S 4 R 43/20

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 4 R 43/20
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze


Zur Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Gestalt einer Umschulung eines Rettungsassistenten zum Sport- und Fitnesskaufmann müssen die persönlichen Voraussetzungen gemäß § 10 Abs. 1 SGB VI erfüllt sein. 


Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 16.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2020 verurteilt, den Antrag des Klägers vom 16.08.2019 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die Beklagte hat dem Kläger die erforderlichen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 49 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – (SGB IX) entsprechend eines Antrags des Klägers vom 16.08.2019.

Der 1974 geborene Kläger erwarb 1990 den Hauptschulabschluss. Im Anschluss hieran besuchte er 1991 eine Medizinfachschule. Aus gesundheitlichen Gründen brach er eine Ausbildung zum Orthopädieschuhmacher 1993 und später eine Ausbildung zum Altenpfleger 1995 ab. Schließlich absolvierte er 1995 die Berufsausbildung zum Rettungsassistenten (ab 2014 „Notfallsanitäter“). Im Anschluss hieran arbeitete der Kläger u. a. im Rettungsdienst und Krankentransport in B-Stadt, C-Stadt, D-Stadt und E-Stadt.

Auf Antrag vom 16.03.2006 wurde dem Kläger mit Bescheid vom 27.07.2006 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.10.2006 gewährt. Nach dreifacher Weitergewährung der befristeten Rente wurde dem Kläger mit Bescheid vom 29.04.2014 letztlich eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung gewährt. Am 25.06.2014 beantragte der Kläger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation) in Form einer Kostenübernahme für eine Umschulung zum Sport- und Fitnesskaufmann. In diesem Zusammenhang bewilligte die Beklagte ein Rehabilitationsvorbereitungstraining, woran der Kläger vom 09.11.2015 bis zum 06.01.2016 teilnahm. Letztlich lehnte die Beklagte die vom Kläger begehrte berufliche Rehabilitation nach erfolglosem Widerspruchsverfahren ab. Die damals hiergegen gerichtete Klage und anschließende Berufung des Klägers blieben beide erfolglos. Erneut stellte der Kläger am 11.02.2015 und 16.03.2017 bei der Beklagten wiederholte Anträge auf eine berufliche Rehabilitation mit dem Ziel der Umschulung zum Sport- und Fitnesskaufmann, die wiederum alle erfolglos blieben.

In der Zwischenzeit stellte das Hessische Amt für Versorgung und Soziales Kassel mit Bescheid vom 26.06.2018 einen Grad der Behinderung von 30 beim Kläger fest.

Der Kläger beantragte nunmehr mit streitgegenständlichem Antrag vom 16.08.2019 (Bl. 1 d. Verwaltungsakte Teil II) erneut Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit dem Ziel der Kostenübernahme zur Umschulung zum Sport- und Fitnesskaufmann. Die Beklagte holte daraufhin eine beratungsärztliche Stellungnahme bei dem Facharzt für Innere Medizin und Sozialmedizin S. vom 23.09.2019 ein (Bl. 19 ff. d. Verwaltungsakte Teil I). Demnach bestünden beim Kläger als Diagnosen eine geistige und psychische Minderbelastbarkeit bei kombinierter Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen und ängstlichen vermeidenden Anteilen (ICD-10 F61), eine komplexe Traumafolgestörung (F43.1) und ein chronisches Schmerzsyndrom mit psychischen und somatischen Faktoren (F45.41). In der Folge bestehe ein aufgehobenes Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und eine Belastbarkeit für Teilhabeleistungen sei nicht gegeben. Allenfalls die Werkstattfähigkeit des Klägers, also die Voraussetzungen für eine Aufnahme in eine Werkstatt für behinderte Menschen zur Teilhabe, sei gegeben. Im Übrigen verwies der Beratungsarzt auf die medizinischen Ermittlungen aus den früheren, erfolglosen Antragsverfahren für Teilhabeleistungen und insbesondere auf seine damalige beratungsärztliche Stellungnahme vom 18.11.2016 (Bl. 12 ff. d. Verwaltungsakte Teil I).

