L 11 KR 579/24 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 2 KR 60/24 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 579/24 ER-B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Die Annahme eines schwerwiegenden, nicht anders abwendbaren Nachteils setzt - soweit dies mit einer wirtschaftlichen Notlage begründet wird - voraus dass unter Würdigung der wirtschaftlichen Gesamtlage eines Unternehmens die drohende Aufgabe bzw. eine wirtschaftliche Existenzgefährdung des Unternehmens glaubhaft gemacht wird. Die Existenzgefährdung muss das eigene Unternehmen betreffen. Eine Gefährdung eines Kooperationspartners reicht nicht aus. 2. Sog. digitale Gesundheitsanwendungen im Sinne des § 33a Abs. 1 SGB V sind Medizinprodukte, deren Hauptfunktion auf digitalen Technologien beruht, wobei diese nicht lediglich der Ergänzung oder Steuerung anderer Medizinprodukte dienen dürfen. Daran bestehen Zweifel im Hinblick auf eine App, die im Wesentlichen der regelmäßigen, korrekten und selbstständigen Durchführung der Anwendung eines TENS-Geräts dient.

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 16.01.2024 wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.


Gründe


I.

Die Antragstellerin macht im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Aufnahme einer digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA) gemäß § 139e Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in das Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendungen geltend.

Die Antragstellerin ist eine GmbH mit Sitz in B1, die die Software „tiNa-start“ herstellt (Hersteller gemäß der Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte). Sie hat mit der P1 GmbH einen Rahmenvertrag über ihre Zusammenarbeit bei der Entwicklung und dem Betrieb der „tiNa-start“ App geschlossen. Danach ist die P1 GmbH Eigentümer sämtlicher Rechte an „tiNa-start“ und für deren Entwicklung und Vertrieb verantwortlich. Bei der Software „tiNa-start“ handelt es sich um einen digitalen Therapiebegleiter für Schmerzpatienten, die ein Gerät zur transkutanen elektrischen Nervenstimulation (TENS) zur Selbstbehandlung erhalten. Die Applikation beinhaltet Funktionen für Patienten zur Selbstüberwachung des Therapieverlaufs und Funktionen zur Therapieunterstützung, soll zur Steigerung der Lebensqualität beitragen und die Therapietreue sowie die Patientensouveränität stärken (vgl. Steckbrief zur DiGA Bl. 10 Verwaltungsakte). Sie ist seit dem 10.03.2023 im Informationssystem über Medizinprodukte DMIDS beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte registriert.

Mit Datum vom 11.08.2023, vervollständigt am 01.09.2023, beantragte die Antragstellerin beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Aufnahme von „tiNa-start“ in das DiGA-Verzeichnis für zwölf Monate zur Erprobung gemäß § 139e Abs. 4 SGB V. Das BfArM wies mit Schreiben vom 02.11.2023 auf aus seiner Sicht inhaltliche Mängel am Produkt und an der systematischen Datenauswertung hin. Insbesondere äußerte es Bedenken im Hinblick auf die Erfüllung der Definition einer DiGA, da die digitale Hauptfunktion ausschließlich auf die korrekte Anwendung des TENS -Geräts ausgelegt sei und die App ohne gleichzeitige Nutzung eines solchen nicht sinnvoll verwendet werden könne. Anschließende Stellungnahmen seitens der Antragstellerin und ein Gespräch am 04.12.2023 konnten diese Bedenken nicht ausräumen.

Mit Bescheid vom 28.12.2023 (Bl. 1115 Verwaltungsakte) lehnte das BfArM die Aufnahme von „tiNa-start“ zur Erprobung in das DiGA-Verzeichnis ab. Die Anwendung erfülle nicht die Definition einer DiGA gemäß § 33a SGB V i.V.m. dem Leitfaden des BfArM „Das Fast Track Verfahren für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) nach § 139e SGB V“. Gemäß § 33a Abs. 1 SGB V müssten DiGA dazu bestimmt sein, bei den Versicherten die Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten zu unterstützen. Gemäß dem DiGA-Leitfaden sei eine DiGA keine digitale Anwendung, die lediglich dem Auslesen oder Steuern eines Gerätes diene: Der medizinische Zweck müsse wesentlich durch die digitale Hauptfunktion der DiGA selbst erreicht werden. Vorliegend handle es sich bei „tiNa-start“ um ein interaktives Programm zur Nutzeranleitung eines möglichst optimalen Gebrauchs von TENS-Geräten. Der medizinische Zweck, die eigentliche Schmerzbehandlung und damit Unterstützung der Therapie der Zielpopulation gemäß § 33a SGB V, solle vorliegend durch das TENS -Gerät erreicht werden. Sämtliche Funktionen der vorliegenden App zielten auf die regelmäßige, korrekte und selbstständige Durchführung der Anwendung des jeweiligen TENS -Gerätes und auf die optimierte Umsetzung ab. Dementsprechend sei keine Hauptfunktion erkennbar, die der direkten Behandlung der angegebenen Krankheitsdiagnosen diene. Ohne gleichzeitige Nutzung eines TENS -Gerätes sei die vorliegende App nicht sinnvoll anzuwenden. Außerdem sei die systematische Datenauswertung, die vom Hersteller zur Begründung der Versorgungsverbesserung vorgelegt worden sei, nicht plausibel, um einen positiven Versorgungseffekt im Rahmen der Erprobung nachzuweisen.

Hiergegen legte die Antragstellerin mit Schreiben vom 02.01.2024 Widerspruch ein. Über diesen ist noch nicht entschieden.

Am 04.01.2024 hat sich die Antragstellerin mit ihrem Begehren auf einstweiligen Rechtsschutz an das Sozialgericht Freiburg (SG) gewandt. Die Definition einer DiGA sei erfüllt. Der Definitionsbereich sei weit, was auch erklärtes Ziel des Gesetzgebers sei, um dem neuen Markt entsprechende Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen. Nach dem Willen des Gesetzgebers seien nur solche digitalen Technologien ausgeschlossen, die lediglich der Ergänzung und Steuerung anderer Medizinprodukte dienten. Entsprechend heiße es im DiGA-Leitfaden des BfArM, dass die DiGA keine digitale Anwendung sei, die lediglich dem Auslesen oder Steuern eines Gerätes diene; der medizinische Zweck müsse wesentlich durch die digitale Hauptfunktion erreicht werden. Bei „tiNa-start“ handle es sich nicht um eine Steuerungssoftware für ein TENS -Gerät, sondern um eine „Standalone“-Software mit eigenem therapieunterstützenden Ansatz. Sie sei darauf ausgelegt, eine Verbesserung der Adhärenz zur Schmerztherapie mit TENS herbeizuführen. Die Adhärenz-Steigerung sei in § 8 Abs. 3 Nr. 3 der Verordnung über das Verfahren und die Anforderungen zur Prüfung der Erstattungsfähigkeit digitaler Gesundheitsanwendungen in der gesetzlichen Krankenversicherung (Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung - DiGAV) als zulässiger positiver Versorgungseffekt definiert. Entscheidend sei, ob die DiGA eine Eigenständigkeit im Hinblick auf die Therapiebegleitung erfahre. Dies sei vorliegend der Fall. Im DiGA-Leitfaden des BfArM sei mit der „Unterstützungs-DiGA für Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose“ eine mit „tiNa-start“ vergleichbare DiGA aufgeführt. Auch liege eine systematische Datenauswertung (SDA) im Sinne des § 14 DiGAV vor. Insofern genüge entweder ein medizinischer Nutzen oder eine patientenrelevante Verbesserung in der Versorgung. Die Adhärenz als positiver Versorgungsaffekt sei vom BfArM bereits bestätigt worden, ein medizinischer Nutzen könne darüber hinaus nicht verlangt werden. Die SDA zeige im Hinblick auf die Adhärenz einen deutlichen Vorteil der Interventionsgruppe gegenüber der Kontrollgruppe. Die Angelegenheit sei auch eilbedürftig, da der Nichterlass der begehrten einstweiligen Anordnung zur Folge hätte, dass die mit dem Projekt „tiNa-start“ betrauten neun Mitarbeiter nicht mehr beschäftigt werden könnten. Auch die Teams externer Leistungsanbieter aus den Bereichen Programmierung und Zertifizierung könnten nicht mehr vorgehalten werden. Es könne dann nicht mehr sichergestellt werden, dass „tiNa-start“ am Markt angeboten werden könne, die hohen Entwicklungskosten i.H.v. ca. 7 Mio. € wären vergeblich aufgewendet worden. Die Nichtaufnahme führe zu erheblichen finanziellen Einbußen, da die Antragstellerin auf den Selbstzahlermarkt angewiesen wäre. Ein Abwarten auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens scheine vor diesem Hintergrund unzumutbar.

