L 10 U 3232/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 10 U 4003/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 3232/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Ein unversicherter Abweg liegt vor, wenn der unmittelbare Arbeitsweg zu eigenwirtschaftlichen Zwecken verlassen wird und zum Unfallzeitpunkt noch nicht wieder erreicht worden ist.
2. Ein Wegeunfallversicherungsschutz nach der Ausnahmebestimmung des § 8 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a SGB VII setzt einen inneren Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit des Versicherten voraus.
3. Daran und an dem weiteren Merkmal "in fremde Obhut anvertrauen“ fehlt es, wenn ein Kind aus allgemeinen Sicherheitserwägungen auf einem Teil des Schulwegs zu einem Sammelpunkt einer Kindergruppe begleitet wird.

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18.06.2021 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.



Tatbestand


Die Beteiligten streiten über die Anerkennung des Ereignisses vom 23.01.2019 als Arbeitsunfall.

Die 1968 geborene Klägerin, gesetzlich pflichtkrankenversichert, ist seit Januar 2000 bei der B1
S1 (A2), als technische Beraterin und Fachkraft für Arbeitssicherheit beschäftigt, zum Zeitpunkt des angeschuldigten Ereignisses in einem Umfang von 7,2 Stunden an fünf Tagen pro Woche (S. 83 f. VerwA). Ihre Arbeitsstätte liegt im (inneren) Stadtbezirk „Nord“ der Landeshauptstadt in fußläufiger Nähe der Stadtbahnhaltestelle „P1“, die von der Stadtbahnlinie „U“ (Streckenabschnitt M1 v.v.) angefahren wird. Die Klägerin wohnt mit ihrer - am Ereignistag zehn Jahre alten - Tochter, die sie allein erzieht, im nordöstlich gelegenen (äußeren) Stadtbezirk „M2“, ca. 10 km Verkehrsweg von der A2 entfernt, an der nördlichen Seite der in West-/Ost-Richtung verlaufenden M3-straße, einer Hauptverkehrsstraße. Nur wenige hundert Meter vom (Mehrfamilien-)Wohnhaus der Klägerin entfernt in westlicher Richtung liegt - ebenfalls auf der nördlichen Seite der M3-straße - die Stadtbahnhaltestelle „F1“ der Linie „U“ des o.g. Streckenabschnitts, der parallel zur M3-straße in Ost-West-Richtung v.v. verläuft. Entlang dieser Stadtbahnstrecke zwischen der Haltestelle und dem östlich gelegenen (Mehrfamilien-) Wohnhaus der Klägerin führt ein asphaltierter Gehweg nördlich der M3 -straße, der direkt zur Haltestelle führt; in östlicher Richtung vom Wohnhaus aus liegt in etwas kürzerer fußläufiger Entfernung die weitere (End-)Haltestelle der Linie „U“ („M3“), diese auf der südlichen Seite der M3-straße, die zum Erreichen also überquert werden muss.

Für den Weg von und zur Arbeitsstätte nahm die Klägerin bis zum Ereignistag ihren Angaben gemäß (S. 69, 87 ff. VerwA) gewöhnlich die Stadtbahn der Linie „U“ und zwar stadteinwärts von der Haltestelle „
F1“ aus (S. 738 VerwA), die westlich vom (Mehrfamilien-)Wohnhaus der Klägerin liegt. Dem lag - bis zum Ereignis - Folgendes zugrunde: An jedem Arbeitstag verbrachte die Klägerin „auf dem Weg zur Arbeit“ ihre Tochter, die die vierte Grundschulklasse besuchte, zunächst zu Fuß zu einem Treffpunkt vor dem Wohnhaus ihrer (der Tochter) Klassenkameradin im M4-weg („Sammelpunkt“; südlich der klägerischen Wohnung gelegen), wo sich mehrere Mitschülerinnen und Mitschüler trafen, um den weiteren Schulweg zur M5 (diese liegt rund 1 km östlich des „Sammelpunkts“, von der klägerischen Wohnung aus südöstlich jenseits der M3-straße) gemeinsam zurückzulegen („Laufgruppe“ der Kinder). Zum M4-weg musste die Klägerin mit ihrer Tochter in unmittelbarer Nähe zu ihrer Wohnung die M3-straße (und damit auch die dort entlangführende Stadtbahngleisstrecke der Linie „U“) in südlicher Richtung in die H1-straße, die rechtwinklig zur M3-straße verläuft, überqueren; der M4-weg schließt sich dann weiter südlich (von der M3-straße aus) als Seitenstraße an die H1-straße an. Nachdem die Klägerin dort ihre Tochter an die Laufgruppe „übergeben“ hatte, ging sie (wie gewöhnlich) den gekommenen Weg wieder etwas zurück und bog sodann in den F2-weg, eine Parallelstraße zur M3-straße anschließend an die H1-straße, in Richtung Westen ein und durchging diesen bis zur Ecke A1-Straße, die - wie die H1-straße - rechtwinklig zur M3-straße verläuft. Auf der A1-Straße ging die Klägerin dann Richtung Norden bis zur Einmündung M3-straße (südliche Seite der Straße); auf der gegenüberliegenden (nördlichen Seite) der M3-straße liegt die o.g. Stadtbahnhaltestelle „F1“ (Fahrtrichtung der Stadtbahnlinie „U“ stadteinwärts nach Westen entlang der M3-straße). Hinsichtlich der örtlichen Gegebenheiten wird ergänzend auf die von der Klägerin unter dem 10.02.2019 gefertigte Skizze (S. 92 VerwA) sowie auf die polizeilichen Skizzen (S. 638 f. VerwA) und die Lichtbildmappe vom Unfallort (S. 661 ff. VerwA) verwiesen.

