tatsächlichen und vorbehaltlosen Arbeitsuche unverschuldet keine Beiträge zur Rentenversicherung entrichten können (BSG a.a.O.; LSG Hamburg a.a.O.). Zu diesem Personenkreis gehört der Kläger mangels subjektiver Verfügbarkeit gerade nicht. Auch kommt eine Anrechnungszeit wegen Arbeitsunfähigkeit gem. § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI bzw. ein entsprechender Verlängerungstatbestand nach § 43 Abs. 4 Satz 2 SGB VI ab dem 01.01.2022 nicht in Betracht. Auch insoweit hat die Beklagte in ihrem Schriftsatz vom 13.02.2024 zu Recht ausgeführt, dass der Begriff der durch Krankheit bedingten Arbeitsunfähigkeit in § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI demjenigen der gesetzlichen Krankenversicherung gem. § 44 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) entspricht und an die zuletzt ausgeübte Beschäftigung/Erwerbstätigkeit anknüpft. Der krankenversicherungsrechtliche „Berufsschutz“ und damit eine berücksichtigungsfähige Anrechnungszeit i.S.v. § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI endet daher (spätestens) drei Jahre nach Eintritt der an einen konkreten Beruf anknüpfenden Arbeitsunfähigkeit (hierzu und zum Folgenden s. nur BSG 25.02.2010, B 13 R 116/08 R; 17.02.2005, B 13 RJ 1/04 R und 25.02.2004, B 5 RJ 30/02 R; LSG Berlin-Brandenburg 30.11.2022, L 22 R 410/17). Der Kläger bezog ab 19.07.2016 Krankengeld und war folglich (spätestens) ab diesem Zeitpunkt arbeitsunfähig, sodass die Dreijahresfrist (spätestens) am 18.07.2019 endete und daher ab dem 01.01.2022 keine Anrechnungszeit wegen Arbeitsunfähigkeit und folglich auch kein entsprechender Verlängerungstatbestand nach § 43 Abs. 4 SGB VI mehr bestehen kann.

Unter Zugrundelegung dieser rentenrelevanten Zeiten ergibt sich, dass der Kläger spätestens am 30.08.2022 hätte erwerbsgemindert sein müssen, um die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Abs. 4 Nr. 3 SGB VI zu erfüllen. Denn in dem hiervon ausgehenden und um 21 Monate wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld II gem. § 43 Abs. 4 Nr. 3 i.V.m. § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VI verlängerten Fünf-Jahres-Zeitraum (30.11.2015 bis 29.08.2022) sind letztmals 36 Monate mit Pflichtbeitragszeiten belegt. Der Senat ist jedoch nicht davon überzeugt, dass eine Erwerbsminderung bereits zu diesem Zeitpunkt vorgelegen hat. Entsprechend der durchgeführten medizinischen Ermittlungen (s. hierzu unten) - insbesondere des Sachverständigengutachtens des R1 - ist beim Kläger - wenn überhaupt - frühestens im Januar 2023 eine Erwerbsminderung eingetreten.