Die Antragsgegnerin ist dem Antrag entgegengetreten. Weder Anordnungsanspruch noch Anordnungsgrund seien gegeben. Die Entscheidung über die vorläufige Aufnahme erfolge bezugnehmend auf § 17 Abs. 1 Satz 1 DiGAV auf Grundlage der systematischen Datenauswertung sowie des wissenschaftlichen Evaluationskonzepts. Alle Anforderungen der DiGAV müssten erfüllt sein. Vorliegend sei wesentlicher Versagungsgrund die fehlende DiGA-Eigenschaft des streitgegenständlichen Produkts gewesen. Es handle sich dabei um eine Kombination von Software mit Hardware. Eine solche sei dann zulässig, wenn u.a. die Hauptfunktion eine digitale sei. Dies sei hier nicht der Fall, die Hauptfunktion der Kombination liege beim TENS -Gerät selbst. Dieses leiste den überwiegenden Beitrag zur Krankenbehandlung. Die Hauptfunktion von „tiNa-start“ liege in der Ergänzung eines anderen Medizinprodukts, nämlich des TENS -Geräts. Sämtliche Hauptfunktionen des streitgegenständlichen Produkts seien auf die Anwendung des TENS -Geräts bezogen. Auch sei die vorgelegte Begründung zur Versorgungsverbesserung nicht plausibel. Eine wie auch immer messbar gemachte Form der Adhärenzsteigerung stelle nach dem DiGA-Report (S. 11) erst dann einen tatsächlichen Nutzen für Patientinnen und Patienten dar, wenn sie sich auch in messbaren Verbesserungen ihrer relevanten Krankheitsparameter äußere. Erforderlich sei daher eine erkennbare Tendenz hinsichtlich der Verbesserung der Symptomatik, was hier im Rahmen der systematischen Datenauswertung nicht aufgezeigt worden sei. Ein Anordnungsgrund liege nicht vor. Die vorgetragenen Belastungen seien zumutbar und Eilbedürftigkeit nicht gegeben. Der beschriebene wesentliche Nachteil bestehe in den wirtschaftlichen Folgen, die sich durch die aktuelle rechtliche Situation eines versagenden Bescheides ergäben, bei welchem die rechtliche Position erst erlangt werden müsse. Die wirtschaftlichen Folgen des Investments der Antragstellerin könnten nicht auf die Beitragszahler der gesetzlichen Krankenkasse umgewälzt werden. Es sei nicht unzumutbar, das streitgegenständliche Produkt auf dem Selbstzahlermarkt zu belassen und dort wirtschaftliche Erfolge zu erzielen.

Das SG hat den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes mit Beschluss vom 16.01.2024 abgelehnt. Einstweilige Anordnungen seien zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheine (Regelungsanordnung), § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Ein solcher Nachteil sei nur anzunehmen, wenn einerseits dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner ein materiell-rechtlicher Leistungsanspruch in der Hauptsache zustehe (Anordnungsanspruch) und es ihm andererseits nicht zuzumuten sei, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Aus der Verweisung in § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG auf § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) folge die Obliegenheit des Antragstellers, das Vorliegen eines Anordnungsanspruches und eines Anordnungsgrundes glaubhaft zu machen. Unter Berücksichtigung des Vorbringens der Antragstellerin habe sich die Kammer bereits nicht vom Vorliegen eines Anordnungsgrundes zu überzeugen vermocht. Der für den Erlass einer einstweilen Anordnung erforderliche Anordnungsgrund setze voraus, dass ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache für den Antragsteller mit einer dringlichen Notlage verbunden sei, die eine sofortige Entscheidung erfordere. Ein Anordnungsgrund sei diesbezüglich nur glaubhaft gemacht, wenn überwiegend wahrscheinlich sei, dass dem Antragsteller bei einem Abwarten des Ausgangs des Hauptsacheverfahrens unzumutbare Nachteile entstünden. Gehe es - wie vorliegend - um die wirtschaftlichen Folgen einer angefochtenen Regelung, dann liege ein ausreichender Anordnungsgrund in der Regel nur vor, wenn der Antragsteller konkret in seiner wirtschaftlichen Existenz bedroht sei. Dies gelte umso mehr, wenn durch den Antragsteller mit dem Antrag nach § 86b Abs. 2 SGG eine Vorwegnahme der Hauptsache angestrebt werde, wie das vorliegend jedenfalls hinsichtlich des Hauptantrags der Fall sei. Die von der Antragstellerin beantragte Aufnahme von „tiNa-start“ in das DiGA-Verzeichnis zur Erprobung für zwölf Monate richte sich im Ergebnis auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, die erhöhte Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes bedinge. Die begehrte Verpflichtung des Antragsgegners würde mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass dem Ergebnis des Hauptsacheverfahrens keine Bedeutung mehr zukomme. Aufgrund der Komplexität der zu klärenden Fragen und des Umstands, dass noch nicht einmal das Widerspruchsverfahren abgeschlossen sei, sei eine Entscheidung in der Hauptsache nicht vor Ablauf von zwölf Monaten zu erwarten. Die damit einhergehende Vorwegnahme der Hauptsache erfordere, dass die Eilbedürftigkeit seitens der Antragstellerin in hohem Maße glaubhaft gemacht werden müsse. Dem werde das Vorbringen der Antragstellerin nicht gerecht. Sie habe insofern geltend gemacht, dass ohne die Aufnahme des streitgegenständlichen Produkts in das DiGA-Verzeichnis die mit dem Projekt „tiNa-start“ betrauten neun Mitarbeiter nicht mehr beschäftigt werden könnten. Auch die Teams externer Leistungsanbieter aus den Bereichen Programmierung und Zertifizierung könnten nicht mehr vorgehalten werden. Es könne dann nicht mehr sichergestellt werden, dass „tiNa-start“ am Markt angeboten werden könne, die hohen Entwicklungskosten i.H.v. ca. 7 Mio. € wären vergeblich aufgewendet worden. Die Nichtaufnahme führe zu erheblichen finanziellen Einbußen, da die Antragstellerin auf den Selbstzahlermarkt angewiesen wäre. Damit habe die Antragstellerin die erforderliche Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Existenz schon gar nicht geltend gemacht. Im Übrigen erschöpfe sich ihr Vortrag in bloßen Behauptungen, die weder substantiiert noch in irgendeiner Weise belegt worden seien. So bleibe völlig offen, welcher Umsatz bei Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis prognostiziert und wie hoch der auf dem Selbstzahlermarkt generierte Umsatz sei bzw. prognostiziert werde. Es könne daher vom Gericht nicht nachvollzogen werden, wie hoch die finanziellen Nachteile für die Antragstellerin seien und wie sich diese auf ihre wirtschaftliche Situation insgesamt auswirkten. Auch könne das Gericht aus dem Vortrag der Antragstellerin keine Schlüsse ziehen, wie sich der Nichterlass der begehrten einstweiligen Anordnung auf die Beschäftigungsverhältnisse der mit dem Projekt betrauten Mitarbeiter auswirke. Ob diesen Mitarbeitern dann tatsächlich gekündigt werden müsste und könnte, bleibe völlig offen. Hierzu fehlten nähere Informationen, bspw. über deren Arbeitsverträge. Dass, wie die Antragstellerin behaupte, nicht mehr sichergestellt werden könne, dass „tiNa-start“ am Markt angeboten werden könne, lasse sich für die Kammer mangels näherer Darlegungen ebenfalls nicht nachvollziehen. Soweit die Antragstellerin vortrage, die Entwicklungskosten i.H.v. rund 7 Mio. € wären dann vergeblich aufgewendet worden, fehle es schon an der Glaubhaftmachung der Höhe der Entwicklungskosten. Hierüber seien keinerlei Belege eingereicht worden. Darüber hinaus sei in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin die Anwendung auf dem Selbstzahlermarkt anbieten könne. Dass sich dies allein - ohne die Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis - wirtschaftlich nicht lohnen würde, sei weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich. Es könne vom Gericht daher anhand der vorliegenden Informationen nicht nachvollzogen werden, dass ohne die begehrte einstweilige Anordnung die Entwicklungskosten tatsächlich vergeblich aufgewendet worden wären. Im Hinblick auf den Hilfsantrag sei der Anordnungsgrund ebenfalls nicht glaubhaft gemacht worden. Hierbei handle es sich zwar nicht um eine Vorwegnahme der Hauptsache, sodass keine erhöhten Anforderungen zu stellen seien. Da die erforderliche Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz gar nicht erst behauptet werde und angesichts des völligen Fehlens der Glaubhaftmachung des Vortrags der Antragstellerin, seien jedoch auch die im Übrigen geltenden Anforderungen an die Glaubhaftmachung nicht erfüllt.