Als die Klägerin die Einmündung
A1-Straße/M3-straße bzw. die dort gelegene Fußgängerfurt der M3-straße zur Stadtbahnhaltestelle mit Lichtzeichenanlage gegen 07.37 Uhr erreichte - sie war ihren Angaben nach „2 bis 3 Minuten später dran als sonst“ (S. 88 VerwA) -, fuhr die Stadtbahn der Linie „U“ Richtung stadteinwärts von Osten kommend bereits ein. Die Klägerin, die auf die einfahrende Stadtbahn, die sie „sonst immer nimmt“, „voll fokussiert“ war und deswegen nicht auf den Fahrzeugverkehr achtete (Angaben S. 88 VerwA), betrat in der Annahme, die Lichtzeichenanlage habe „grün“ für Fußgänger gezeigt (ausweislich des polizeilichen Unfallermittlungsberichts tatsächlich Rotlicht, S. 632 VerwA), die M3-straße Richtung Haltestelle. Beim Überqueren wurde sie von einem aus östlicher Richtung kommenden Pkw rechtsseitig erfasst und zog sich erhebliche strukturelle Verletzungen zu (Gehirnerschütterung, leichte Rissverletzung der Leber, Rippenserienfraktur 6 bis 8 rechts, Fraktur des Humerusschafts rechts, Fraktur des Acetabulums links, offene Bursaverletzung im Bereich des rechten Ellenbogens, kleine knöcherne Absprengung am Fibulaköpfchen links; s. dazu den sogleich genannten ärztlichen Entlassungsbericht).

Nach notärztlicher Versorgung wurde die Klägerin mittels RTW in die Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie des Klinikums
S1 verbracht, wo sie sich bis zum 07.02.2019 in stationärer Behandlung befand und zweimal operiert wurde (s. im Einzelnen Entlassungsbericht vom 07.02.2019, S. 70 ff. VerwA). Im Anschluss befand sie sich bis einschließlich 16.05.2019 im Rahmen einer komplexen stationären Rehabilitation (KSR) in der BG Unfallklinik L1 (BGU), aus der sie weiter arbeitsunfähig entlassen wurde (s. im Einzelnen Entlassungsbericht vom 27.05.2019, S. 442 ff. VerwA). Nach Durchführung weiterer Heilbehandlungsmaßnahmen und einer Arbeits- und Belastungserprobung trat zum 28.10.2019 wieder Arbeitsfähigkeit ein. Die Krankenkasse zahlte der Klägerin via Generalauftrag (vgl. S. 551 VerwA) vom 06.03. bis 27.10.2019 Verletztengeld aus (vgl. nur S. 799 VerwA).

Mit Bescheid vom 10.12.2019 verfügte die Beklagte, dass das Ereignis vom 23.01.2019 nicht als Arbeitsunfall anerkannt werde, sodass kein Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung bestehe. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die Klägerin zum Unfallzeitpunkt nicht auf dem im Rahmen der Wegeunfallversicherung nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) versicherten unmittelbaren Weg zum (beruflichen) Tätigkeitsort, sondern auf einem unversicherten Abweg bei tätigkeitsunabhängiger Handlungstendenz befunden habe; dieser Abweg wäre erst bei Erreichen der Stadtbahnhaltestelle „
F1“ beendet gewesen. Es bestehe auch kein Versicherungsschutz unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a SGB VII, denn das „Anvertrauen“ der Tochter gegenüber einer Gruppe von (anderen) Schulkindern stelle kein „Anvertrauen in fremde Obhut“ i.S.d. Norm dar. Unabhängig davon sei bei Kindern beginnend mit dem Schulalter davon auszugehen, dass diese den erforderlichen Weg (zur Schule) allein zurücklegen könnten. Damit sei für Leistungen ausschließlich die Krankenkasse zuständig, die entsprechend verständigt worden sei; Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung seien mithin nicht zu gewähren.

