L 9 U 1210/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 13 U 1077/22
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 1210/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 3. April 2023 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund von zwei Arbeitsunfällen vom 09.04.1983 und vom 05.12.1986 streitig.

Der 1957 geborene Kläger bezieht aufgrund eines Arbeitsunfalls vom 04.10.2020, bei dem er eine Quetschverletzung des linken medialen Vorfußes mit Deformation des Vorfußes und deformierte, leicht verkürzte Großzehe, erlitt, von der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und Chemische Industrie (BG RCI) eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. (Bescheid vom 07.06.2006). Ein von ihm gestellter Verschlimmerungsantrag wurde von der BG RCI durch Bescheid vom 15.07.2021 abgelehnt.

Mit Schreiben vom 12.02.2020 stellte der Kläger bei der Beklagten wegen Arbeitsunfällen aus den Jahren 1982/1983 und 1982/1984 einen Antrag auf Gewährung einer Verletztenrente in Form von Stützrenten. Er benannte hierzu zwei Unfälle aus den Jahren 1982/83 (Handverletzung li.) und 1983/84 (Knieverletzung beidseits). Die Unfälle hätten sich bei der Firma S1 GmbH in K1 ereignet, die vom 01.08.1978 bis 31.05.1996 Mitglied der BG Verkehr – Bezirksverwaltung W1 - war.

Ermittlungen der Beklagten ergaben, dass in ihren Archivdaten für den Kläger folgende Unfälle erfasst wurden:
- Unfall vom 01.12.1980: Kopf
- Unfall vom 09.04.1983: Knie 
- Unfall vom 02.05.1986: Hand / 5. Finger
- Unfall vom 05.12.1986: gesamte Hand

Weitere Anhaltspunkte waren aus den Unterlagen der Beklagten nicht zu rekonstruieren, da die Unterlagen nach Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist vernichtet worden waren. Die Beklagte nahm aber Ermittlungen auf und zog verschiedene Unterlagen zu den angegebenen Arbeitsunfällen bei.

Zum Unfall vom 09.04.1983 wurde die Unfallanzeige des Arbeitgebers T1 vom 14.04.1983 beigezogen. Hiernach war zum Unfallhergang handschriftlich angegeben worden: „Beim Herabsteigen von dem Radlader bin ich auf einen Stein getreten, abgerutscht und hab mir das linke Knie verletzt.“
Weiter wurde der Durchgangsarztbericht vom 12.04.1983 (A1, M1 in R1) beigezogen. Darin wird zum Unfallhergang ausgeführt, der Kläger sei bei Arbeitsschluss von einem Radlader gesprungen und dabei mit dem linken Fuß umgeknickt und dann auf das linke Kniegelenk gefallen.
Beim Röntgen des linken Kniegelenks in 2 Ebenen wurde keine frische knöcherne Verletzung festgestellt. Es wurde die Diagnose einer posttraumatischen Haemarthrose (Gelenkerguss) des linken Knies gestellt.
Das Bein wurde in der Folgezeit punktiert und ruhig gestellt durch eine Schiene.
Im
Zwischenbericht des M1 O1, Chirurgische Abteilung vom 17.05.1983 wurde die Diagnose Z. n. traumatischem Kniegelenkserguss links gestellt; es wurde kein Erguss festgestellt, die Streckung des Kniegelenkes war links vollständig, 180 Grad Beugen, bis 80 Grad schmerzfrei. Der zirkuläre Gipsverband (Tutor) sei am 09.05. entfernt worden. Eine nochmalige Röntgenkontrolle des linken Kniegelenks in 2 Ebenen ergab keine knöcherne Verletzung.

In der fachchirurgischen Stellungnahme von H1 u.a. vom 20.07.1983, aufgrund einer Untersuchung und Röntgenkontrolle vom 27.06.1983 wird ebenfalls ein Distorsionstrauma des linken Kniegelenkes diagnostiziert. Zeichen einer stattgehabten knöchernen Verletzung lagen nicht vor. Die Erstbehandlung sei im H2 in O1 erfolgt, wo mehrere Kniegelenksergüsse punktiert werden mussten. Nach längerer Ruhigstellung sei eine weitere ambulante Behandlung erfolgt. Zurzeit bestünden an Unfallfolgen noch: Eine geringe Verschmächtigung der linken Oberschenkelmuskulatur und eine endgradige Bewegungseinschränkung, sowie die röntgenologisch beschriebene Minderung der Kalksalz Anlagerung.
In einer Mitteilung von H1 u.a. vom 21.07.1983 an die BG für Fahrzeughaltungen wird ausgeführt, der Kläger habe zur Zeit keine Beschwerden im linken Kniegelenk, und da die Kniegelenksfunktion sei bis zu einer endgradigen Bewegungseinschränkung und einer geringen Muskelverschmächtigung normal sei, sei auf eine weitere Abklärung der stattgehabten Knieverletzung verzichtet worden. Das Heilverfahren sei abgeschlossen worden. Eine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) werde nicht verbleiben.

Aus dem beigezogenen Versicherungsverlauf der DRV ist ersichtlich, dass der Kläger wegen der Folgen des Unfalles vom 09.04.1983 in der Zeit vom 22.05.1983 bis 10.07.1983 Verletztengeld bezog und eine Arbeitsunfähigkeit demnach bis 10.07.1983 vorlag.
 