Im Anschluss hieran lehnte die Beklagte den Antrag mit streitgegenständlichem Bescheid vom 16.10.2019 ab (Bl. 39.1 ff. d. Verwaltungsakte Teil II). Zur Begründung führte sie aus, dass die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben beim Kläger nicht erfüllt seien, da die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch Teilhabeleistungen nicht wesentlich gebessert, wiederhergestellt oder deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden könne.

Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 07.11.2019 Widerspruch ein. Zur Begründung trug der Kläger mit Schreiben seiner Verfahrensbevollmächtigten vom 13.01.2020 im Wesentlichen vor, dass eine Bezugnahme auf frühere Antragsverfahren und sozialmedizinische Stellungnahmen nicht sachgerecht sei. Auch dürfte bei ihm gegeben mehr als nur eine Werkstattfähigkeit sein, da er seit Februar 2018 einem Minijob als Badeaufsicht mit 40 Stunden im Monat ausüben würde. Dieser Umstand sei in der Stellungnahme des Beratungsarztes S. allerdings unberücksichtigt geblieben. Hierzu reichte die Verfahrensbevollmächtigte einen Befundbericht der Vitos Klinik Haina vom 04.09.2019 über eine ambulante Vorstellung des Klägers am 02.09.2019 zur Verwaltungsakte der Beklagten.

Daraufhin holte die Beklagte am 10.02.2020 nochmals eine Stellungnahme bei dem Beratungsarzt S. ein. Demnach würden sich aus der Widerspruchsbegründung und dem vorgelegten Befundbericht der Vitos Klinik Haina vom 04.09.2019 keine neuen sozialmedizinisch relevanten Tatsachen ergeben.

Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 07.07.2021 zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass der Kläger auf Dauer erwerbsgemindert sei und diesem Umstand durch die Zahlung der Rente wegen voller Erwerbsminderung Rechnung getragen werde. Aufgrund des bestehenden Rentenanspruches stünde die Arbeitskraft des Klägers dauerhaft nicht zur Verfügung. Dies stünde im Widerspruch mit den Zielen von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, namentlich der zeitnahen und dauerhaften Wiedereingliederung in das Erwerbsleben. Insoweit sei es zum jetzigen Zeitpunkt nicht überwiegend wahrscheinlich, dass mit einer zeitnahen und dauerhaften Wiedereingliederung in das Erwerbsleben gerechnet werden könne. Ein Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bestehe daher nicht.

Am 25.03.2020 hat vertretene Kläger Klage vor dem Sozialgericht Marburg erhoben. Zuvor hat der Kläger am 23.03.2020 einen wiederholten Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gestellt, der mit Bescheid vom 20.04.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.09.2021 wegen des nunmehr rechtshängigen Rechtsstreites als unzulässig zurückgewiesen wurde.

Der Kläger trägt vor, aufgrund der letzten Reha-Maßnahme sei es medizinisch belegt, dass eine Umschulung zum Sport- und Fitnesskaufmann möglich sei. Die Tätigkeit sei auch leidensgerecht, da es sich um eine Bürotätigkeit handle; weder eine Anleitung noch körperliche Arbeit seien Bestandteil der Tätigkeit. Weiter trägt der Kläger vor, dass er 2016 an einer Berufsfindung teilgenommen habe und damals der Beruf als Sport- und Fitnesskaufmann als geeignet eingestuft worden sei. Zudem sei nicht erkennbar, weshalb sein Schulabschluss der Umschulung entgegenstehen solle.