Hiergegen hat die Antragstellerin am 16.02.2024 Beschwerde beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg erhoben und zur Glaubhaftmachung ihrer wirtschaftlichen Notlage eine eidesstattliche Versicherung des Geschäftsführers der P1 GmbH sowie Anlagen zu Entwicklungskosten und Umsatzplanung vorgelegt. Die P1 GmbH verfolge in Kooperation mit der Antragstellerin das Projekt „tiNa-start“ und übernehme als Auftraggeber die wirtschaftlichen Risiken des Projektes. Die P1 GmbH befinde sich durch die Ablehnung des Antrages auf vorläufige Aufnahme der Anwendung „tiNa-start“ in das DiGA-Verzeichnis in erheblichen finanziellen Schwierigkeiten. Im Vertrauen auf den DiGA-Leitfaden, die Musterbeispiele und den in den Beratungsgesprächen erweckten Eindruck habe die P1 GmbH einen Betrag von über 6 Mio. € in die Entwicklung investiert. Nachdem die Ablehnung der vorläufigen Aufnahme im DiGA-Verzeichnis ausgesprochen worden sei, seien für das Jahr 2024 eingeplante Umsätze von über 3 Mio. € nicht realisierbar. Diese Summe ergebe sich aus den für DiGA marktüblichen Preisen sowie den Erwartungszahlen der Vertriebspartner für Patienten mit den für die „tiNa-start“ zugelassenen Indikationen. Aufgrund dieser ausbleibenden Umsätze sei die P2 GmbH nicht ohne weiteres in der Lage ihre Verbindlichkeiten ohne finanzielle Stützung bedienen zu können und erzeuge eine Bestandsgefährdung eines über 40 Jahre alten Betriebes mit 23 Mitarbeitern. Auch erfülle die „tiNa-start“ App die Definition einer DiGA. Es sei nicht zutreffend, dass sämtliche Funktionen der App auf die regelmäßige, korrekte und selbständige Durchführung der Anwendung des jeweiligen TENS-Gerätes abzielten. Neben dem Fokus der TENS -Adhärenzsteigerung enthalte „tiNa-start“ Module, die für Schmerzpatienten zusätzlich positive Beiträge zur Schmerzbekämpfung beinhalteten: Mentales Training, Meditation und Entspannung, Selbstüberwachung und Edukationsprogramme. Die „tiNa-start“ Anwendung enthalte folgende Funktionalitäten: Messung von Schmerzparametern, Messung der Lebensqualität bzgl. der Funktionalität,  Messung des Wohlbefindens nach einer TENS -Anwendung und des täglichen Gesundheitszustandes, Selbstüberwachung des Therapiefortschritts mit über zehn Parametern und hochinformativen täglichen, wöchentlichen und gesamthaften Grafiken, hochinformativer grafischer Datenbericht für Patient und Arzt mit allen erfassten Werten, mentales Training zusätzlich zur physiologischen TENS -Therapie mit separatem Export des Ereignistagebuchs zur Bewusstmachung, dass es trotz der Schmerzen auch positive Ereignisse im Leben gebe, Meditation/Entspannung zusätzlich zur physiologischen TENS -Therapie, umfangreiches Edukationsprogramm, 60 Quizfragen und -antworten zu den 15 Lernvideos zur Vertiefung und Verankerung des Wissens aus den Lernvideos über den gesamten Therapiezeitraum von 90 Tagen, 45 häufig gestellte Fragen und Antworten zu Schmerztypen, Schmerzbehandlung, Datenschutz, TENS -Anwendung usw., sowie direkte Kontaktmöglichkeit zu einer Hotline für die direkte Unterstützung der Patienten, Onboarding mit detaillierter Anleitung zur korrekten erstmaligen Durchführung einer TENS -Behandlung inkl. vielen Tipps, sechsstufiges Therapiekonzept, das entsprechend dem individuellen Fortschritt Algorithmus-basiert Anweisungen für bestimmte Aktivitäten erteile, automatische Erstellung des digitalen Therapieplans auf Basis eines Therapiecodes, den der Arzt mitteile, automatisch per Algorithmus ermittelte konkrete Empfehlungen zur Anpassung des Verhaltens im Rahmen der TENS-Therapie, automatische Erinnerungen gemäß Therapieplan und umfangreiches Motivationsprogramm zur kontinuierlichen Nutzung der App und Steigerung der Adhärenz. Andere bereits aufgenommene DiGA, wie z.B. „Selfapy - Online-Kurs bei chronischen Schmerzen“ - enthielten nur einen Teil der vorgenannten Funktionalitäten. Der positive Versorgungseffekt einer DiGA könne gemäß § 139e Abs. 2 SGB V entweder in einem medizinischen Nutzen oder in einer patientenrelevanten Struktur- und Verfahrensverbesserung in der Versorgung bestehen. In § 9 Abs. 3 Nr. 3 DiGA-V sei die Therapie-Adhärenz explizit