Nach den Ausführungen des Sachverständigen R1 leidet der Kläger an einer mittelschweren rezidivierenden Depression und einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung. Diese Gesundheitsstörungen sind auch für den Senat nachvollziehbar mit dem vom Sachverständigen erhobenen Befund vereinbar. Allgemeinmedizinisch hat R1 u.a. einen Anstieg der Herzfrequenz beim Druck auf Muskelverspannungen, schmerzhafte Beweglichkeitseinschränkungen im Bereich der Wirbelsäule, Muskelverspannungen im Bereich von HWS und LWS sowie Schmerzen beim Durchbewegen der großen Extremitätengelenke beschrieben. Neurologisch hat der Sachverständige ein irreguläres Zittern der rechten Körperhälfte, die Benutzung eines Rollators, ein bei der Gangprüfung verlangsamtes Gangbild mit Angabe von Schwindel dokumentiert, sodass die Gangprüfung schließlich bei 350 m wegen eines mühsamen Gangbildes und starken Schwitzens hat abgebrochen werden müssen. Auf die anschließende Überprüfung des Treppensteigens ist daher verzichtet worden. Von psychischer Seite hat der Sachverständige zwar keine Einschränkung der mnestischen Funktionen (Kurz- und Langzeitgedächtnis) beim Kläger objektivieren können. Allerdings ist seine Antriebslage zunächst nur leichtgradig, nach ca. zwei Stunden jedoch mittelgradig vermindert gewesen. Gleiches hat sich in Bezug auf seine Auffassungsgabe, Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeitsdauer sowie den formalen Gedankengang gezeigt, wobei sein Gedankeninhalt um seine Beschwerden gekreist ist. Zudem ist seine Stimmungslage durchgehend depressiv gewesen - auch beim Besprechen angenehmer Themen ist es zu keiner Stimmungsaufhellung gekommen - und die affektive Modulationsfähigkeit ist deutlich eingeschränkt gewesen. Auch die vom Kläger ausgefüllten und vom Sachverständigen ausgewerteten Fragebögen haben Hinweise auf eine schwere Depression (Beck`sches Depressionsinventar) und auf eine Störung der Informationsverarbeitung (die Ergebnisse des Kurztests für allgemeine Basisgrößen der Informationsverarbeitung <KAI> haben weit unterhalb des Normbereichs gelegen) ergeben, wohingegen sich keine Anhaltspunkte für eine Inkongruenz der angegebenen Beschwerden (Hospital Anxiety and Depression Scale <HADS-D>) und auch keine Hinweise auf eine bewusste Aggravation oder Simulation im Rahmen der Beschwerdevalidierung (Mehrfachwahl-Wortschatz-Intelligenztest <MWT>) gezeigt haben. Zudem hat auch die vom Sachverständigen durchgeführte Elektroenzephalographie Hinweise auf eine erhöhte Tagesmüdigkeit erbracht. Aufgrund dieser Befunde ist R1 letztlich zu der Einschätzung gelangt, dass die quantitative Leistungsfähigkeit des Klägers auch für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt selbst unter Beachtung der bereits im Tatbestand aufgeführten qualitativen Einschränkungen (s.o.) auf drei bis unter sechs Stunden täglich eingeschränkt ist.

Unabhängig davon, ob die vom Sachverständigen R1 abgegebene Einschätzung der quantitativen Leistungsfähigkeit des Klägers zutrifft oder nicht, ist der Senat jedenfalls nicht davon überzeugt, dass diese zeitliche Leistungseinschränkung bereits bei der Rentenantragstellung im Juni 2017 vorgelegen hat oder bis spätestens 30.08.2022 eingetreten ist. Vielmehr hält er den Eintritt der Erwerbsminderung - wenn überhaupt - frühestens zum Zeitpunkt der Untersuchung durch den in dem Berufungsverfahren L 3 SB 131/22 beauftragten Sachverständigen N1 - dessen Gutachten verwertet der Senat im Wege des Urkundsbeweises - im Januar 2023 für möglich, was auch der Sachverständige R1 herausgearbeitet hat. Darin hat N1 u.a. eine rezidivierende depressive Störung mit gegenwärtig schwerer Episode und auch eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert, was mit dem von ihm - und dem vom Sachverständigen R1 im Wesentlichen entsprechenden - erhobenen Befund (allgemein u.a.: Beweglichkeit der LWS bei stark beeinträchtigter Mobilität nicht zu prüfen, große Gelenke frei beweglich; neurologisch u.a.: ausgeprägte Stand- und Gangataxie, Fortbewegung nur mit Unterstützung unter Benutzung zweier Unterarmgehstützen, Treppensteigen nur mit größter Mühe und Unterstützung, unterschiedlich stark ausgeprägter armbetonter feinschlägiger Ruhe- und Haltetremor der Extremitäten; psychisch u.a.: denkzerfahren, insgesamt im Denken beschleunigt, ideenflüchtig, Auffassungs- und Konzentrationsvermögen sowie Gedächtnisfunktion reduziert, stark reduzierter Antrieb, Stimmung ausgeprägt zum depressiven Pol hin verschoben bei weitgehend aufgehobener emotionaler Resonanzfähigkeit) vereinbar ist. N1 hat im Rahmen seiner Untersuchung im Januar 2023 auch erstmals - wie wenige Monate später auch der Sachverständige R1 - keine Anhaltspunkte für Aggravations- oder Verdeutlichungstendenzen beim Kläger gesehen. Im Rahmen der zuvor sowohl im Rentenverfahren als auch in den Verfahren auf Anerkennung der Schwerbehinderung und auf Erhöhung des Pflegegrades bzw. auf höhere Pflegeleistungen stattgehabten gutachterlichen Untersuchungen sind entweder bereits keine die Leistungsfähigkeit quantitativ einschränkenden Befunde erhoben worden und/oder fast durchgehend Aggravations- und Simulationstendenzen des Klägers zu Tage getreten, sodass der Senat schon aus diesem Grund keine Anhaltspunkte dafür hat, dass - wenn überhaupt - schon vor Januar 2023 eine Einschränkung der quantitativen Leistungsfähigkeit beim Kläger eingetreten ist.