Mit ihrem Widerspruch vom 19.12.2019 (S. 737 f., 724 VerwA), mit dem die Klägerin die Anerkennung des Ereignisses vom 23.01.2019 als Arbeitsunfall begehrte, berief sie sich zusammengefasst darauf, dass sie ihre Tochter zu einer „Betreuungsstätte“ gebracht habe und dass dieser „Umweg“, den sie mit der Tochter jeden Schultag gehe, keine fünf Minuten dauere. Der Schulweg der Tochter führe „im Dunkeln“ an Garagen und Gebüschen vorbei und „vor allem in der Winterjahreszeit“ seien „hier schon mehrfach Kinder belästigt“ worden. „Ausschließlicher Grund“ für ihre Begleitung der Tochter auf dem kurzen Wegstück „zur Schule/Betreuungsstätte“ - eine „Teilstrecke“ ihres Arbeitswegs - seien Sicherheitsaspekte. Anfangs in der 2. Klasse sei ihre Tochter allein zu der Klassekameradin gelaufen und dabei eines Morgens im Dunkeln von einem Unbekannten belästigt worden. Seither begleite sie sie zur Mitschülerin im
M4-weg. Kinder „könnten hinter die Garagen oder in ein Auto gezogen werden“. Hier sei bereits ein Kind fast in ein Auto gezerrt worden, was nur durch eine Zeugin habe verhindert werden können. Außerdem seien andere Kindern schon von Fremden belästigt worden und auch „Exhibitionisten mehrfach aufgetreten“. Sie (die Klägerin) habe selbst schon vier solcher Begegnungen gehabt. Die Umgebung in S2 sei ein sozialer Brennpunkt. Es sei auch nicht relevant, ob ein Kind sechs oder zehn Jahre alt sei. Es habe für ihre Tochter ein hohes Risiko mit einem „akuten Handlungsbedarf“ gegeben, auf dem Weg zur Grundschule einem weiteren Übergriff zum Opfer zu fallen. Eine feste Altersgrenze für die Begleitung von Kindern (Hinweis auf die Definition in § 1 Abs. 1 Nr. 1 Jugendschutzgesetz - JuSchG) auf dem Weg zur „Betreuungsstätte“ habe der Gesetzgeber im Übrigen nicht angegeben.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10.09.2020 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 07.10.2020 Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben, mit der sie ihr Begehren auf Verpflichtung der Beklagten zur Anerkennung des Ereignisses vom 23.01.2019 als Arbeitsunfall weiterverfolgt hat. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt und vertieft. Die Begleitung der Tochter zum Treffpunkt mit den Mitschülern könne nicht mit einer eigenwirtschaftlichen, privaten Verrichtung gleichgesetzt werden (Hinweis auf § 1626 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -). Für die Unterbrechung des unmittelbaren Weges zur Arbeitsstelle habe es eine zwingende Notwendigkeit gegeben, da angesichts der erheblichen und konkreten Gefährdung der Tochter auf dem kurzen „Teilstück“ eine Begleitung durch die Klägerin erforderlich gewesen sei. Diese Begleitung müsse als „Ermessensentscheidung“ der Klägerin im Rahmen der elterlichen Sorge auch unfallversicherungsrechtlich respektiert werden, zumal der Gesetzgeber in § 8 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a SGB VII eine Altersgrenze nicht eingeführt habe und die Polizei in einem Ratgeber „Missbrauch verhindern“ zu Recht ausführe: „Die Gruppe schützt - Schicken Sie Ihr Kind nicht allein, sondern in kleinen Gruppen zusammen mit anderen Kindern zur Schule oder zum Spielplatz.“

Mit Urteil vom 18.06.2021 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 10.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.09.2020 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Unfall vom 23.01.2019 als Arbeitsunfall anzuerkennen; außerdem hat es angeordnet, dass die Beklagte die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen hat. Die Klägerin habe am 23.01.2019 einen gesetzlich versicherten Wegeunfall erlitten. Die Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 Nr. 2a (gemeint: Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a) SGB VII lägen vor. Entgegen der Beklagten stehe nicht entgegen, dass die Tochter der Klägerin zum Unfallzeitpunkt zehn Jahre alt gewesen sei, denn selbst bei einem 12-jährigen Kind könne noch das Anvertrautsein in fremde Obhut vorliegen (Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG -). Eine Inobhutnahme setze darüber hinaus auch nicht voraus, dass die Personen, denen das Kind in Obhut gegeben werde, bereits einen Reifegrad erreicht hätten, um die Aufsichtspflicht über das in Obhut gegebene Kind ausüben zu können, sodass der geltend gemachte Anerkennungsanspruch auch nicht daran scheitere, dass die Klägerin ihre Tochter zu einer Klassenkameradin begleitet habe. Dass Kinder in der Gruppe mit Gleichaltrigen vor Übergriffen besser geschützt seien, als wenn sie allein unterwegs seien, bedürfe keiner weiteren Erörterung. Die von der Personensorge gemäß § 1626 BGB umfasste Entscheidung der Klägerin, ihr Kind (vor allem bei Dunkelheit) nicht allein in die Schule gehen zu lassen, führe nicht zum Wegfall des Unfallversicherungsschutzes. Dies werde gestützt durch die „Tatsache“, dass die Klägerin, hätte sie ihre Tochter bis zur Schule begleitet und wäre dann auf dem Rückweg von der Schule zur Stadtbahnstation verunfallt, „unzweifelhaft“ unfallversichert gewesen wäre. Vom Schutzzweck der Norm könne es der Klägerin deshalb nicht zum Nachteil gereichen, dass sie ihre Tochter unmittelbar (gemeint: nur) zum Treffpunkt mit anderen Kindern begleitet habe und erst danach auf dem Weg von dort zur Stadtbahnhaltestelle „
F1“ verletzt worden sei.