genannt. Aus dieser Erwägung entspringe denklogisch der Rückschluss, dass eine DiGA als Ergänzung zu einer Krankenbehandlung eingesetzt werden könne. Eine DiGA müsse nicht zwingend auch unabhängig von einer bestehenden Grundtherapie funktionieren. Vielmehr könne diese auch (rein) therapieergänzend eingesetzt werden und eine wichtige Funktion in einem integrierten Therapiekonzept einnehmen. Dies sei eindeutig im Gesetz angelegt, das bewusst eine offene Konzeption von DiGA formuliert habe und mit den patientenrelevanten Struktur- und Verfahrensverbesserungen ganz neue Versorgungseffekte und damit auch Ziele einer digitalen Versorgung eingeführt habe. Selbstverständlich verbleibe es bei der Erfüllung des Kriteriums der digitalen Hauptfunktion, wenn die patientenrelevanten Struktur- und Verfahrensverbesserungen darin lägen, dass der Patient durch die digitale Anwendung - bspw. durch eine Verbesserung der Koordination der Behandlungsabläufe (§ 9 Abs. 3 Nr. 1 DiGA-V), der Adhärenz (§ 9 Abs. 3 Nr. 3 DiGA-V) oder einer Reduzierung der therapiebedingten Aufwände und Belastungen der Patienten und ihrer Angehörigen (§ 9 Abs. 3 Nr. 9 DiGA-V) - eine Verbesserung der Krankenbehandlung erreiche, die auch in der Anwendung eines Hilfsmittels bestehen könne. Einem reinen Softwareprodukt wohne denklogisch inne, dass es eine digitale Hauptfunktion besitze. Der Wortlaut der Definition sei entwicklungsoffen und weitgehend technikneutral. Er solle auch „andere auf digitalen Technologien basierende Medizinprodukte“ erfassen und lasse damit Raum für die Annahme, dass über reine Softwareanwendungen hinaus auch DiGA denkbar seien, die in einer Hauptfunktion unwesentlich oder in einer Nebenfunktion wesentlich oder unwesentlich nicht auf digitalen Technologien beruhten. Die Anwendung „tiNa-start“ sei auch keine (reine) Steuersoftware von TENS -Geräten, sondern habe einen eigenständigen technischen, funktionalen und therapeutischen Ansatz, wie die Schmerztherapie im Zusammenhang mit der Anwendung von TENS -Geräten verbessert werden könne. Es sei eine Gesetzesänderung geplant, wonach § 33a Abs. 1 SGB V folgender Satz angefügt werden solle: „Nicht von dem Anspruch umfasst sind Medizinprodukte, die der Steuerung von aktiven therapeutischen Produkten dienen, digitale Gesundheitsanwendungen, die zur Verwendung mit einem bestimmten Hilfsmittel oder Arzneimittel bestimmt sind sowie allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens.“ Hierdurch wolle der Gesetzgeber sog. Lock-in-Effekte vermeiden. Es solle unzulässig sein, dass eine digitale Gesundheitsanwendung lediglich in der Art und Weise konzipiert werde, dass diese nur zur Begleitung einer Therapie mit einem bestimmten Arzneimittel oder Hilfsmittel geeignet sei. Im Umkehrschluss ergebe sich aus diesen (klarstellenden) Neuregelungen, dass DiGA so konzipiert werden könnten, dass sie (interoperabel) mit marktgängigen Hilfsmitteln verwendet werden könnten. Der Gesetzgeber sehe somit DiGA, die wie die vorliegende App „tiNa-start“ ergänzend zu Hilfsmitteln konzipiert seien, ausdrücklich als zulässig an. Insoweit werde auch nicht in Frage gestellt, dass eine solche DiGA über keine digitale Hauptfunktion verfüge. Ausgeschlossen würden lediglich solche Produkte, die der Steuerung von aktiven therapeutischen Produkten dienten, was hier nicht der Fall sei. Auch seien die Ergebnisse einer systematischen Datenauswertung zur Nutzung der DiGA vorgelegt worden. Die „tiNa-start“ App sei primär dafür entwickelt worden, die Adhärenz zur TENS -Therapie zu erhöhen, da festgestellt worden sei, dass die Adhärenz bei Patienten mit chronischen Schmerzen sehr schlecht sei. Die in dieser Studie nachgewiesene signifikant verbesserte Adhärenz von etwa 16 % bei Patienten, die „tiNa-start“ verwendeten im Vergleich zur Standardbehandlung, sei klinisch relevant. Dies allein betrachtet sei bereits ein gesetzlich definiertes Therapieziel im Rahmen der patientenrelevanten Struktur- und Verfahrensverbesserung nach § 139e SGB V. Hierzu hat die Antragstellerin Gutachten des Studienleiters und Schmerzexperten G1 vom 08.02.2024 sowie des Schmerztherapeuten S2 vom 08.02.2024 vorgelegt.