So erhob P1 im Rahmen ihrer am 29.08.2017 stattgehabten Untersuchung - auch ihr Gutachten ist im Wege des Urkundsbeweises verwertbar - einen noch weitgehend unauffälligen psychopathologischen Befund (u.a.: zügiges und motorisch unauffälliges Erheben vom Stuhl im Wartebereich und Mitnahme von drei mit Papieren gefüllten Taschen ins Untersuchungszimmer, motorisch unauffälliges Gangbild, Sitzverhalten unauffällig, anhaltend lebhafte Mimik mit ausweichendem Antwortverhalten, situationsadäquates Lächeln und Lachen, kein Nystagmus und kein Schwanken während der Untersuchung, keine Müdigkeit im Untersuchungszeitpunkt und während der gesamten Dauer der zweistündigen Untersuchung redefreudig, bewusstseinsklar und zu allen Qualitäten voll orientiert, Gedankengang formal geordnet, klagsam und gekränkt, jedoch selbstbewusst und fordernd im Auftreten, keine relevante dysthyme Stimmung, affektive Schwingungsfähigkeit im Normalbereich ohne emotionale Instabilität, Antrieb und Psychomotorik unauffällig, keine Agitation und keine Hemmung, keine Beeinträchtigung im Kommunikationsverhalten durch die berichteten aktuellen Symptome, keine Objektivierung der geklagten Konzentrations- und Gedächtnisstörungen) und wies gleichzeitig auf eine deutliche Aggravationsneigung in der Symptomschilderung hin, die mit den erhobenen Befunden nicht vereinbar war.

Auch aus den von S1 im Rahmen seines (ebenfalls urkundsbeweislich verwertbaren) Gutachtens beschriebenen Befunden (u.a. etwas verlangsamtes, leicht linkshinkendes Gangbild, problemloser Wechsel vom Untersuchungsstuhl zur Untersuchungsliege, rasche Einnahme der Rückenliegeposition, leichter Tremor der Extremitäten, diffuse Druckschmerzhaftigkeit im Bereich von HWS und BWS, kein deutlicher Druckschmerz, Schmerzzunahme im lumbalen Bereich, Klopfschmerz der Dornfortsatzreihe, verstärkt im lumbalen Bereich, keine Einschränkung der Drehbewegungen des Rumpfes im Sitzen, freie HWS-Beweglichkeit, keine Einschränkungen des rechten Schultergelenkes, Einschränkung von Abduktion <120°> und Anteversion <120°> im Bereich des linken Schultergelenkes, Nackengriff beidseits vollständig möglich, freie Beweglichkeit der Ellenbogengelenke, freie Funktion der Hand- und Fingergelenke, freie Beweglichkeit der Hüftgelenke, freie Beweglichkeit der Kniegelenke, leichte Beweglichkeitseinschränkung des linken Sprunggelenkes gegenüber der Gegenseite, diffuse Druckschmerzhaftigkeit am Innen- und Außengelenkspalt des oberen Sprunggelenks <OSG>, Einbeinstand sowie Zehenspitzen- und Fersengang - wenn auch unsicher - beidseits durchführbar, Kniehocke vollständig möglich und beim Aufrichten kein wesentliches Abstützen erforderlich) lassen sich lediglich qualitative Einschränkungen, nicht jedoch eine quantitative Minderung der Leistungsfähigkeit für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ableiten, was S1 überzeugend dargelegt hat.