Gegen das ihr am 20.09.2021 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 18.10.2021 Berufung eingelegt. Sie hat unter Hinweis auf Wortlaut („wegen“) sowie Sinn und Zweck des § 8 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a SGB VII und die Entstehungsgeschichte der Norm zusammengefasst und mit Verweis auf Literaturfundstellen geltend gemacht, dass vorliegend die rechtlich wesentliche Ursache für die Begleitung der Tochter auf einem „Teilstück des Schulwegs“ die berufliche Tätigkeit der Klägerin hätte sein müssen, um einen Versicherungsschutz zu begründen. Dies sei indes gerade nicht der Fall gewesen, vielmehr sei die Schulpflicht der Tochter ursächlich gewesen. Außerdem bedürfe es im Rahmen einer „Obhut“ einer Beaufsichtigung bzw. eines gewissen Maßes an (fürsorglicher) Zuwendung durch Dritte, was hier ebenfalls nicht gegeben sei. Ohnehin könne die Begleitung eines gesunden Kinds durch eine versicherte Person in der Regel nur bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahrs als erforderlich angesehen werden. Die Begleitung eigener oder anderer Kinder zur Schule zähle vielmehr zu den nicht versicherten rein privaten Tätigkeiten (Hinweis auf die Broschüre „Gesetzlicher Unfallversicherungsschutz für Eltern“ der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung - DGUV -, Stand Mai 2018, S. 21 f. Senats-Akte).

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18.06.2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat das angefochtene Urteil des SG verteidigt und ist dem Berufungsvorbringen unter Verweis auf den Klagevortrag u.a. mit Hinweis auf obergerichtliche Rechtsprechung entgegengetreten, wonach sich „der Weg“ als eine Kombination aus Arbeitsweg und Bringen/Abholen des Kinds darstellen müsse, was in ihren Fall vorgelegen habe. Die Klägerin sei alleinerziehend und berufstätig, sodass sie „während ihrer Arbeitszeit“ keine Obhut über ihre Tochter habe ausüben können. Deswegen könne es auch keine Rolle spielen, dass sie ihr Kind nur auf einem Teilstück begleitet habe. Die Auffassung der Beklagten, mit dem Beginn des Schulalters sei eine Obhut nicht mehr erforderlich, sei ohnehin abzulehnen. Eine solche Entscheidung liege vielmehr allein bei den Eltern.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Prozessakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung der Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG entscheidet, ist zulässig und auch begründet.

Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid der Beklagten vom 10.12.2019 in der Gestalt (§ 95 SGG) des Widerspruchsbescheids vom 10.09.2020, mit dem die Beklagte die Anerkennung des angeschuldigten Ereignisses vom 23.01.2019 als Arbeitsunfall abgelehnt hat. Soweit die Beklagte im Ausgangsbescheid zudem (nur pauschal) ausgeführt hat, dass „kein Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung besteht“, kommt dem über einem Aufzeigen der Folgen der Ablehnung der Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall keine weitere Bedeutung zu (s. dazu nur BSG 28.06.2022, B 2 U 16/20 R, in juris, Rn. 10 m.w.N.; 16.11.2005, B 2 U 28/04 R, in juris, Rn. 12 ff., st. Rspr.; Senatsurteil vom 09.06.2011, L 10 U 1533/10, in juris, Rn. 15 m.w.N.). Ohnehin hat die Klägerin auch weder mit ihrem Widerspruch, noch mit ihrer Klage konkrete Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung geltend gemacht hat, sondern allein das Begehren artikuliert (§ 123 SGG), das angeschuldigte Ereignis (durch die Beklagte) als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Dieses Begehren verfolgt die Klägerin statthaft - und auch im Übrigen zulässig - mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 und 3, § 56 SGG); die Anfechtungsklage zielt auf die gerichtliche Aufhebung der Ablehnungsentscheidung der Beklagten und die Verpflichtungsklage auf die gerichtliche Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung bzw. Anerkennung des Ereignisses vom 23.01.2019 als Arbeitsunfall (vgl. statt vieler nur BSG 31.03.2022, B 2 U 13/20 R, in juris, Rn. 11 m.w.N.; 16.03.2021, B 2 U 3/19 R, in juris, Rn. 10, st. Rspr.).   

Diese Klage ist indes unbegründet, sodass das SG die angefochtenen Bescheide zu Unrecht aufgehoben und die Beklagte verurteilt hat, das Ereignis vom 23.01.2019 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Der Bescheid der Beklagten vom 10.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.09.2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, sodass das Urteil des SG keinen Bestand haben kann; es ist im Rahmen des Berufungsantrags der Beklagten aufzuheben und die Klage ist abzuweisen.

Die Klägerin hat keinen (Wege-)Arbeitsunfall erlitten, als sie am 23.01.2019 beim Überqueren der Straße von einem Pkw erfasst wurde.

Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Versicherte Tätigkeit ist auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Wegs nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Ein Arbeitsunfall setzt mithin voraus, dass die Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis geführt (Unfallkausalität) und dadurch einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität; statt vieler nur BSG 28.06.2022, B 2 U 16/20 R, a.a.O. Rn. 11 m.w.N., st. Rspr.).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die Klägerin erlitt zwar am 23.01.2019 einen Unfall, als sie gegen 07.37 Uhr beim Überqueren der
M3-straße an der Einmündung A1 -Straße in S3 auf dem Weg zur Stadtbahnhaltestelle „F1“ - von wo aus sie die Stadtbahn stadteinwärts in Richtung ihrer Arbeitsstätte in S1-Nord nehmen wollte - von einem Pkw erfasst wurde und sich die oben im Tatbestand aufgeführten körperlichen Verletzungen zuzog. Auch befand sie sich im Unfallzeitpunkt objektiv auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstätte (Ort der Tätigkeit) in S1-Nord, denn ihr Weg war in diesem Moment auf die an der gegenüberliegenden Straßenseite gelegene Stadtbahnhaltstelle „F1“ der Linie „U“ Richtung stadteinwärts gerichtet, ebenso wie ihre subjektive Handlungstendenz, dort die (einfahrende) Stadtbahn für den Weg in die Richtung des Arbeitsorts zu nutzen. Dies ist freilich nicht hinreichend, denn das Überqueren der Straße am Unfallort zum Unfallzeitpunkt durch die Klägerin erfolgte nicht auf dem direkten Weg zum Ort der versicherten Tätigkeit als Beschäftigte (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII) der Bundesagentur für Arbeit, sodass der erforderliche innere (sachliche) Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit fehlt, der es rechtfertigen würde, das Überqueren der Straße an jener Stelle der versicherten Tätigkeit zuzurechnen.

In § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII ist durch das Wort „unmittelbar“ klarstellt, nur das Zurücklegen des direkten Weges nach und von der versicherten Tätigkeit unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung steht (BSG 30.01.2020, B 2 U 19/18 R, in juris, Rn. 19 m.w.N.). 

Unmittelbar vor dem Unfallereignis befand sich die Klägerin freilich nicht auf dem direkten Weg von ihrer Wohnung zu ihrer Arbeitsstätte. Zunächst merkt der Senat an, dass die Ausführungen der Klägerseite zur Begleitung der Tochter auf einer kurzen „Teilstrecke“ des Arbeitswegs suggerieren, dass sich der unmittelbare Weg der Klägerin von der Wohnung zur Arbeitsstätte über die Stadtbahnhaltestelle „
F1“ der Linie „U“ teilweise mit dem Schulweg über den „Sammelpunkt“ im M4-weg deckt. Dies ist freilich nicht der Fall. Der Senat stellt die oben im Tatbestand dargestellten örtlichen Gegebenheiten, die im Wesentlichen auf den Angaben der Klägerin beruhen und mit den tatsächlichen Verhältnissen übereinstimmen, fest. Davon ausgehend führt der unmittelbare Weg von der Wohnung zur Stadtbahnhaltestelle „F1“ - von der aus die Klägerin nach eigenen Angaben gewöhnlich mit der Stadtbahn „U“ in Richtung Arbeitsstätte fuhr - vom Wohngrundstück der Klägerin auf der nördlichen Seite der M3-straße Richtung Westen, ohne dass diese Straße überquert werden müsste. Der Weg zum M4-weg hingegen verläuft von der Haltestelle bzw. der entlang der M3-straße gelegenen Streckenlinie der „U“ Richtung Süden weg.

Die Klägerin begleitete davon ausgehend richtigerweise ihre Tochter nicht auf einem Teilstück ihres (der Klägerin) „unmittelbaren“ (vgl. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII) Wegs zur Arbeit, sondern sie verließ diesen unmittelbaren Weg in dem Moment, in dem sie sich südlich hinter dem Wohnhaus nicht in Richtung Westen zur Stadtbahnhaltestelle „
F1“ bewegte, sondern zunächst die Stadtbahngleise und sodann die M3-straße an der Einmündung der H1-straße in Richtung Süden überquerte. Damit unterbrach die Klägerin die unmittelbare Wegstrecke zur Stadtbahnhaltestelle und begab sich in entfernender Richtung von dieser auf den Weg zum „Sammelpunkt“ der Grundschulkinder im weiter südlich gelegenen M4-weg, also auf einen sog. Abweg (vgl. zum Vorstehenden nur BSG 05.07.2016, B 2 U 16/14 R, a.a.O. Rn. 19 f. m.w.N).

Zwar berührt eine geringfügige Unterbrechung, die auf einer Verrichtung beruht, die bei natürlicher Betrachtungsweise zeitlich und räumlich noch als Teil des Wegs nach dem Ort der Tätigkeit in seiner Gesamtheit anzusehen ist und gleichsam „im Vorbeigehen“ oder „ganz nebenher“ erledigt werden kann, den Versicherungsschutz nicht (BSG a.a.O. Rn. 19 m.w.N.). Bewegt sich der Versicherte dagegen - wie vorliegend die Klägerin - nicht auf einem direkten Weg in Richtung seines Ziels, sondern in entgegengesetzter Richtung von seinem Ziel fort, handelt es sich eben nicht um einen bloßen Umweg, sondern um einen Abweg (BSG a.a.O.; 11.09.2001, B 2 U 34/00 R, in juris, Rn. 18; s. auch BSG 28.06.2022, B 2 U 16/20 R, a.a.O. Rn. 21). Wird der direkte Weg mehr als geringfügig unterbrochen und ein solcher Abweg allein aus eigenwirtschaftlichen Gründen - ebenfalls wie vorliegend - zurückgelegt, besteht kein Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG 05.07.2016, B 2 U 16/14 R, a.a.O. Rn. 19 m.w.N.).