Die Beklagte zog außerdem medizinische Unterlagen bzgl. des Arbeitsunfalls vom 04.12.2020 bei. Im Bericht über eine radiologische Untersuchung bei B1 u.a., Universitätsklinikum F1, vom 10.12.2021 werden moderate degenerative Veränderungen in beiden Kniegelenken (Kellgren-Lawrence Grad II), links leicht führend, beschrieben. Für die vom Kläger anamnestisch angegebenen Zustand nach Patellafrakturen beidseits waren keine Frakturresiduen oder Stufenbildungen erkennbar.

Die Beklagte veranlasste daraufhin eine Begutachtung des Klägers im Universitätsklinikum F1 bei S2 zu den Folgen aller vier Arbeitsunfälle, der unter dem 02.12.2021 erste Rentengutachten erstellte.
Im Rahmen der gutachtlichen Untersuchung schilderte der Kläger den Hergang des Unfalls vom 09.04.1983 wie folgt: Beim Seilbagger im R2 Lager Süd sei an der Umlenkrolle, am höchsten Punkt des Baggers, das Seil abgesprungen, die Höhe sei zwischen 10-18 m gewesen. Der darunter stehende Zug habe dringend wieder losfahren müssen. Er sei zur Reparatur auf ein Gittergerüst gestiegen. Ein Kollege habe ihn zeitlich sehr gedrängt und er habe sich mit dem sonst üblichen Kleidergeschirr nicht angurten können. Er habe das Stahlseil mit einem Stemmeisen o.ä. wieder aufgespannt. Dann habe er das Kommando zum erneuten Start des Baggers gegeben, ein unerfahrener Baggerführer habe jedoch ruckartig gestartet und er sei beim wieder Aufnehmen der Baggerarbeit aus dem Gleichgewicht gekommen und ca. 10-18 m ins Kiesbett gestürzt. Er sei dabei direkt mit den Knien aufgekommen. Er sei dann mit dem zecheneigenen Krankenwagen ins Krankenhaus D1 gekommen und von dort aufgrund der Schwere der Verletzung weitertransportiert worden in die Unfallklinik B2; er sei dort an beiden Knien operiert worden. Seither habe er Beschwerden an beiden Knien.
In Bezug auf den Unfall vom 09.04.1983 führten S2, K2 und W2, Universitätsklinikum F1, im Gutachten vom 02.12.2021 aus, beim Kläger bestehe eine subjektive Einschränkung der Kniegelenksfunktion mit gelegentlichen Schmerzen bei Bewegung. Die Knie beidseits zeigten rechts medial und links lateral jeweils am proximalen Patellapol ca. 5-7 cm lange reizlose, kaum sichtbare Narben, keinen relevanten intraartikulären Erguss, keine Schwellung/Rötung. Die muskuläre Aktivierung der Oberschenkelmuskulatur sei regelrecht, klinisch apparente Atrophien sein nicht vorhanden. Es hätten sich moderate degenerative Veränderungen im linken Kniegelenk gezeigt, betont im medialen Kompartiment, mit geringer Gelenkspaltverschmälerung, subchondraler Mehrsklerosierung und osteophytären Anbauten; im rechten Kniegelenk geringe, ebenso medial betonte degenerative Veränderungen mit Gelenkspaltverschmälerung und subchondraler Mehrsklerosierung. Als Unfallfolge sei damals, restrospektiv bzw. anamnestisch eine beidseitige Patellafraktur möglich, wobei aus den vorliegenden Unterlagen, den mutmaßlichen Operationsnarben und auch der ausführlichen Anamneseerhebung sich nicht zweifelsfrei ergebe, dass eine beidseitige Fraktur vorgelegen habe. In jedem Fall sei objektiv eine stattgehabte Verletzung klinisch und röntgenologisch als nahezu folgenlos ausgeheilt zu betrachten und könne nicht von den altersmäßigen Veränderungen im Sinne einer milden, medial-betonten Gonarthrose getrennt werden. Es sei nicht davon auszugehen, dass die zum jetzigen Zeitpunkt beobachteten degenerativen Veränderung insbesondere im medialen Tibiofemoralgelenk in ausschließlichem oder mindestens überwiegenden Kausalzusammenhang zum damaligen Unfallereignis zu bringen sind. Auch eine wegweisende Verschlechterung des schicksalhaften Verlaufes ist nicht anzunehmen. Eine MdE in einem rentenrelevanten Ausmaß sei durch den Unfall nicht verblieben. Es sei auf jeden Fall von einer MdE von weniger als 10 v.H. auszugehen.