Die Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2020 zu verurteilen, den Antrag des Klägers vom 16.08.2019 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte trägt vor, dass der Reha-Entlassungsbericht vom 29.06.2023 ein über sechsstündiges Leistungsvermögen des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter qualitativen Einschränkungen nachgewiesen habe. Weiter sei eine Umschulung zu einer kaufmännischen Tätigkeit realistisch unter Fortführung einer immunsuppressiven Therapie. Gesundheitliche Einschränkungen könnten bei Schreibarbeiten am Computer aufgrund beginnender Arthralgien, besonders in den Handgelenken, bestehen sowie bei der Demonstration von Fitnessübungen. In Betracht kämen allenfalls Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form von Eingliederungshilfe. Dies vor dem Hintergrund, dass der Kläger nur über einen Hauptschulabschluss verfüge und mehrere Ausbildungen abgebrochen habe. Mit einem erfolgreichen Abschluss einer Umschulung sei nicht zu rechnen.

Aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 22.03.2022 hat das Gericht Beweis erhoben durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens gemäß § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bei dem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. med. K. Der Sachverständige stützt sein Gutachten auf die medizinischen Befunde, die in der Verwaltungsakte der Beklagten vorgelegt wurden, auf die im Gerichtsverfahren eingeholten Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers, sowie auf die ambulante Untersuchung des Klägers in seiner Praxis.

Der Sachverständige Dr. med. K. stellt in seinem Gutachten vom 21.07.2022 folgende Diagnosen:

-    keine geistigen oder seelischen Erkrankungen
-    Polyarthritis
-    Diabetes
-    Bluthochdruck

Der Sachverständige Dr. med. K. beschreibt, dass der Kläger sich wach, zeitlich, örtlich und situativ wie zur Person voll orientiert gezeigt habe. Hinweise auf mnestische Störungen, Wahn, Sinnestäuschungen, Ich-Störungen und Zwänge hatten nicht vorgelegen. Weiter hätten sich in der Exploration Hinweise auf narzisstische Züge gezeigt. Der Antrieb sowie der Affekt seien unauffällig, letzterer sei nicht depressiv gewesen.

Der Sachverständige kommt zur Einschätzung, dass beim Kläger zurzeit keine geistigen oder seelischen Erkrankungen bestünden und dieser aus psychiatrischer Sicht in der Lage sei, zumindest sechs Stunden arbeitstäglich erwerbstätig zu sein. Hierbei könnte er noch leichte bis mittelschwere Arbeiten erbringen. Ferner bestünden aus psychiatrischer Sicht keine qualitativen Einschränkungen für die Arbeitstätigkeit. Weiter seien die internistischen Erkrankungen insoweit ausreichend behandelt, dass der Kläger derzeit beschwerdefrei sei, sodass diesbezüglich kein erwerbsmindernder quantitativer Dauereinfluss anzunehmen sei. Hinsichtlich qualitativer Einschränkungen aufgrund der internistischen Erkrankungen beim Kläger könne er keine Aussage treffen.

Weiter führt der Sachverständige aus, dass für den Zeitpunkt der Antragstellung am 16.08.2019 keine Hinweise bestünden, dass Einschränkungen für Teilhabeleistungen vorgelegen hätten. 

Der Sachverständige Dr. med. K. hat eine Zusatzbegutachtung auf internistischen Fachgebiet für erforderlich gehalten.

Ferner führt der Sachverständige aus, dass der Kläger die persönlichen Voraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe nach § 10 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) erfüllen würde und dem Kläger durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder Teilhabe am Arbeitsleben Hilfe zur Beseitigung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit gegeben werden könne.

Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 18.08.2022 unter Bezugnahme auf das gerichtliche Sachverständigengutachten ausgeführt, dass mögliche qualitative Einschränkungen hinsichtlich der Polyarthritis noch aufzuklären seien. Weiter bestünde kein Anlass für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, da psychische Einschränkungen nicht gegeben seien und der Kläger voll erwerbsfähig sei. Im Übrigen hat die Beklagte mitgeteilt, dass ein Verwaltungsverfahren zum Entzug der Erwerbsminderungsrente eingeleitet worden sei.