Das Verlassen des direkten Wegs zur Arbeitsstätte durch die Klägerin hat hier schon deshalb nicht zu einer nur geringfügigen Unterbrechung geführt, weil das allein privatwirtschaftlich veranlasste Begleiten der Tochter zum „Sammelpunkt“ der Schulkinder gerade nicht „ganz nebenher“ oder „im Vorübergehen“ zu erledigen war. Die Klägerin musste vielmehr für die Begleitung der Tochter zu diesem „Sammelpunkt“ den unmittelbaren Weg zur Arbeitsstätte verlassen, sich nach Süden, von der Haltestelle und der Stadtbahnstrecke in eine entgegengesetzte Richtung wegbewegen und die
M3-straße (nach Süden) überqueren; der unmittelbare Weg zur Arbeitsstätte respektive zur Stadtbahnhaltestelle führte hingegen an der nördlichen Seite der M3-straße bzw. der dortigen Stadtbahnstrecke entlang und die Stadtbahnhaltestelle „F1“ in Fahrtrichtung stadteinwärts war zu erreichen, ohne Erforderlichkeit des Überquerens der M3-straße (s.o.). In Ansehung dessen kann keine Rede davon sein, dass sich die Klägerin bei der konkreten Verrichtung der Begleitung ihrer Tochter unter „Beibehaltung der Route in Richtung auf das Endziel“ (vgl. dazu BSG 28.06.2022, B 2 U 16/20 R, a.a.O. Rn.27) bewegte. Sie hatte diese Route i.S. des unmittelbaren Arbeitswegs vielmehr von Anfang an (kurz südlich hinter dem Wohnhaus) verlassen und sich auf einen (Ab-)Weg begeben, der gerade nicht Bestandteil des unmittelbaren Wegs in Richtung auf das Ziel (Stadtbahnhaltestelle) war und den Unfall auch nicht auf einem Streckenabschnitt erlitten, den sie auch durchschritten hätte, wenn sie die Haltestelle ohne den Weg über den „Sammelpunkt“ direkt angesteuert hätte. Denn wie bereits dargelegt, war für das direkte Erreichen der Haltestelle ein Überqueren der M3-straße gar nicht erforderlich, erst recht nicht aus südlicher Richtung.

Damit war es bereits mit dem ersten Schritt der Klägerin in entgegengesetzter Richtung zur Stadtbahnhaltestelle zu einer nicht nur geringfügigen Unterbrechung gekommen und der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gelöst (BSG 05.07.2016, B 2 U 16/14 R, a.a.O. Rn. 21 m.w.N.; vgl. auch BSG 28.06.2022, B 2 U 16/20 R, a.a.O. Rn. 15).

Dass die Klägerin bis zum Zeitpunkt des „Ablieferns“ ihrer Tochter am „Sammelpunkt“ der Grundschulkinder-„Laufgruppe“ nicht nur die Motivation hatte, ihre Tochter dorthin zu verbringen, sondern jedenfalls auch einen Teil ihres Wegs zur Arbeit - wenn auch nicht des unmittelbaren Wegs (s.o.) - zurückzulegen (sog. gemischte Motivationslage; s. dazu nur BSG a.a.O. Rn. 16), ändert an der Lösung des inneren Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit nichts. Denn die konkrete Verrichtung (Begleitung der Tochter bis zum „Sammelpunkt“) wäre hypothetisch gerade nicht auch dann vorgenommen worden, wenn die private Motivation des Handelns entfallen wäre (vgl. BSG a.a.O.); diese war vielmehr der alleinige Grund für den Abweg überhaupt.

Zwar bewegte sich die Klägerin sodann, als sie ihre Tochter am Sammelpunkt „abgeliefert“ hatte, auf dem gekommenen Weg zunächst ein Stück wieder in Richtung Norden zurück (entlang der
H1-straße) und dann in Richtung Westen (F2-weg) bzw. anschließend nach Norden (A1-Straße), objektiv und subjektiv fort, um die Haltestelle „F1“ zu erreichen. Allerdings hatte sie bis zum Eintritt des Unfallereignisses die unmittelbare Wegstrecke zwischen ihrer Wohnung und der Arbeitsstätte respektive der Haltestelle noch nicht wieder erreicht. Dies wäre nur der Fall gewesen, wenn sie an der Haltestelle an der nördlichen Seite der M3-straße in Streckenrichtung stadteinwärts angekommen wäre. 

Der Wegeunfallversicherungsschutz ist damit zum Unfallzeitpunkt, zu dem der direkte Weg nicht wieder erreicht war, nicht erneut begründet worden (vgl. BSG 05.07.2016, B 2 U 16/14 R, a.a.O. Rn. 21 f.).

Soweit die Klägerin gemeint hat, das Begleiten ihrer Tochter zum „Sammelpunkt“ sei mitnichten privatwirtschaftlich bzw. privatnützig gewesen, sondern habe dem (berechtigten) Sicherheitsinteresse der Tochter bzw. der elterlichen Sorge gedient, verkennt sie die Bedeutung des Begriffs „privatwirtschaftlich“ im gegebenen Zusammenhang. Damit wird schlicht das Gegenteil von „betrieblich“ bzw. das Fehlen eines inneren Zusammengangs zur versicherten Tätigkeit umschrieben.

Ein Wegeunfallversicherungsschutz lässt sich vorliegend auch nicht über die sog. Dritte-Ort-Rechtsprechung des BSG (28.06.2022, B 2 U 16/20 R, a.a.O., Rn. 18; 30.01.2020, B 2 U 19/18 R, a.a.O. Rn. 20 f.) begründen. Denn dazu hätte sich die Klägerin zwei Stunden oder länger am „Sammelpunkt“ aufhalten müssen.