Zu dem Unfallereignis vom 02.05.1986 (Hand, 5. Finger) waren dem Kläger bei der Untersuchung durch S2 u.a. am 02.12.2021 keinerlei Vorkommnisse in Erinnerung. In Bezug auf den angegebenen Unfall vom 05.12.1986 (Stichverletzung der Hohlhand links) sind keine medizinischen Vorberichte (Durchgangsarztbericht, Unfallanzeige, Zwischen- oder OP-Bericht) vorhanden bzw. lagen dem Gutachter vor. Der Kläger machte hierzu folgende Angaben: Er sei beim Handhaben einer Schlauchschelle o.ä. abgerutscht und habe sich daraufhin mit dem Schraubenzieher in die linke Hand gestoßen. Die Wunde sei vor Ort durch den Zechenarzt begutachtet worden. Er sei dann direkt zur operativen Versorgung in die Handchirurgie im Krankenhaus K3 überstellt worden. Dort sei er im Bereich der Hohlhand operiert worden. Die Wundheilung sei adäquat verlaufen. Seither sei die Hand teilversteift, er habe eine Beugekontraktur und eine Sensibilitätseinschränkung des linken Mittelfingers.
Hierzu führten die Gutachter unter dem 02.12.2021 (gesamte Hand) aus, die oberen Extremitäten zeigten eine uneingeschränkte, altersgerechte aktive und passive Beweglichkeit, die exakte Beweglichkeit der Handgelenke und Langfinger sei dem beigefügten Messblatt zu entnehmen. Die rechte Hand sei die dominante Hand. Bei der Untersuchung sei die Pro-/Supination seitengleich, die Flexion/Extension im Ellenbogen- und Handgelenk altersgerecht. Der Faustschluss sei beidseits kräftig mit Kraftgrad 5/5 n. Janda. Beim Faustschluss linksseitig falle ein Extensionsdefizit im linken Mittelfinger auf, welches durch die angrenzenden Langfinger funktionell kompensiert werde. Eine isolierte Flexion im DIP und PIP sei nicht möglich, eine Extension im PIP ebenso wenig. Beim Kläger bestehe eine subjektive und objektive Einschränkung der Fingerfunktion der Digiti 2 und 3 der linken, nicht dominanten Hand im Sinne einer Beugekontraktur des Digitus 3 und eines funktionell milden Beugedefizits des Digitus 2 sowie einer Hypästhesie im Bereich des Endgliedes des Digitus 3 links. Die funktionellen Einschränkungen aufgrund der eingeschränkten Beweglichkeit könnten auf 5 v.H. beziffert werden, eine MdE in rentenberechtigendem Ausmaß von mindestens 10 v.H. liege nicht vor.
 
Mit zwei Bescheiden vom 08.02.2022 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente wegen der Folgen der Unfälle vom 09.04.1983 und vom 05.12.1986 ab und führte zur Begründung jeweils aus, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht messbar gemindert sei. Hierbei stützte die Beklagte sich jeweils auf das Gutachten des S2 vom 02.12.2021.

Auch hinsichtlich der Unfälle vom 01.12.1980 und vom 02.05.1986 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente ab (Bescheide ebenfalls vom 08.02.2022).

Gegen die Bescheide legte der Kläger mit Schreiben vom 10.02.2022 jeweils Widerspruch ein und machte im Wesentlichen geltend, dass vom Sozialgericht entschieden werden müsse, ob die eingeholten Gutachten aus dem Universitätsklinikum F1 rechtskonform oder durch die Berufsgenossenschaft beeinflusst worden seien. Er sei von W2 untersucht worden. Die weiteren Ärzte, die das Gutachten unterschrieben hätten, seien nicht bekannt. Ob W2 das Fachwissen zur Erstellung eines Gutachtens habe, sei nachzuprüfen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10.03.2022 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 08.02.2022 (Arbeitsunfall vom 09.04.1983) zurück. Im Gutachten des Universitätsklinikums werde eine subjektive Einschränkung der Kniegelenksfunktion mitgelegentlichen Schmerzen bei Bewegung beschrieben. Als Unfallfolge sei restrospektiv oder anamnestisch eine beidseitige Patellafraktur möglich. Selbst wenn derartige Brüche vorgelegen haben sollten, seien diese objektiv und röntgenologisch als ausgeheilt zu betrachten. Eine messbare MdE habe nicht festgestellt werden können. Die Gewährung einer Verletztenrente scheide daher aus. Für die mangelnde Objektivität der Gutachter bestünden keine Anhaltspunkte. Auch sei es mit der Pflicht zur persönlichen Gutachtenserstellung vereinbar, wenn der Gutachter einen Teil seines Auftrages an qualifiziertes technisches und medizinisches Hilfspersonal übertrage. S2 habe die Schlussfolgerungen seiner Mitarbeiter überprüft und durch seine Unterschrift die Verantwortung für das Gutachten übernommen.

Mit weiterem Widerspruchsbescheid vom 10.03.2022 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 08.02.2022 (Arbeitsunfall vom 05.12.1986) zurück. Im Gutachten vom 02.12.2021 seien eine subjektive und objektive Einschränkung der Fingerfunktion der Digiti (Finger) 2 und 3 der linken nicht dominanten Hand im Sinne einer Beugekontraktur des Digitus 3 und eines funktionell milden Beugedefizits des Digitus 2 sowie eine Hypästhesie im Bereich des Endgliedes des Digitus 3 links beschrieben worden. Dies sei von den Gutachtern – ungeachtet etwaiger Kausalitätsfragen – mit einer MdE von 5 v.H. bewertet worden.

Mit weiterem Widerspruchsbescheid vom 10.03.2022 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 08.02.2022 (Arbeitsunfall vom 01.12.1980) zurück.