Die Antragstellerin beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 16.01.2024 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die digitale Gesundheitsanwendung „tiNa-start“ gemäß § 139e Abs. 4 SGB V für zwölf Monate zur Erprobung in das Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendungen aufzunehmen,
hilfsweise: die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, im Rahmen des Verfahrens zur Aufnahme der digitalen Gesundheitsanwendung „tiNa-start“ gemäß § 139e Abs. 4 SGB V für zwölf Monate zur Erprobung in das Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendungen die Einwendungen aus dem Bescheid vom 28.12.2023 zu Ziffer 1. und Ziffer 2.a.-c. nicht weiter aufrecht zu erhalten.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Zur Begründung hat sie ausgeführt, es werde bereits bezweifelt, dass die wirtschaftliche Lage eines verbundenen Unternehmens bzw. Auftraggebers des Projektes - hier insbesondere die Firma P1 GmbH - unter dem Maßstab „Abwendung wesentlicher Nachteile“ herangezogen werden dürfe. Die P1 GmbH sei etablierter Hersteller von TENS-Geräten. Diese sei zusammen mit fünf anderen TENS -Geräte-Herstellern im Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbands mit insgesamt drei TENS -Geräten gelistet. Insgesamt seien 15 Produkte der P1 GmbH im Hilfsmittelverzeichnis gelistet. Die P1 GmbH habe vier Standorte, Geschäftsführer sei P1. Vertreiber des Produkts „tiNa-start“ sei die S3 (Kurzname „S3 GmbH“), deren Geschäftsführer ebenfalls P1 sei. Weiterhin sei P1 Geschäftsführer der P3 GmbH. Die P1 GmbH, die S3 GmbH und die P3 GmbH gehörten neben weiteren Unternehmen zur G2 („M1 GmbH“), die sich als „führendes und Private Equity-finanziertes MedTech- und FitnessTech-Unternehmen mit über 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Stammsitz in E1 sowie nationalen und internationalen Standorten“ beschreibe; Geschäftsführer der M1 GmbH sei ebenfalls P1. Während die Eilbedürftigkeit im Ausgangsverfahren noch damit begründet worden sei, dass die Nichtaufnahme für die Antragstellerin erhebliche finanzielle Einbußen bedeute, werde nunmehr erklärt, die P1 GmbH befinde sich in einer prekären finanziellen Lage, ohne genauer darauf einzugehen, was dies konkret bedeute. Auch bleibe unklar, welche „freien Mittel“ der P1 GmbH die Kosten für die Aufrechterhaltung und Wartung der DiGA sowie der geordneten Stilllegung des Projektes übersteigen würden. Auch das von der Antragstellerin angeführte Gutachten von „H1 W1 von A1“ liege nicht vor. Es würden insgesamt keine Unternehmensbilanzen vorgelegt, die eine Bestandsgefährdung belegen könnten. Aus der vorgelegten Einnahmeprognose werde auch nicht ersichtlich, wie sich eine einstweilige Verfügung auf die Beschäftigungsverhältnisse der mit dem Projekt betrauten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auswirken würde und was dies für die wirtschaftliche Situation des Unternehmens konkret bedeuten würde. Angesichts des Unternehmensbundes, zu der die P1 GmbH gehöre und diese ggf. stützen könne, und angesichts der Vielzahl an weiteren Produkten, die die P1 GmbH gewinnbringend verkaufen könne, erscheine eine Bestandsgefährdung durch ausbleibende Umsätze ausschließlich durch die Ablehnung der Aufnahme der streitgegenständlichen Software „tiNa-start“ in das DiGA-Verzeichnis und somit der Anordnungsgrund insgesamt nicht glaubhaft. Die Antragsgegnerin spreche durch einen ablehnenden Bescheid nach „Antrag auf Aufnahme in das Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA)“ kein Verkaufsverbot derartiger Software aus. So existierten neben dem DiGA-Verfahren verschiedene Wege, derartige Softwareprodukte gewinnbringend in die Versorgung zu bringen, beispielsweise über Selektivverträge mit Krankenkassen oder dem Selbstzahlermarkt. Gemäß § 33a i.V.m. § 139e SGB V entscheide die Antragsgegnerin durch Entscheidung über Anträge auf Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis lediglich über einen generellen Erstattungsanspruch Versicherter zu Lasten gesetzlicher Krankenkassen. Tatsächlich versuche die Antragstellerin vorliegend eher, ihr Investitionsrisiko auf die Beitragszahlenden der gesetzlichen Krankenkassen umzuwälzen. Eine dringliche Notlage oder eine Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz könne anhand der vorgelegten Unterlagen nicht plausibel angenommen werden. Auch ein Anordnungsanspruch liege nicht vor. Die Antragstellerin behaupte, einer DiGA, die eine patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserung zum Ziel habe, würde regelmäßig innewohnen, dass sie die Krankenbehandlung ergänzend unterstütze. Dies treffe jedoch nicht zu: als Gegenbeispiel könne durchaus auch eine Steigerung der Gesundheitskompetenz oder der Patientensouveränität angeführt werden. Die Antragstellerin behaupte weiter, andere bereits aufgenommene DiGA enthielten nur einen Teil der Funktionalitäten von „tiNa-start“. Der Vergleich mit anderen DiGA funktioniere jedoch nicht, da für diese die Anforderung erfüllt sei, dass die Hauptfunktion überwiegend digital sei. In dem seitens der Antragstellerin herausgegriffenen Beispiel „Selfapy - Online-Kurs bei chronischen Schmerzen“ sei eine kognitive Verhaltenstherapie digitalisiert worden, die Hauptfunktion - die Behandlung chronischer Schmerzpatienten - werde somit digital erreicht. Auch die Auflistung aller Funktionen ändere nichts daran, dass das Produkt nur in Kombination mit dem TENS -Gerät angewendet werden könne und die Hauptfunktion der Schmerzbehandlung im Wesentlichen durch das TENS -Gerät übernommen werde. Die Antragstellerin behaupte, einem reinen Softwareprodukt wohne eine digitale Hauptfunktion denklogisch inne. Jedoch sei das Produkt „tiNa-start“ als Kombination anzuwenden, die Hauptfunktion der Kombination sei somit nicht überwiegend digital, da die Schmerzbehandlung durch das TENS -Gerät erreicht werde und dem Produkt „tiNa-start“ lediglich eine untergeordnete Rolle zukomme. Bei dem Verweis auf Beispiele aus dem DiGA-Leitfaden werde nochmals darauf hingewiesen, dass diese aus dem Kontext gerissen würden, da die aufgeführten Beispiele im Kapitel zur „Erläuterung positiver Versorgungseffekte“ auftauchten, sich daher per se nicht zur Einschätzung der DiGA-Definition eigneten. Oberhalb der angeführten Beispiele heiße es im DiGA-Leitfaden ausdrücklich: „Anhand der weiteren ergänzenden Beispiele soll ersichtlich werden, welche Überlegungen bei der Planung einer Studie nach den §§ 10 bis 12 DiGAV eine Rolle spielen und welche Bewertungsschwerpunkte das BfArM im Antragsverfahren legt. Dies sind ausgewählte Beispiele, die das Spektrum möglicher Studienfragen und Parameter aufzeigen sollen, und dabei keinesfalls als abschließend und vollständig zu betrachten.“ Der Antragstellerin werde in ihrer Aussage nicht zugestimmt, dass der Gesetzgeber DiGA, die wie die vorliegende App „tiNa-start“ ergänzend zu Hilfsmitteln konzipiert worden seien, ausdrücklich als zulässig ansehe. Der Gesetzgeber sehe vielmehr - umgekehrt - Hilfsmittel als Ergänzung zu einer DiGA als ausdrücklich zulässig an. Das Konzept einer DiGA als Ergänzung zu einem Hilfsmittel wie im Falle des Produkts „tiNa-start“ sei damit nicht gemeint. Zutreffend sei lediglich, dass der Gesetzgeber durch den Leistungsausschluss für Produkte, die nur zur Benutzung mit bestimmten (exklusiven) Hilfs- oder Arzneimitteln vorgesehen seien, sog. Lock-in-Effekte vermeiden wolle. Ein solcher Lock-in-Effekt liege bezüglich einzelner Bedienelemente bei der App „tiNa-start“ vor: Die Suchfunktion für die Gebrauchsanweisung des TENS-Gerätes stehe lediglich bezüglich Geräten der P1 GmbH zur Verfügung. Nutzerinnen und Nutzer sollten also Komfortfunktionen lediglich dann nutzen können, wenn Hilfsmittel eines bestimmten Unternehmens verwendet würden. Bezüglich der von der Antragstellerin eingereichten Stellungnahme des G1 und des S2 lägen Anhaltspunkte vor, dass es sich nicht um unabhängige wissenschaftliche Gutachten handle, u.a. da beide Gutachter am 17.03.2023 als Referenten an der von der S3 ausgerichteten virtuellen Veranstaltung „Digital unterstützte TENS-Therapie“ teilgenommen hätten. Auch seien diese inhaltlich nicht überzeugend. Zudem ergebe sich aus der Studie TENS-1-SysEval keine klinisch relevante Steigerung der Adhärenz. Zusammenfassend sei diese als wissenschaftlich unzureichend für die plausible Ableitung eines positiven Versorgungseffekts der „tiNa-start“ App anzusehen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird im Übrigen auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte sowie der Gerichtsakte, insbesondere der Schriftsätze der Beteiligten, Bezug genommen.