Auch dem Sachverständigengutachten des F1 (Untersuchungstag: 12.04.2019) lässt sich lediglich ein leichtgradig eingeschränkter Befund (psychisch u.a.: vollständig orientiert und gut zugewandt, gepflegtes Äußeres, keine kognitiven Defizite und keine Anzeichen eines dementiellen Prozesses, keine Hinweise auf formale oder inhaltliche Denkstörungen, Stimmung lediglich leicht gedrückt bei etwas reduziertem Antrieb, jedoch ausgeglichenem, gut auslenkbarem und nicht eindeutig zum depressiven Pol hin verschobenem Affekt, psychomotorisch ruhig; neurologisch u.a.: Seiltänzergang demonstrativ unsicher, bei Wiederholung dann ausreichend sicher und normal, beim Gehen keine Fallneigung, langsames, jedoch ausreichend sicheres Gangbild ohne Anzeichen einer Ataxie, keine Feinmotorikstörungen, keine Dysarthrie, kein Nachweis extrapyramidaler Bewegungsstörungen, keine fokalen Defizite; Zusatzdiagnostik: kein eindeutiger pathologischer Befund) bei guter Tagesstrukturierung mit regelmäßigem Aufstehen, dem Wahren der persönlichen Hygiene, Einkaufen und eigenständigem Zubereiten und Einnehmen von Mahlzeiten, Versorgen der Katze, regelmäßigen Spaziergängen, Erledigen des Haushaltes, Pflegen von Hobbys wie Kräuterkunde, Musik hören, Pflegen ausreichender sozialer Kontakte und nicht auszuschließenden Aggravationstendenzen entnehmen, weshalb auch F1 keine Einschränkung der quantitativen Leistungsfähigkeit des Klägers für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gesehen hat, was der Senat für schlüssig und nachvollziehbar erachtet.

Die im Rahmen des Verfahrens S 13 SB 1529/19 eingeholten Gutachten des S3 und des T1 - beide ebenfalls im Wege des Urkundsbeweises verwertbar - beschreiben ebenfalls keine Befunde, die auf eine Einschränkung der quantitativen Leistungsfähigkeit auch für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beim Kläger hindeuten könnten. Der von S3 im Juni 2021 erhobene Befund (körperlich u.a.: Tragen von Inkontinenzartikeln, Klopfschmerzhaftigkeit der gesamten Wirbelsäule; neurologisch u.a.: kein Anhalt für eine neurogen bedingte Gangstörung, deutliche Hinweise auf Aggravation bzw. Simulation hinsichtlich der Motorik und der Koordination, alle Gelenke der oberen und untere Extremitäten aktiv beweglich, Gangbild insgesamt torkelnd, vom Bewegungsablauf jedoch bizarr und nicht mit Krankheitsbildern vereinbar; psychisch u.a.: angemessene Gestik und Mimik, keine Sprechstörungen, keine Störungen von Bewusstsein, Orientierung und Auffassung, keine signifikanten Konzentrations- oder Gedächtnisstörungen, kein Anhalt für eine hirnorganisch bedingte psychische Symptomatik, Antrieb angemessen, keine psychomotorische Hemmung, Grundstimmung leicht niedergeschlagen, belastet, eher dysthym, insgesamt sehr klagsam, affektive Resonanzfähigkeit eingeschränkt und zum negativen Pol hin verschoben, keine Verlangsamung des formalen Denkens, keine inhaltlichen Denkstörungen, keine Sinnestäuschungen oder Ich-Störungen, keine dissoziativen Störungen) zeigte lediglich leichte bis mittelgradige Einschränkungen, wobei S3 - wie bereits P1 und F1 - auf erhebliche Aggravations- und sogar Simulationstendenzen des Klägers hingewiesen hat, sodass sich eine Einschränkung der quantitativen Leistungsfähigkeit des Klägers hieraus nicht ansatzweise überzeugend ableiten lässt.

Auch T1 hat anlässlich seiner am 08.06.2021 stattgehabten Untersuchung des Klägers lediglich endgradige Funktionseinschränkungen der HWS und der LWS ohne radikuläre Ausfallssymptomatik beschrieben und auf deutliche Aggravationstendenzen des Klägers hingewiesen, sodass auch hieraus keine zeitliche Leistungsminderung beim Kläger herleitbar ist.