Mit gerichtlichen Schreiben vom 28.12.2022 hat das Gericht dem Kläger darauf hingewiesen, dass für die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe die Erwerbsfähigkeit i. S. d. § 10 SGB VI grundsätzlich berufsbezogen zu beurteilen sei und hierzu Angaben zum bisherigen Berufsleben des Klägers erforderlich seien. Hierauf hat der Kläger mit anwaltlichen Schriftsatz vom 21.03.2023 Stellung genommen. Demnach habe er zuletzt eine Tätigkeit als Verkaufshelfer vom 06.07.2020 bis 31.07.2021 im Getränkemarkt des T. A-Stadt mit 25 Stunden pro Woche ausgeübt. Zuvor sei er als Fitness-Trainer für Elektromyostimulation (sog. EMS-Trainer) vom 01.08.2021 bis 31.12.2021 mit über 20 Stunden pro Woche und vom 07.02.2018 bis 30.04.2020 als Badeaufsicht im G-Erlebnisbad A-Stadt tätig gewesen. 

In der Zeit vom 24.05.2023 bis 14.06.2023 hat sich der Kläger zur stationären medizinische Rehabilitation in der Rheumaklinik D-Stadt befunden (Bl. 251 ff. d. Gerichtsakte). Nach Einschätzung der Rehaklinik sei die frühere Tätigkeit als Rettungsassistent aus rheumatologischer Sicht nicht leidensgerecht. Perspektivisch verfüge der Kläger über ein Restleistungsvermögen von zumindest sechs Stunden erwerbstäglich für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Grundsätzlich seien dem Kläger leichte Tätigkeiten vollschichtig zumutbar unter Vermeidung repetitiver mittelschwerer und schwerer Hebe- und Tragebelastung sowie häufig gebückter Zwangshaltungen. Weiter seien auch Überkopfarbeiten und forcierte Rotationsbewegungen, sowie Arbeiten auf Gerüsten und Leitern, mit besonderen Anforderungen an die Kraft der Hände und Bewegungsstereotypien der oberen Extremitäten zu vermeiden. Regelmäßige Witterungseinflüsse wie Kälte, Nässe und Zugluft sollten vermieden werden. Ebenso seien dauerhafte Stressbelastung, Nacht- und Wechselschichten auszuschließen. Aus rheumatologischer Sicht sei die vom Kläger angestrebte berufliche Umorientierung zum Sport- und Fitnesskaufmann realistisch. Der Kläger ist aus der Rehabilitationsmaßnahme arbeitsfähig entlassen worden.

Zum Ablauf des 31.10.2022 hat die Beklagte dem Kläger nach vorheriger Anhörung die bisher gewährte Rente wegen voller Erwerbsminderung entzogen. Hierüber ist das Klageverfahren mit dem Az. S 4 R 19/23 vor dem Gericht rechtshängig. Am 23.10.2023 hat das Gericht einen Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten hinsichtlich der Einbeziehung der weiteren Tätigkeiten in die Bestimmung des zuletzt ausgeübten Berufs und zur Frage der Erwerbsminderung i. S. d. § 10 SGB VI durchgeführt.

Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind. Weiter wird auf die hinzugezogenen Gerichtsakten mit den Az. S 4 R 93/16 und S 4 R 12/20 WA, vormals S 4 R 7/18, des Sozialgerichts Marburg und die des Landessozialgerichts Hessen mit dem Az. L 5 R 187/17 verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und begründet.

Im hiesigen Verfahren ist allein der angefochtene Ablehnungsbescheid vom 16.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2020 streitgegenständlich. 