Dagegen hat der Kläger am 04.04.2022 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben und sein Begehren weiterverfolgt. Mit Schreiben vom 18.05.2022 hat der (frühere) Bevollmächtigte des Klägers klargestellt, dass im Rahmen des Klageverfahrens die Gewährung einer Verletztenrente von jeweils mindestens 10 v.H. im Sinne eines sogenannten Stützrententatbestandes aufgrund der Arbeitsunfälle vom 09.04.1983 und vom 05.12.1986 geltend gemacht werde. Aufgrund der fortbestehenden unfallbedingten Beschwerden in der linken Hand und im linken Knie sei jeweils eine MdE in Höhe von mindestens 10 v.H. festzustellen. Seit dem Arbeitsunfall am 05.12.1986 verspüre der Kläger Schmerzen und schmerzhafte Bewegungseinschränkungen in der linken Hand. Die Funktionseinschränkungen der linken Hand bereiteten ihm im Alltag besondere Probleme, insbesondere beim Zugreifen und Halten von schweren Gegenständen. Die grobe Kraft sei reduziert, beim Faustschluss linksseitig bestehe ein Extensionsdefizit im linken Mittelfinger. Es liege eine subjektive Einschränkung der Fingerfunktion der Digiti 2 und 3 der linken Hand im Sinne einer Beugekontraktur des Digitus 3 und eines funktionell milden Beugedefizits des Digitus 2 sowie eine Hypästhesie im Bereich des Endgliedes des Digitus 3 links vor. Ergänzend hierzu hat der Kläger auf das für die BG RCI gefertigte neurologisch-psychiatrische Gutachten des Herrn S3 vom 23.04.2021 verwiesen. Darin werde beschrieben, dass der Faustschluss aufgrund der Funktionseinschränkung des dritten Fingers der linken Hand nicht vollständig gelinge. Der Gutachter habe im dritten Finger der linken Hand eine Sehnenverletzung mit Kontraktur diagnostiziert, wobei die Beweglichkeit für die Beugung wie auch für die Streckung eingeschränkt sei. In der dynamometrischen Untersuchung sei eine mangelnde Kraftentfaltung der linken Hand (18 kp) gegenüber der rechten Hand (56 kp) aufgefallen. Es sei eine deutliche Gebrauchsminderung der linken Hand gegenüber der rechten zu erkennen, weshalb eine adäquate MdE in Höhe von 10 v. H. gegeben sei. Seit dem Arbeitsunfall vom 09.04.1983 klage der Kläger außerdem über Beschwerden in beiden Knien im Sinne anhaltender Schmerzen und gelegentlichen Bewegungseinschränkungen, insbesondere beim Knien und Strecken. Längere Gehstrecken bereiteten ihm Schmerzen. Das linke Knie sei insgesamt symptomatischer als das rechte. Aufgrund der fortbestehenden Beschwerdesymptomatik insbesondere im linken Kniegelenk, sei ebenfalls eine MdE von mindestens 10 v. H. festzustellen. Auch eine ausgeheilte Knieverletzung sei unter unfallversicherungsrechtlichen Gesichtspunkten mit einer MdE in Höhe von 10 v. H. anzusetzen.

Das SG hat auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Beweis erhoben durch Einholung eines orthopädisch-unfallchirurgischen Gutachtens nach Aktenlage und ambulanter Untersuchung bei O2. Dieser hat im Gutachten vom 01.12.2022 ausgeführt, es lägen keine Gesundheitsstörungen vor, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis vom 09.04.1983 zurückzuführen seien. Die Angaben in den Akten differierten weitreichend von den anamnestischen Angaben des Versicherten, welche er im Rahmen der heutigen Begutachtung angegeben wurden: Der Versicherte berichte von beidseitigen Verletzungen der Knie nach einem Sturz aus 10 Metern oder mehr (!) Höhe. In der Unfallanzeige bzw. dem Durchgangsarztbericht werde demgegenüber lediglich von einer Verletzung des linken Knies, resultierend aus einem Stolpersturz berichtet. Im Rahmen der Untersuchung habe er im Bereich der Knie einen alterstypischen und damit nicht auf das Unfallereignis zurückzuführenden, seitengleich ausgebildeten Zustand im Sinne einer diskreten medial und retropatellar betonten beidseitigen Gonarthrose des Schweregrad Kellgren II festgestellt. Die Beweglichkeit der Knie war seitengleich, die Bänder ebenfalls seitengleich stabil. Sowohl die Muskelummantelung als auch die Fußsohlenbeschwielung war symmetrisch. Die Narbenbildungen belegten zwar stattgehabte operative Interventionen, es sei jedoch nicht mehr zweifelsfrei zu eruieren, wann, wo und warum diese durchgeführt worden seien. Sie bedingten aber per se keine funktionellen Einschränkungen.
Es seien daher keine Gesundheitsstörungen festzustellen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis vom 09.04.1983 zurückzuführen sind. Die hieraus folgende MdE betrage daher 0 v.H.