Soweit sich der Kläger auf seine Pflegebedürftigkeit und die in diesem Zusammenhang erstellten (ebenfalls urkundsbeweislich verwertbaren) Gutachten des MDK beruft, ergibt sich keine andere Beurteilung. Zum einen sind die rechtlichen Maßstäbe für die Bewertung von Pflegebedürftigkeit gänzlich andere als diejenigen für die Bewertung der rentenrechtlichen Erwerbsfähigkeit. Zum anderen ist weder das Pflegegutachten vom 27.03.2018, noch dasjenige vom 17.02.2022 von einem Arzt erstellt worden und die dortigen Ausführungen beruhen maßgeblich auf den subjektiven Angaben des Klägers. Zudem hat auch die Pflegefachkraft im Rahmen ihres am 10.02.2022 stattgehabten Besuchs des Klägers weiterhin Aggravations- und Simulationstendenzen erkennen können, sodass auch die Pflegegutachten keine Rückschlüsse auf eine objektivierbare Einschränkung der quantitativen Leistungsfähigkeit des Klägers für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vor Januar 2023 zulassen.

Da sich folglich bis zur Untersuchung durch N1 nahezu in sämtlichen über den Kläger erstellten Gutachten - sowohl im Rahmen des Rentenverfahrens, des Verfahrens auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft als auch auf Erhöhung des Pflegegrades - erhebliche Hinweise auf Aggravations- und Simulationstendenzen ergeben, hält der Senat auch die von dem Facharzt B1 und von der Fachärztin A1 in ihren sachverständigen Zeugenauskünften gegenüber dem SG geäußerten Einschätzungen, wonach die quantitative Leistungsfähigkeit des Klägers schon damals eingeschränkt gewesen sein soll, nicht für nachvollziehbar.

Der Senat vermag auch aus den von B3 mitgeteilten Befunden und gestellten Diagnosen keine (jedenfalls) bereits bis zum 30.08.2022 eingetretene Minderung der quantitativen Leistungsfähigkeit des Klägers zu erkennen. Auffällig ist bereits, dass B3 im Rahmen von fünf Untersuchungen, die sich über einen Zeitraum von zwei Jahren verteilen (vom 21.12.2020 bis zum 18.11.2022), jeweils dieselben Befunde erhoben haben will. Zudem hat er lediglich eine unsichere Koordination sowie ein unsicheres Gang- und Standbild und eine depressive Stimmung bei normalem Antrieb und ohne formale oder inhaltliche Denkstörungen beschrieben. Dieser Befund passt schon nicht zu der von ihm diagnostizierten schweren depressiven Komorbidität. Zudem lässt dieser Befund ebenfalls gerade keine Rückschlüsse auf eine eingeschränkte quantitative Leistungsfähigkeit des Klägers zu. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Entlassungsberichten des Klinikums W1 vom 03.07.2019 und der SLK Lungenklinik L2 vom 27.08.2020. Aus den darin jeweils mitgeteilten psychischen Befunden (Klinikum W1 u.a.: voll orientiert, äußeres Erscheinungsbild gepflegt, Auffassung, Konzentration und mnestische Funktionen nicht beeinträchtigt, formales Denken geordnet, keine Wahrnehmungsstörungen, Wahninhalte oder Ich-Störungen, Stimmung reduziert, Grübelneigung und Zukunftssorgen, fokussiert auf Schwindel und Rentenantrag, geminderter Antrieb, zukünftige Sorgen, keine Anhedonie; SLK Lungenklinik L2 u.a.: depressiv verstimmt, wach, orientiert, keine formalen Denkstörungen, Denken auf Schmerzsymptomatik eingeengt) lässt sich ebenfalls nicht auf eine überdauernde quantitative Leistungseinschränkung schließen und auch F1 hat in seiner ergänzenden Stellungnahme zum Entlassungsbericht des Klinikums W1 vom 19.09.2019 darauf hingewiesen, dass die darin mitgeteilte Diagnose einer schweren depressiven Episode nicht dazu passt, dass der Kläger bereits nach vier Tagen aus der stationären Behandlung entlassen worden ist.


Der Senat ist mithin nicht davon überzeugt, dass beim Kläger bis zum 30.08.2022 - dem Zeitpunkt, bis zu dem die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch vorgelegen haben (s.o.) - der Leistungsfall einer Erwerbsminderung eingetreten ist. Er hat daher keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Ob seit Januar 2023 tatsächlich eine Minderung des quantitativen Leistungsvermögens vorliegt, lässt der Senat mangels Entscheidungserheblichkeit im Ergebnis offen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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