II.

Die Beschwerde der Antragstellerin hat keinen Erfolg.

Der Senat entscheidet über die Beschwerde der Antragstellerin durch Beschluss (§ 176 SGG). Eine mündliche Verhandlung wird nicht für erforderlich gehalten (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 3 SGG). Die form- und fristgerecht (§ 173 SGG) und auch ansonsten nach § 172 SGG statthafte Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig, in der Sache jedoch unbegründet.

1. Das SG hat das einstweilige Rechtsschutzgesuch der Antragstellerin zu Recht abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Vorliegend begehrt die Antragstellerin von der Antragsgegnerin die Aufnahme der „tiNa-start“-App in das DiGA-Verzeichnis zur Erprobung für zwölf Monate gemäß § 139e Abs. 4 Satz 1 SGB V. Mit der Aufnahme wird das Medizinprodukt (die DiGA) Leistungsgegenstand der GKV, denn der Leistungsanspruch nach § 33a SGB V erfasst nur solche DiGA, die in das Verzeichnis aufgenommen sind. Das DiGA-Verzeichnis umfasst folglich als Positivliste (nur) alle DiGA, auf die Versicherte einen Versorgungsanspruch haben (Gerlach in: Hauck/Noftz SGB V, 2. EL 2024, § 139e SGB V Rn. 8).

Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Dabei begegnet es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG] 14.03.2019, 1 BvR 169/19, juris Rn. 15; BVerfG 06.02.2013, 1 BvR 2366/12, BVerfGK 20, 196; BVerfG 02.05.2005, 1 BvR 569/05, BVerfGK 5, 237, 242 m.w.N.). Je schwerer jedoch die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) verlangt auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Die Gerichte sind, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren, in solchen Fällen gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich hierbei schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. z.B. BVerfG 25.02.2009, 1 BvR 120/09, BVerfGK 15, 133-138; BVerfG 29.07.2003, 2 BvR 311/03, BVerfGK 1, 292, 296; BVerfG 22.11.2002, 1 BvR 1586/02, juris; BVerfG 02.05.2005, 1 BvR 569/05, BVerfGK 5, 237, 242).

Eine einstweilige Anordnung darf eine endgültige Entscheidung grundsätzlich nicht vorwegnehmen. Von einer solchen Vorwegnahme der Hauptsache kann jedoch nur dann gesprochen werden, wenn die Maßnahme nachträglich nicht mehr für die Vergangenheit korrigierbar ist. Dies ist bei der Verurteilung zur vorläufigen Gewährung von Leistungen nur dann der Fall, wenn eine Rückforderung ausgeschlossen ist. In einem solchen Fall ist das grundsätzliche Verbot der Vorwegnahme in der Hauptsache zu beachten; es kann aber im Interesse der Effektivität des Rechtsschutzes ausnahmsweise erforderlich sein, der Entscheidung in der Hauptsache vorzugreifen, wenn sonst Rechtsschutz nicht erreichbar und dies für den Antragsteller unzumutbar wäre (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG 14. Auf. 2023, § 86b Rn. 31 m.w.N.).

Die von der Antragstellerin beantragte vorläufige Aufnahme der „tiNa-start“-Anwendung in das DiGA-Verzeichnis für zwölf Monate richtet sich im Ergebnis auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, die entsprechend erhöhte Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes bedingt. Die probeweise Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren würde mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass dem Ergebnis des Hauptsacheverfahrens keine Bedeutung mehr zukommen wird. Wie das SG bereits zutreffend ausgeführt hat, steht aufgrund der Komplexität der zugrundeliegenden Fragestellungen eine Hauptsacheentscheidung vor Ablauf eines Jahres nicht zu erwarten. Die Folgen der beantragten einstweiligen Anordnung ließen sich damit im Rahmen eines nachfolgenden Hauptsacheverfahrens voraussichtlich nicht mehr revidieren. Die hiermit einhergehende Vorwegnahme der Hauptsache erfordert bereits auf der Prüfungsebene des Anordnungsgrundes, dass die Eilbedürftigkeit seitens der Antragstellerin in hohem Maße glaubhaft gemacht werden kann. Dem wird das Vorbringen der Antragstellerin jedoch nicht gerecht.

Vorliegend hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht, dass ihr ohne vorläufigen Rechtsschutz schwerwiegende, nicht anders abwendbare Nachteile drohen. Gravierende wirtschaftliche Folgen werden - unter Würdigung der wirtschaftlichen Gesamtlage des Unternehmens (vgl. z.B. Bayerisches LSG 01.12.2020, L 20 KR 251/20 B ER, juris Rn. 178) - angenommen, wenn die Aufgabe bzw. eine wirtschaftliche Existenzgefährdung des Unternehmens droht (z.B. LSG Nordrhein-Westfalen 30.07.2015, L 11 KR 303/15 B ER, juris Rn. 31) und die Liquidität des Unternehmens konkret gefährdet ist (LSG Nordrhein-Westfalen 08.03.2021, L 9 AL 198/20 B ER, juris Rn. 91). Ob die ggf. glaubhaft zu machenden Tatsachenbehauptungen einen Anordnungsgrund ausfüllen, bedarf einer genauen Prüfung. Trägt ein Antragsteller vor, in seiner Existenz gefährdet zu sein, muss er eine entsprechende wirtschaftliche Situation glaubhaft machen und nachvollziehbar darlegen, dass diese - kausal - auf die angegriffene Maßnahme zurückzuführen ist, d.h. die Gründe für die behauptete Existenzgefährdung müssen geklärt sein. In der Regel muss der Antragsteller glaubhaft machen, personelle und organisatorische Effizienzoptimierungsmaßnahmen ausgeschöpft zu haben, unmittelbar von Insolvenz bedroht zu sein oder die Schließung oder doch nennenswerte Einschränkungen seines Betriebs befürchten zu müssen (LSG Nordrhein-Westfalen 12.08.2013, L 11 KA 92/12 B ER, juris Rn. 25 m.w.N.).

Diese Voraussetzungen liegen bereits deshalb nicht vor, da die Antragstellerin eine eigene wirtschaftliche Existenzgefährdung gar nicht geltend macht, sondern allenfalls die ihrer Kooperationspartnerin, der P1 GmbH. Ein Antragsteller kann jedoch nur eigene Rechte und nur eine eigene Betroffenheit geltend machen. Die einstweilige Anordnung ist allein auf die Durchsetzung subjektiver Rechte angelegt (LSG Nordrhein-Westfalen 09.05.2012, L 11 KA 90/11 B ER, juris Rn. 39 m.w.N.).

Mithin kann sich die Antragstellerin auch nicht auf etwaige Patienteninteressen oder die Gefährdung von Arbeitsplätzen bei der P1 GmbH bzw. weiteren Subunternehmern berufen. Im Rahmen der Prüfung des Anordnungsgrundes geht es allein darum, ob dem jeweiligen Antragsteller ohne die einstweilige Anordnung wesentliche Nachteile drohen, nicht aber darum, ob öffentliche Interessen vorliegen, die die begehrte Regelung erforderlich erscheinen lassen, denn auch im vorläufigen Rechtsschutzverfahren kann sich der Antragsteller nicht zum Sachwalter öffentlicher Interessen machen (LSG Nordrhein-Westfalen 09.05.2012, L 11 KA 90/11 B ER, juris Rn. 39 m.w.N.).