Hinsichtlich des Unfallereignisses vom 05.12.1986 lägen keinerlei medizinische Anknüpfungstatsachen in Form von Unfall- oder Behandlungsberichten vor. Es existierten nur die Angaben des Klägers. Im Bereich der linken Hand stellte O2 folgende Gesundheitsstörungen fest: Bewegungseinschränkung des Mittelfingers links mit Unfähigkeit der aktiven Beweglichkeit des Fingerendgelenkes bei offensichtlich stattgehabter Konturunterbrechung der tiefen Beugesehne des Mittelfingers sowie Bewegungseinschränkung des Fingermittelgelenkes, Narbenbildungen im Bereich der Hohlhand links und dem beugeseitigen Mittelfinger links sowie Kraftminderung der Beugefähigkeit des linken Mittelfingers. Es könne offenbleiben, ob diese Einschränkungen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall vom 05.12.1986 zurückzuführen seien. Jedenfalls begründeten die festgestellten Beeinträchtigungen keine MdE von 10 v.H. oder mehr.
Gemäß der gängigen MdE-Erfahrungswerte, die in der Literatur angegeben werden, bedinge die komplette Amputation des Mittelfingers im Grundgelenk (Metakarpophalangealgelenk) eine MdE von 10 v.H. (vgl. Schönberger, Mertens, Valentin: Arbeitsunfall und Berufskrankheit. Rechtliche und medizinische Grundlagen für Gutachter, Sozialverwaltung, Berater und Gerichte. Erich-Schmidt-Verlag Berlin. 9. Auflage 2017, Seite 605; G. Rompe: Synopse der Bewertung von Leistungsbeeinträchtigungen in den verschiedenen Gebieten der Sozialversicherung in Deutschland. In: Rompe/Erlenkämper/Schiltenwolf/Hollo: Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane. 5. Auflage 2009, Georg Thieme Verlag Stuttgart, Seite 718). Eine Amputation liege allerdings im vorliegenden Fall nicht vor. Der Finger sei „nur" bewegungseingeschränkt und kraftgemindert. Die hieraus resultierende MdE sei somit vollkommen zwanglos mit < 10 % einzuschätzen und somit per Definition „nicht messbar".

Das SG hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 03.04.2023 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die form- und fristgerecht erhobene Klage sei als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 4 SGG statthaft und im Übrigen zulässig. Sie sei jedoch nicht begründet. Die Bescheide vom 08.02.2022 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 10.03.2022 seien rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten. Weder aufgrund der Folgen des Unfalls vom 09.04.1983 noch aufgrund der Folgen des Unfalls vom 05.12.1986 bestehe ein Anspruch auf Verletztenrente, und zwar auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines Stützrententatbestandes. Zur Überzeugung der Kammer stehe fest, dass weder aufgrund des Arbeitsunfalls vom 09.04.1983 noch aufgrund des Arbeitsunfalls vom 05.12.1986 Gesundheitsstörungen bestehen, die eine MdE von 20 v. H. oder auch nur von 10 v.H. begründeten.

Diese Überzeugung stütze das Gericht auf das schlüssige und nachvollziehbare Gutachten von O2 vom 01.12.2022 sowie auf die im gerichtlichen Verfahren als Urkunde verwertbaren, im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten des S2 vom 02.12.2021.
O2 habe keine Gesundheitsstörungen feststellen können, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis vom 09.04.1983 zurückzuführen sind. Im Rahmen seiner Untersuchung habe er im Bereich der Knie einen alterstypischen und damit nicht auf das Unfallereignis zurückzuführenden, seitengleich ausgebildeten Zustand im Sinne einer diskreten medial und retropatellar betonten beidseitigen Gonarthrose des Schweregrad Kellgren II festgestellt. Die Beweglichkeit der Knie war seitengleich, die Bänder ebenfalls seitengleich stabil. Sowohl die Muskelummantelung als auch die Fußsohlenbeschwielung war symmetrisch. Die Narbenbildungen belegten zwar stattgehabte operative Interventionen, es sei jedoch nicht mehr zweifelsfrei zu eruieren, wann, wo und warum diese durchgeführt worden seien. Sie bedingten aber keine funktionellen Einschränkungen.
Im Bereich der linken Hand habe O2 folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: Bewegungseinschränkung des Mittelfingers links mit Unfähigkeit der aktiven Beweglichkeit des Fingerendgelenkes bei offensichtlich stattgehabter Konturunterbrechung der tiefen Beugesehne des Mittelfingers sowie Bewegungseinschränkung des Fingermittelgelenkes, Narbenbildungen im Bereich der Hohlhand links und dem beugeseitigen Mittelfinger links sowie Kraftminderung der Beugefähigkeit des linken Mittelfingers. Der Sachverständige habe offengelassen, ob diese Einschränkungen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall vom 05.12.1986 zurückzuführen sind. Jedenfalls begründeten die festgestellten Beeinträchtigungen keine MdE von 10 v.H. oder mehr. Das Gericht habe keine Bedenken, dem Gutachten zu folgen. Dieses sei in sich schlüssig und widerspruchsfrei. Es lasse erkennen, dass sich der Gutachter mit der hier entscheidungserheblichen Fragestellung sehr sorgfältig befasst habe. Er habe sodann – hierauf beruhend – seine Schlussfolgerungen in logisch nachvollziehbarer und somit nicht zu beanstandender Art und Weise dargelegt. Diese Schlussfolgerungen entsprächen zudem denen der S2 u.a. im Gutachten vom 02.12.2021. Die Einschätzung der MdE von unter 10 v.H. im Bereich der linken Hand stehe auch im Einklang mit der unfallmedizinischen Fachliteratur. Danach werde für eine komplette Amputation des Mittelfingers im Grundgelenk eine MdE von 10 v.H. als angemessen angesehen (siehe Schönberger/Mehrtens/Valentin: Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, S. 605). Im Vergleich hierzu sei der Kläger deutlich bessergestellt, so dass die Einschätzung der MdE auf unter 10 v.H. nachvollziehbar sei.