Schließlich ergibt sich ein solcher Wegeunfallversicherungsschutz hier auch nicht unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a SGB VII, der gerade zur ausnahmsweisen Versicherung eines Abwegs führt (BSG 30.01.2020, B 2 U 19/18 R, a.a.O. Rn. 24) und den die Beteiligten auch zum Kern ihrer Auseinandersetzung gemacht haben.

Die Norm ist vorliegend nach Wortlaut („wegen der beruflichen Tätigkeit“) und Schutzzweck der Norm überhaupt nicht einschlägig, was das SG verkannt hat. Das BSG hat zu § 8 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a SGB VII ausgeführt (12.01.2010, B 2 U 35/08 R, in juris, Rn. 23): „Diese Voraussetzung [„wegen seiner … beruflichen Tätigkeit“] kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Elternteil eine versicherte Tätigkeit ausübt und das Kind fremder Obhut anvertraut. Der Wortlaut der Vorschrift („wegen“) sowie Sinn und Zweck der Norm (s. unter 2 b) verlangen vielmehr, dass das Kind fremder Obhut mit der Handlungstendenz anvertraut wird, die versicherte Tätigkeit ausüben zu können. Nicht erfasst werden daher die Fälle, in denen das Kind unabhängig davon in fremde Obhut verbracht wird, ob der Versicherte seine Beschäftigung alsbald aufnehmen will (…). In solchen Fällen kann das Zurücklegen eines Weges dem Versicherten nur eine Gelegenheit dafür bieten, das Kind aus anderen Gründen als der Tätigkeit des Versicherten fremder Obhut anzuvertrauen.“ Ferner zur Entstehungsgeschichte der (insoweit gleichlautenden) Vorgängerregelung des § 550 Abs. 2 Nr. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO): „Die Gesetzesbegründung zu § 550 RVO (BT-Drucks. VI/1333 S. 5) führte bereits aus, dass durch Einfügung des § 550 RVO der Versicherungsschutz für Berufstätige erweitert werden solle, die ein Kind während ihrer Arbeitszeit fremder Obhut anvertrauen und „den hierzu notwendigen Weg mit dem Weg zu ihrer Arbeitsstätte verbinden“. Damit wird zwar zur Begründung des alleine durch Arbeitgeberbeiträge finanzierten Versicherungsschutzes in der gesetzlichen Unfallversicherung auf das betriebliche Interesse an der Arbeit von Frauen und der hierzu notwendigen Versorgung der Kinder abgestellt.“ (BSG 30.01.2020, B 2 U 19/18 R, a.a.O. Rn. 27).

Die Klägerin begleitete ihre Tochter zum „Sammelpunkt“ - also im Rahmen des Abwegs - schon nach ihrem eigenen Vortrag nicht, um ihrer Beschäftigung bei der Bundesagentur für Arbeit nachgehen zu können, sondern allein und ausschließlich „an jedem Schultag“ (nota bene: nicht an jedem Arbeitstag, sic!) aus (allgemeinen) Sicherheitserwägungen zum Schutz der Tochter. Bis zu einem (nicht näher substantiierten) „Belästigungsereignis“ der Tochter, als diese noch die Grundschulklasse 2 besuchte, legte diese ihren Schulweg ausweislich der klägerischen Angaben auch ohne (Teil-)Begleitung der Klägerin zurück, also vollkommen unabhängig von deren Beschäftigung bei der Bundesagentur für Arbeit. Namentlich war die Begleitung der Tochter bis zum „Sammelpunkt“ keine notwendige Vorbereitungshandlung gerade für die Ausübung der versicherten Tätigkeit (vgl. dazu nur BSG 30.01.2020, B 2 U 19/18 R, a.a.O. Rn. 33).

Damit fehlt vorliegend jeglicher sachlich-inhaltlich kausaler Zusammenhang zwischen der Beschäftigung der Klägerin („wegen“, s.o.) und dem Begleiten ihrer Tochter bis zum „Sammelpunkt“.

Soweit die Klägerin im Widerspruchsverfahren noch gemeint hat, sie habe ihre Tochter
auf dem kurzen Wegstück „zur Schule/Betreuungsstätte“ begleitet, ist dies ohnehin schlicht unzutreffend. Richtig ist vielmehr, dass sie ihre Tochter zum „Sammelpunkt“ der Kinder-„Laufgruppe“ - von der klägerischen Wohnung aus in südlicher Richtung - vor dem Wohnhaus einer Klassenkameradin begleitete.

Soweit die rechtskundig vertretene Klägerin im Rechtsmittelverfahren ferner (nur pauschal) gemeint hat, ihre Tochter sei „während der Arbeitszeit“ in Obhut gewesen, weil sie (die Klägerin) ihrer Beschäftigung habe nachgehen müssen, ist auch dies unzutreffend, weil die Klägerin ihre Arbeit zum Zeitpunkt des Ereignisses gerade noch nicht aufgenommen hatte. Auch geht es vorliegend schon im Ansatz nicht um die Betreuung der (schulpflichtigen) Tochter in der Schule und auch nicht um deren Schulweg, sondern um den Abweg der Klägerin auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstätte (s.o.). Dass der Klägerin eine Ausübung ihrer versicherten Tätigkeit bei der Bundesagentur für Arbeit nur ermöglicht gewesen ist, wenn sie am Morgen vor Arbeitsbeginn ihre Tochter auf einem Teil des Schulwegs begleitet, ist nicht nur nicht nachvollziehbar, sondern nachgerade abwegig.