Selbst wenn man die existentielle Gefährdung eines Vertragspartners, hier der P1 GmbH, für ausreichend erachten sollte, ist auch eine solche nicht glaubhaft gemacht. Die Gefährdung von Arbeitsplätzen reicht hierfür nicht aus (vgl. oben). Die Antragstellerin hat zudem geltend gemacht, dass der P1 GmbH durch die fehlende Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis ein Umsatzverlust in Höhe von 3 Mio. € im Jahr 2024 drohe, der im Rahmen eines nachfolgenden Hauptsacheverfahrens nicht mehr beseitigt werden könnte, und sich zur Glaubhaftmachung auf eine eidesstattliche Versicherung des Dr. P1 vom 16.02.2024 gestützt. Aufgrund dieser ausbleibenden Umsätze sei die P1 GmbH nicht „ohne weiteres“ in der Lage, ihre Verbindlichkeiten ohne finanzielle Stützung bedienen zu können, und dies erzeuge eine Bestandsgefährdung eines über 40 Jahre alten Betriebes mit 23 Mitarbeitern. Allein die Prognose eines Umsatzverlustes in dieser Höhe vermag eine wirtschaftliche Existenzgefährdung der P1 GmbH allerdings nicht hinreichend zu belegen, zumal keine Angaben zum Jahresumsatz sowie der sonstigen Einnahmen und Ausgaben getätigt wurden. Nach dem Ergebnis einer Internetrecherche liegt der geschätzte Jahresumsatz der P1 GmbH bei 60 Mio. €, so dass die Nichtrealisierbarkeit eines Umsatzes von 3 Mio. € noch keine Existenzgefährdung mit sich bringen dürfte, zumal interne personelle und organisatorische Effizienzoptimierungsmaßnahmen hierbei noch nicht berücksichtigt sind. Aus der bezifferten Höhe des prognostizierten Umsatzrückgangs vermag der Senat somit nicht darauf zu schließen, welche Auswirkungen hieraus auf das wirtschaftliche Gesamtergebnis der P1 GmbH bzw. deren wirtschaftliche Existenzgrundlagen erwachsen.

Damit vermochte sich der Senat im Ergebnis nicht davon zu überzeugen, dass es für die Antragstellerin bzw. die P1 GmbH unzumutbar sein könnte, einen möglichen vorübergehenden Umsatzverlust bis zu einer gerichtlichen Entscheidung über einen möglichen Anspruch auf (vorläufige) Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis vorzufinanzieren und dann ggf. im Wege des Regresses gegenüber der Antragsgegnerin geltend zu machen. Insoweit bestehen für den Senat auch keine Bedenken, dass nach der in einem Hauptsacheverfahren ggfs. festgestellten Rechtsverletzung der Antragstellerin es dieser ohne weiteres möglich wäre, hieraus resultierende Schadensersatzansprüche gegenüber der Antragsgegnerin zu realisieren und einen eventuell eingetretenen wirtschaftlichen Schaden auf diese Weise wieder vollständig zu beheben. Im Übrigen steht der Antragstellerin, worauf auch bereits das SG zutreffend hingewiesen hat, der Selbstzahlermarkt weiterhin offen. Umgekehrt ließen sich die Folgen einer vorläufigen Aufnahme der streitgegenständlichen App in das DiGA-Verzeichnis nicht mehr revidieren. Die hieraus von den Krankenkassen zu tragenden Kosten wären letztlich von der Versichertengemeinschaft zu tragen. Der Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung als verfassungsrechtlich anerkannter besonderes wichtiger Gemeinwohlbelang ist jedoch ein besonderes Gewicht beizumessen (vgl. BVerfG 31.10.1984, BVerfGE 68, 193, 218; BVerfG 07.05.2014, 1 BvR 3571/13, juris; Senatsbeschluss 09.08.2021, L 11 KR 2028/21 ER-B, juris Rn. 93 m.w.N.).

Liegt danach bereits kein Anordnungsgrund vor, war die von der Antragstellerin (grundsätzlich) aufgeworfene Frage des Bestehens des von ihr geltend gemachten Anordnungsanspruchs im Verfahren über die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht (abschließend) zu prüfen.

Darüber hinaus hat der Senat jedoch auch erhebliche Zweifel am Bestehen eines solchen Anordnungsanspruchs. Es spricht sehr viel dafür, dass der Bescheid vom 28.12.2023 formell und materiell rechtmäßig ist. Insbesondere dürfte die streitige „tiNA-start“-App die Voraussetzungen einer DiGA nicht erfüllen.

Nach der Legaldefinition in § 33a Abs. 1 Satz 1 SGB V ist eine DiGA ein Medizinprodukt niedriger Risikoklasse, deren Hauptfunktion wesentlich auf digitalen Technologien beruht und die dazu bestimmt ist, bei den Versicherten oder in der Versorgung durch Leistungserbringer die Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten oder die Erkennung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen zu unterstützen. Die Hauptfunktion der digitalen Gesundheitsanwendung muss in allen Anwendungsbereichen - beim Einsatz durch den Versicherten, bei der Interaktion des Versicherten mit den Leistungserbringern oder der Interaktion mit weiteren Medizinprodukten - durch digitale Technologien geprägt sein. Medizinprodukte in diesem Sinne sind folglich Medical-Apps, Software sowie weitere Produkte mit gesundheitsbezogener Zweckbestimmung und geringem Risikopotential, wenn ihre Hauptfunktion auf digitalen Technologien beruht. Daher können auch sächliche Medizinprodukte/-geräte, die digitale oder softwaregestützte Hauptfunktionen haben, zu den digitalen Gesundheitsanwendungen gehören (Braun, GesR 2019, 757). Die digitale Technologie darf jedoch nicht lediglich der Ergänzung oder Steuerung anderer Medizinprodukte dienen
(BT-Drs. 19/13438, 44; Knispel in BeckOK Sozialrecht 71. Ed. 2023 § 33a Rn. 14); es reicht mithin nicht, dass die Technologie andere Produkte ergänzt oder steuert. Applikationen (Apps), die die Lautstärke, das Sprachverständnis oder Störgeräusche bei einem Hörgerät einstellen oder unterdrücken, wären solche lediglich steuernd oder ergänzend wirkende Apps (Gerlach in: Hauck/Noftz SGB V, 2. EL 2024, § 33a SGB V Rn. 12). Vielmehr muss die digitale Technologie die Hauptfunktion darstellen (Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl. 2020, § 33a SGB V Rn. 10). Das ist etwa der Fall, wenn die Software eigenständige diagnostische und/oder therapeutische Leistungen erbringt, weil von ihr Daten analysiert oder interpretiert werden, eine Berechnung oder Messung vorgenommen oder eine Überwachungsfunktion übernommen wird. An der Unterstützungsfunktion fehlt es, wenn die Software nur der Wissensbereitstellung, Speicherung oder Kommunikation dient (Dubiel in Gesamtkommentar Sozialrechtsberatung, 3. Aufl. 2023, SGB V § 33a Rn. 5).