Gegen den dem (früheren) Prozessbevollmächtigten des Klägers am 06.04.2023 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 27.04.2023 beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) erhobene Berufung, mit welcher der Kläger sein Begehren weiterverfolgt und ergänzend ausgeführt hat, die Angabe im Gerichtsbescheid, wonach er aus einer Höhe von 10 bis 18 Meter vom Bagger gestürzt sei, sei falsch. Er sei aus einer Höhe von ca. 3 Meter abgestürzt und habe sich bei dem Sturz einen Trümmerbruch beider Kniescheiben zugezogen. Die Begutachtung durch S2 u.a. sei durch die Beklagte beeinflusst. Bei der Begutachtung im Universitätsklinikum F1 sei er ausschließlich durch W2 untersucht worden. Dieser habe aber nicht das Gutachten von S3 übernommen. Auch die Begutachtung durch O2 sei nicht neutral gewesen. Die Begutachtung sei in einem normalen Wohnhaus in der Dachkammer ohne medizintechnische Geräte erfolgt. Seine Greiffähigkeit sei mit Büroklammern getestet worden, S3 habe dafür Messgeräte eingesetzt. Sein Gutachten sei daher bindender. Auch sei im Gutachten von O2 die Horrornachricht zu lesen, dass er von 10 bis 18 Meter Höhe abgestürzt sei. Außerdem fehlten die Röntgenbilder nach dem Unfall aus dem Jahr 2000. Das erste Röntgenbild nach dem Unfall BG RCI habe einen Trümmerbruch beider Kniescheiben bestätigt.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 3. April 2023 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 08.02.2022 in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom 10.03.2022 zu verurteilen, ihm auf Grund der Folgen des Arbeitsunfalls vom 09.04.1983 sowie auf Grund der Folgen des Arbeitsunfalls vom 05.12.1986 jeweils eine Rente nach einer MdE in Höhe von 10 v.H. im Sinne eines Stützrententatbestandes zu gewähren.


Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Mit Beschluss vom 09.10.2023 ist die Berufung gemäß § 153 Abs. 5 SGG dem Vorsitzenden Richter übertragen worden, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.


Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte, nach § 151 SGG form- und fristgerecht erhobene sowie auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens sind neben dem Gerichtsbescheid des SG vom 03.04.2023 die beiden Bescheide der Beklagten vom 08.02.2022 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 10.03.2022, mit denen die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente wegen der Arbeitsunfälle vom 09.04.2023 und vom 05.12.1986 abgelehnt hat.

Statthafte Klageart für das klägerische Begehren ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2020 - B 2 U 2/18 R - juris, Rn. 9). Der Höhe nach legt der Senat das Begehren dahingehend aus, dass es auf die Gewährung einer Verletztenrente nach jeweils einer MdE um 10 v.H. gerichtet ist. Dies ergibt sich zum einen aus dem Umstand, dass der Kläger sinngemäß zu erkennen gibt, dass seine Beschwerden eine MdE um insgesamt 20 begründen. Zum anderen spricht auch die von ihm verwendete Begrifflichkeit der „Stützrente“ für eine MdE um jeweils 10 v.H.

Das so verstandene Klagebegehren ist zulässig, aber unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Anspruchsgrundlage für die Gewährung der begehrten Verletztenrenten ist § 56 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 SGB VII. Hiernach haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vom Hundert gemindert ist, Anspruch auf eine Rente (Satz 1). Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (Satz 2). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v.H. mindern (Satz 3).

Die Unfälle des zu diesem Zeitpunkt bei der Beklagten versicherten Klägers, die dieser während der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit und damit infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erlitten hat, stellen Arbeitsunfälle im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB VII dar. Dies hat die Beklagte auch in den Bescheiden vom 08.02.2022 jedenfalls konkludent anerkannt, wenngleich es jedenfalls für das letztgenannte Unfallereignis außer den Angaben des Klägers keine objektiven Anhaltspunkte gibt, die auf einen betrieblichen Bezug hinweisen würden.

Keines der Unfallereignisse vom 09.04.1983 und vom 05.12.1986 hat Gesundheitsstörungen zur Folge, die spezifisch durch den Gesundheitserstschaden des Arbeitsunfalls verursacht wurden und eine MdE um 10 v.H. oder mehr begründen würden.

Eine Gesundheitsstörung ist Unfallfolge eines Versicherungsfalls im Sinne des § 8 SGB VII (im engeren Sinne), wenn sie gerade durch den Gesundheitserstschaden des Arbeitsunfalls wesentlich verursacht worden ist. Der Anspruch setzt grundsätzlich das „objektive“, d.h. aus der nachträglichen Sicht eines optimalen Beobachters, Vorliegen eines Gesundheitserstschadens voraus (BSG, Urteil vom 06.09.2018 - B 2 U 16/17 R -, juris Rn. 14). Ob ein Gesundheitsschaden dem Gesundheitserstschaden des Arbeitsunfalls als Unfallfolge im engeren Sinne zuzurechnen ist (sog. haftungsausfüllende Kausalität), beurteilt sich nach der Zurechnungslehre der wesentlichen Bedingung (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.2009 - B 2 U 18/07 R -, juris Rn. 12; BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R -, juris Rn. 12 ff.). Danach erfolgt die Zurechnung in zwei Schritten: Erstens ist die Verursachung der weiteren Schädigung durch den Gesundheitserstschaden im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne festzustellen. Nach ihr ist eine Bedingung dann notwendige Ursache einer Wirkung, wenn sie aus dem konkret vorliegenden Geschehensablauf nach dem jeweiligen Stand der einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse (Erfahrungssätze) nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele. Ist der Gesundheitserstschaden in diesem Sinne eine notwendige Bedingung des weiteren Gesundheitsschadens, wird dieser ihm aber nur dann zugerechnet, wenn er ihn rechtlich wesentlich (ausreichend: mit-) verursacht hat (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.2015 - B 2 U 8/14 R -, juris Rn. 20 m.w.N.).