Schließlich ist auch die - von den Beteiligten und dem SG in den Vordergrund gerückte - Frage, ob die elterliche Sorge und das (allgemeine) Sicherheitsbedürfnis und -empfinden der Klägerin sowie das Alter der Tochter am Unfalltag es gerechtfertigt haben, dass die Klägerin ihre Tochter auf einem Teil des Schulwegs begleitete, vollkommen entscheidungsunerheblich. Wie bereits oben dargelegt, ist Derartiges von der Regelung des § 8 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a SGB VII nicht umfasst und das BSG hat bereits mehrmals entschieden, dass und warum eine erweiternde Auslegung oder gar analoge Anwendung der Norm auf andere Sachverhalte, in denen ein „Anvertrauen in fremde Obhut“ aus anderen Gründen als „wegen der beruflichen Tätigkeit“ in Rede steht, nicht in Betracht kommt und verfassungsrechtlich auch nicht geboten ist (z.B. BSG 30.01.2020, B 2 U 19/18 R, a.a.O. Rn. 25 ff.; 12.01.2010, B 2 U 35/08 R, a.a.O. Rn. 31 ff., beide m.w.N., auch zur Rspr. des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG -). Dem hat der erkennende Senat nichts hinzuzufügen und der hiesige Rechtsstreit liefert dazu auch keine Veranlassung.

Liegen somit aus den bereits dargelegten Gründen die Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a SGB VII nicht vor, merkt der Senat lediglich noch am Rande an, dass die Begleitung der Tochter durch die Klägerin bis zum „Sammelpunkt“ der Kinder-„Laufgruppe“, von wo aus die Grundschulkinder selbstständig gemeinsam den Schulweg beschreiten, auch schon kein „Anvertrauen in fremde Obhut“ i.S.d. der genannten Norm darstellt, sondern das bloße Verbringen des Kindes an einen (tatsächlich oder vermeintlichen) sicheren Aufenthaltsort (Wagner in jurisPK-SGB VII, 3. Aufl., § 8 Rn. 240, Stand 20.06.2023; Wietfeld in BeckOK SozR, SGB VII, § 8 Rn. 221, Stand 01.12.2023; Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, § 8 Rn. 259, Stand Februar 2022; Leube, NZV 2015, S. 275, 276; Krasney/Richter/Udsching, WzS 2013, S. 67, 72); dem Begriff der „Obhut“ ist überdies schon nach dem natürlichen Wortverständnis eine „betreuende Zuwendung“ (z.B. Aufsicht, Verpflegung, körperliche, geistige und seelische Betreuung) immanent (Wietfeld a.a.O.; Ricke in BeckOGK, SGB VII, § 8 Rn. 371, Stand 15.11.2023), was bei einem schlichten gemeinsamen und selbstständigen Zurücklegen des (weiteren) Schulwegs einer Kindergruppe fernliegt.

Der klägerische Vortrag im Klage- und Berufungsverfahren ist ganz überwiegend am eigentlichen Kern des Rechtsstreits und den rechtlichen Maßstäben vorbeigegangen. Insbesondere kommt es vorliegend - wie oben schon dargelegt - nicht entscheidungserheblich darauf an, unter welchen Voraussetzungen das Kind eines Versicherten „in fremde Obhut anvertraut ist“ und ob eine solche Inobhutgabe im Einzelfall sinnvoll, nachvollziehbar oder rechtlich anerkennenswert ist. Insoweit haben freilich auch die entsprechenden Ausführungen der Beklagten hier von vornherein neben der Sache gelegen.

Abschließend sieht sich der Senat noch veranlasst, die Beklagte darauf hinzuweisen, dass die Richtigkeit eines eingenommenen Rechtsstandpunkts nicht unter Verweis auf eine Informationsbroschüre des Spitzenverbands gerichtet an Versicherte, in der vielleicht ein nämlicher Rechtsstandpunkt (allgemein) als zutreffend zugrunde gelegt wird, überzeugend begründet werden kann, eben weil die Richtigkeit dieses Rechtsstandpunkts im konkreten Einzelfall zur (ober-)gerichtlichen Prüfung steht und sich zuvörderst nach den tatsächlichen Umständen und der darauf bezogenen Rechtsanwendung im einzelnen Fall richtet. Wenn das Ergebnis der Prüfung letztlich mit der in einer Broschüre (abstrakt-generell) eigenommenen Rechtsauffassung übereinstimmt, mag dies sein, begründet die Richtigkeit im konkreten Fall aber nicht, zumal sich vorliegend die Frage, ob „die Begleitung eigener oder anderer Kinder zur Schule zu den nicht versicherten rein privaten Tätigkeiten zählt“ (s. Berufungsbegründung S. 20 Senats-Akte), in dieser Form überhaupt nicht gestellt hat, nachdem die Klägerin erst im Anschluss an die Begleitung ihrer Tochter und an einem anderen Ort verunfallte.


Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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