Vorliegend sind solche eigenständigen diagnostischen oder therapeutischen Leistungen der „tiNa-start“-App nicht erkennbar. Die Behandlung der (chronischen) Schmerzerkrankung erfolgt vornehmlich durch das TENS-Gerät. Die „tiNa-start“-App leitet den Patienten lediglich gemäß dem ärztlichen Therapieplan an, erinnert diesen an die Durchführung der TENS-Therapie und gibt Empfehlungen, falls eine Anwendung z.B. mehrfach negativ bewertet wurde (z.B. das Programm oder die Intensität anzupassen). Sie zielt somit auf die regelmäßige, korrekte und selbstständige Durchführung der Anwendung des jeweiligen TENS-Gerätes. Eine hauptsächlich digitale Behandlung der Schmerzerkrankung erfolgt gerade nicht. Eine Anwendung der App ohne Nutzung eines TENS-Gerätes ist weder sinnvoll noch gewollt, während das TENS-Gerät selbst hingegen auch ohne App nutzbar ist, so dass der Schwerpunkt der Behandlung bei diesem liegt. Selbst wenn die App zusätzliche Module beinhaltet, die für Schmerzpatienten zusätzlich positive Beiträge zur Schmerzbekämpfung enthalten, liegt hierin nach Auffassung des Senats jedoch lediglich eine Ergänzung zur TENS-Therapie, einen eigenständigen isolierten Nutzwert hat die App nicht. Der medizinische Hauptzweck (Behandlung der Schmerzerkrankung) wird gerade nicht digital, sondern durch das TENS-Gerät erreicht. Mithin stellt die digitale Technologie nicht die Hauptfunktion dar.

Die Antragstellerin begründet den eigenständigen Nutzwert bzw. die digitale Hauptfunktion der App mit einer Adhärenzsteigerung, also der konsequenteren Einhaltung der TENS-Therapie durch den Patienten, und verweist hierzu auf § 8 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 DiGAV, wonach positive Versorgungseffekte neben einem medizinischen Nutzen auch in einer patientenrelevanten Struktur- und Verfahrensverbesserung in der Versorgung liegen können und hiervon auch der Bereich der Adhärenz erfasst ist. Beim Nachweis positiver Versorgungseffekte handelt es sich allerdings um eine zusätzliche Voraussetzung für die Aufnahme in DiGA-Verzeichnis, von welchem nur im Rahmen der Aufnahme zur Erprobung abgesehen werden kann (vgl. § 139e Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 und Abs. 4 Satz 1 SGB V). Dies entbindet aber nicht von den o.g. Merkmalen einer DiGA, die nach wie vor nicht erfüllt sind. So ist die „Behandlung“ unzureichender Adhärenz nicht gleichzusetzen mit der Behandlung einer konkreten Erkrankung oder Behinderung, wie sie § 33a Abs. 1 Satz 1 SGB V aber voraussetzt.

Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht aufgrund der von der Antragstellerin angeführten geplanten Gesetzesänderung des § 33a Abs. 1 SGB V (durch den Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens - Digital-Gesetz - DigiD), wonach von dem Anspruch Medizinprodukte nicht umfasst sein sollen, die der Steuerung von aktiven therapeutischen Produkten dienen, digitale Gesundheitsanwendungen, die zur Verwendung mit einem bestimmten Hilfsmittel oder Arzneimittel bestimmt sind sowie allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens. Mit dieser geplanten gesetzgeberischen Klarstellung sollen sog. Lock-in-Effekte vermieden werden, also ein Leistungsausschluss für Produkte, die nur zur Benutzung mit bestimmten (exklusiven) Hilfs- oder Arzneimitteln vorgesehen sind. Hieraus ergibt sich jedoch nicht, dass sämtliche digitale Gesundheitsanwendungen, die nicht zur Verwendung mit einem bestimmten, sondern z.B. irgendeinem marktgängigen Hilfsmittel bestimmt sind, automatisch zulässig sind, worauf die Antragsgegnerin zutreffend hinweist. Dies ergibt sich bereits daraus, dass nicht beabsichtigt ist, die Definition der DiGA in § 33a Abs. 1 SGB V zu ändern (mit Ausnahme der Hinzufügung der Wörter „und höherer“ nach dem Wort „niedriger“), sodass nach wie vor die Hauptfunktion auf digitaler Technologie beruhen muss, mithin bei der App und nicht beim Hilfsmittel liegen muss, was hier jedoch gerade nicht der Fall ist (siehe oben). Im Übrigen liegt bezüglich einzelner Bedienelemente der „tiNa-start“-App wohl auch ein gewisser Lock-in-Effekt vor, da die Suchfunktion für die Gebrauchsanweisung des TENS-Gerätes nur für Geräte der P1 GmbH zur Verfügung steht.

Ob darüber hinaus die systematische Datenauswertung, die von der Antragstellerin zur Begründung der Versorgungsverbesserung vorgelegt wurde, plausibel ist, um einen positiven Versorgungseffekt im Rahmen der Erprobung nachzuweisen, kann dahingestellt bleiben, da bereits die Voraussetzungen einer DiGA nicht erfüllt sind.

Auch ein etwaiger - hier nicht zu prüfender - Beratungsfehler im Verwaltungsverfahren führt weder zur Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen einer DiGA noch zu einem Anspruch auf Aufnahme der „tiNa-start“-App in das DiGA-Verzeichnis aus Vertrauensschutzgründen, sondern könnte allenfalls Schadensersatzansprüche nach sich ziehen. Im Übrigen dürfte der sozialrechtliche Herstellungsanspruch im vorliegenden Verhältnis zwischen Leistungserbringer und BfArM mangels sozialrechtlichen Schuldverhältnisses ohnehin keine Anwendung finden (so entschieden z.B. zum Vertragsarztrecht: LSG Hessen 14.12.2005, L 4 KA 41/05; LSG Nordrhein-Westfalen 20.09.2000, L 11 KA 16/00, juris). Auch ließen sich hiermit nur bestimmte Voraussetzungen, wie z.B. verspätete Anträge, als erfüllt ansehen, wenn sie nur wegen einer Pflichtverletzung des Versicherungsträgers bislang fehlen, nicht jedoch solche Tatbestände, die nicht in der Verfügungsmacht des Verwaltungsträgers liegen (wie hier die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen einer DiGA; vgl. BSG, 15.05.1985, 7 RAr 103/83, BSGE 58, 104-110).

Der unter Ziff. 2 gestellte Hilfsantrag, darauf gerichtet die Antragsgegnerin zu verpflichten, im Rahmen des Verfahrens zur Aufnahme der „tiNa-start“-Anwendung in das DiGA-Verzeichnis für zwölf Monate zur Erprobung die Einwendungen aus dem Bescheid vom 28.12.2023 zu Ziffer 1. und Ziffer 2.a.-c. nicht weiter aufrecht zu erhalten, ist bereits unstatthaft und damit unzulässig, da die Feststellung (und damit auch die Anordnung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes) reiner Begründungselemente bzw. Vorfragen grundsätzlich nicht isoliert möglich ist, da es insoweit an einem selbstständigen, feststellungsfähigen Rechtsverhältnis fehlt (vgl. zum Beitragsrecht BSG 20.07.2017, B 12 KR 13/15 R, juris Rn. 24 m.w.N.).

2. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO.

3. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).


 

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