In Anlegung dieser Maßstäbe liegen beim Kläger folgende durch den Gesundheitserstschaden wesentlich verursachte Unfallfolgen vor:

Als Erstschaden des Unfalls vom 09.04.1983 nachgewiesen ist ein Distorsionstrauma des linken Kniegelenks mit posttraumatischem Hämarthros (Gelenkserguss). Weitergehende, insbesondere knöcherne Verletzungen des linken Kniegelenks oder aber des rechten Kniegelenks sind nicht nachgewiesen. Weder in den Röntgenaufnahmen des D-Arztes A1 vom 12.04.1983 noch bei der Röntgenkontrolle im M1 O1 vom 16.05.1983 wurden knöcherne Verletzungen am linken Kniegelenk festgestellt – und erst Recht nicht am rechten Kniegelenk, bei welchem in den unfallnahen medizinischen Unterlagen überhaupt keine Verletzungen dokumentiert sind.
Der vom Kläger als unfallbedingt angegebene Trümmerbruch beider Kniescheiben wird auch nicht durch die Röntgenaufnahmen nach dem Unfall vom 04.10.2000 bestätigt. Im Bericht über die radiologische Untersuchung von B1 vom 01.12.2021 wird lediglich „anamnestisch“, also nach den Angaben des Klägers von einem Zustand nach Patellafrakturen beidseits berichtet, allerdings waren bei der radiologischen Untersuchung keine Frakturresiduen oder Stufenbildungen, die auf eine solche Verletzung hätten hinweisen können, erkennbar.
Zudem hat zuletzt O2 in seinem Gutachten auf Divergenzen zwischen den Unfallschilderungen des Klägers und den objektivierbaren Befunden und Diagnosen hingewiesen.
Ausgehend von dem einzigen objektivierbaren Gesundheitserstschaden konnte O2 keine Gesundheitsstörungen feststellen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis vom 09.04.1983 zurückzuführen sind. Im Rahmen seiner Untersuchung stellte er im Bereich der Knie einen alterstypischen und damit nicht auf das Unfallereignis zurückzuführenden, seitengleich ausgebildeten Zustand im Sinne einer diskreten medial und retropatellar betonten beidseitigen Gonarthrose des Schweregrad Kellgren II fest. Die Beweglichkeit der Knie war seitengleich, die Bänder ebenfalls seitengleich stabil. Sowohl die Muskelummantelung als auch die Fußsohlenbeschwielung war symmetrisch. Die Narbenbildungen belegten zwar stattgehabte operative Interventionen, es sei jedoch nicht mehr zweifelsfrei zu eruieren, wann, wo und warum diese durchgeführt worden seien. Sie bedingten aber per se keine funktionellen Einschränkungen. Der im Vollbeweis zu sichernde Körperfolgeschaden liege somit nicht vor und damit keine MdE. Dem schließt sich der Senat an. Dass keine funktionellen Einschränkungen verblieben sind, ergibt sich, worauf der Senat ergänzend hinweist, im Übrigen auch aus den eigenen Angaben bei der Begutachtung durch M3 vom 23.05.2005 wegen des Arbeitsunfalls von 2000. Hiernach habe der Kläger angegeben, dass die Folgen der früheren Arbeitsunfälle – darunter auch der Sturz vom Bagger – mit Ausnahme von Bewegungseinschränkungen und Konfrakturen im linken Mittelfinger folgenlos abgeheilt seien. Schließlich sind sowohl nach den von S2 u.a. als auch den von O2 erhobenen Bewegungsmaßen der Kniegelenke keine funktionellen Einschränkungen erkennbar. Beides Mal lag die Beweglichkeit bei Streckung/Beugung seitengleich im Normalbereich bei 0-0-130 Grad.

Hinsichtlich des Unfallereignisses vom 05.12.198 fehlt es schon an jeglichem objektivierbaren Nachweis für einen Erstschaden. Der Kläger hat eine Stichverletzung mit Weichteilverletzungen beschrieben, objektive, insbesondere zeitlich unfallnahe Befunde hierfür in Form von Arztberichten etc. sind aber nicht (mehr) vorhanden. O2 hat zwar in Übereinstimmung mit dem urkundsbeweislich verwertbaren Vorgutachten von S2 u.a. im Bereich der linken Hand Gesundheitsstörungen festgestellt: Bewegungseinschränkung des Mittelfingers links mit Unfähigkeit der aktiven Beweglichkeit des Fingerendgelenkes bei offensichtlich stattgehabter Konturunterbrechung der tiefen Beugesehne des Mittelfingers sowie Bewegungseinschränkung des Fingermittelgelenkes, Narbenbildungen im Bereich der Hohlhand links und dem beugeseitigen Mittelfinger links sowie Kraftminderung der Beugefähigkeit des linken Mittelfingers. Allerdings lassen sich keine objektiven Anhaltspunkte dafür feststellen oder noch ermitteln, dass diese Einschränkungen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne kausal auf ein knapp 40 Jahr zurückliegendes versichertes Unfallereignis zurückzuführen sein sollen. Dies hat auch der Sachverständige O2 offengelassen – und dies auch offenlassen können. Denn der erkennende Senat teilt dessen Einschätzung
und die von S2 u.a. im Gutachten vom 02.12.2021, dass die festgestellten Beeinträchtigungen keine MdE von 10 v.H. oder mehr begründen. Dies ergibt sich auch aus der unfallmedizinischen Fachliteratur:

Gem. § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII richtet sich die MdE nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Die Bemessung der MdE hängt damit zum einen von den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und zum anderen von dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten ab. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten (vgl. BSG, Urteil vom 22.06.2004 - B 2 U 14/03 R - juris, mwN; BSG, Urteil vom 20.12.2016 - B 2 U 11/15 R - juris, Rn. 14). Bei der Bestimmung der MdE kann auf die MdE-Tabellen zurückgegriffen werden (zur Zulässigkeit siehe BSG, Urteil vom 20.12.2016 - B 2 U 11/15 R - juris, Rn. 17). MdE-Tabellen bezeichnen typisierend das Ausmaß der durch eine körperliche, geistige oder seelische Funktionsbeeinträchtigung hervorgerufenen Leistungseinschränkungen in Bezug auf das gesamte Erwerbsleben und ordnen körperliche oder geistige Funktionseinschränkungen einem Tabellenwert zu. Die in den Tabellen und Empfehlungen enthaltenen Richtwerte geben damit auch allgemeine Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit aufgrund des Umfangs der den Verletzten versperrten Arbeitsmöglichkeiten wieder und gewährleisten, dass die Verletzten bei der medizinischen Begutachtung nach einheitlichen Kriterien beurteilt werden (vgl. BSG, Urteil vom 20.12.2016 - B 2 U 11/15 R - juris, Rn. 19 m.w.N.).

Für den Verlust der Endglieder von Zeige-, Mittel- und Ringfinger derselben Hand sehen die Tabellenwerte nach Ablauf von 12 Monaten eine MdE um 10 v.H. vor (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 609, Abb.3.30). Gleiches gilt für den Verlust der Endglieder von Zeige- und Ringfinger derselben Hand. Auch hier sehen die Tabellenwerte eine MdE um 10 v.H. vor (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 609, Abb.2.24). Den Werten liegt die Annahme zugrunde, dass die Amputationsstümpfe der betroffenen Finger gut einsetzbar sind, Durchblutungs- und Sensibilitätsstörungen sowie Neurome nicht vorliegen und vorhandene Gelenke der teilamputierten Finger sowie nicht betroffene Nachbarfinger frei in der Bewegung sind (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 604).
Im Vergleich hierzu ist der Kläger vorliegend mit den vorhandenen Einschränkungen (Bewegungseinschränkung des Mittelfingers links mit Unfähigkeit der aktiven Beweglichkeit des Fingerendgelenkes sowie Bewegungseinschränkung des Fingermittelgelenkes, sowie Kraftminderung der Beugefähigkeit des linken Mittelfingers) deutlich bessergestellt. Die durch diesen Gesundheitserstschaden verursachten Unfallfolgen begründen eine MdE von unter 10 v.H.

Andere funktionelle Einschränkungen sind ebenfalls nicht erkennbar. Nach den Feststellungen von S2 u.a. war der Faustschluss beidseits kräftig mit Kraftgrad 5/5 n. Janda. Soweit sich der Kläger demgegenüber auf abweichende Feststellungen im Gutachten von S3 vom 23.04.2021 beruft (Kraftentfaltung beim Faustschluss bei Rechtshängigkeit am Dynamometer rechts 56 kp, links 18 kp), lässt er unerwähnt, dass S3 hierzu ausgeführt hat, dass die Kraftminderung am linken Arm in Anbetracht der symmetrischen Arbeitsspuren und des regelrechten Gebrauchs wie der der normalen Funktion der Unterarm- und Handbinnenmuskulatur nicht erklärlich ist. Der Funktionsverlust des Mittelfingers könne dies nicht erklären.

Sonstige Unfallfolgen sind weder in Bezug auf den Unfall vom 09.04.1983 noch in Bezug auf den vom 05.12.1986 nachgewiesen. Insbesondere vermag der Senat nicht festzustellen, dass der Kläger infolge dieser Unfälle unter MdE-relevanten psychischen Gesundheitsstörungen leidet. Soweit er vorgetragen hat, infolge der Unfälle auch psychisch beeinträchtigt zu sein, werden unfallbedingte relevante psychische Gesundheitsstörungen weder durch die dem Senat vorliegenden Gutachten, noch durch die vielzähligen ärztlichen Berichte belegt. Auch hat der Kläger nicht vorgetragen, sich wegen psychischer Unfallfolgen in psychiatrischer oder psychologischer Behandlung zu befinden. Bei dieser Tatsachengrundlage hat sich der Senat nicht zu weiteren Ermittlungen veranlasst gesehen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Nr. 1 und 2 SGG).




 

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