Der Ablehnungsbescheid vom 20.04.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.09.2021 aufgrund des wiederholt gestellten Antrages auf berufliche Rehabilitation vom 23.03.2020 ist nicht nach § 96 SGG Gegenstand des laufenden Verfahrens geworden. Nach Klageerhebung wird ein neuer Verwaltungsakt dieser Vorschrift nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Nach Maßgabe des § 96 SGG wird der neue Verwaltungsakt automatisch Klagegegenstand, ohne dass es einer gewillkürten Klageänderung oder eines Vorverfahrens bedarf; es handelt sich also um eine Klageänderung kraft Gesetzes (vgl. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 96 SGG Rn. 1a). Geändert oder ersetzt wird ein Verwaltungsakt immer, wenn er denselben Streitgegenstand wie der Ursprungsverwaltungsakt betrifft, bzw. wenn in dessen Regelung eingegriffen und damit die Beschwer des Betroffenen vermehrt oder vermindert wird (vgl. BSG, Urt. v. 09.12.2016 – B 8 SO 1/15 R, Juris Rn. 12; Urt. v. 20.07.2005 – B 13 RJ 23/04 R, SozR 4-1500 § 96 Nr. 3, Juris Rn. 14). Vorliegend wurde mit dem Ablehnungsbescheid vom 20.04.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.09.2021 durch die Beklagte der wiederholte Antrag auf Teilhabeleistungen des Klägers mangels Antrags- bzw. Bescheidungsinteresse aufgrund des hiesigen rechtshängigen Klageverfahrens als unzulässig abgewiesen. Eine Abänderung oder Ersetzung der hier streitgegenständlichen Bescheide ist hierdurch nicht eingetreten, da durch die Ablehnung des erneuten Antrags vom 20.03.2020 keine neue Regelung des Streitgegenstandes getroffen wurde. Denn die Beklagte hat vielmehr eine materiell-inhaltliche Bescheidung des Antrags bereits als unzulässig abgelehnt.

Der angefochtene Bescheid vom 16.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 S. 1 SGG). Der Kläger einen Anspruch gegenüber der Beklagten auf erneute Bescheidung seines Antrags vom 16.08.2019 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (§ 131 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 SGG), da er die Anspruchsvoraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erfüllt (hierzu A.) und die Beklagte das ihr gesetzlich zustehende Ermessen auf Rechtsfolgenseite rechtswidrig nicht ausgeübt hat (hierzu B.).

Anspruchsgrundlage für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind die §§ 9, 10, 11, 12, 13, 16 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) in Verbindung mit § 49 SGB IX. Soweit für den vorliegenden Fall von Bedeutung, lauten diese Regelungen wie folgt:

Nach § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VI erbringen die Träger der Rentenversicherung Leistungen zur Prävention, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Leistungen zur Nachsorge sowie ergänzende Leistungen, um

1.    den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten vorzubeugen, entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und

2.    dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern.

Nach Abs. 2 von § 9 SGB VI sind die Leistungen nach Abs. 1 zu erbringen, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind.
 

Gemäß § 10 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte die persönlichen Voraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe erfüllt,

1.    deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist und

2.    bei denen voraussichtlich

a)    bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann,

b)    bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann,

c)    bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

aa)    der bisherige Arbeitsplatz erhalten werden kann oder
bb)    ein anderer in Aussicht stehender Arbeitsplatz erlangt werden kann, wenn die Erhaltung des bisherigen Arbeitsplatzes nach Feststellung des Trägers der Rentenversicherung nicht möglich ist.
 

Nach § 11 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe erfüllt, die bei Antragstellung

1.    die Wartezeit von 15 Jahren erfüllt haben oder

2.    eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit beziehen.
 

Gemäß § 12 Abs. 1 SGB VI werden Leistungen zur Teilhabe nicht für Versicherte erbracht, die

1.    wegen eines Arbeitsunfalls, einer Berufskrankheit, einer Schädigung im Sinne des Sozialen Entschädigungsrechts oder wegen eines Einsatzunfalls, der Ansprüche nach dem Einsatz-Weiterverwendungsgesetz begründet, gleichartige Leistungen eines anderen Rehabilitationsträgers oder Leistungen zur Eingliederung nach dem Einsatz-Weiterverwendungsgesetz erhalten können,
2.    eine Rente wegen Alters von wenigstens zwei Dritteln der Vollrente beziehen oder beantragt haben,
3.    eine Beschäftigung ausüben, aus der ihnen nach beamtenrechtlichen oder entsprechenden Vorschriften Anwartschaft auf Versorgung gewährleistet ist,
4.    als Bezieher einer Versorgung wegen Erreichens einer Altersgrenze versicherungsfrei sind,
4a.    eine Leistung beziehen, die regelmäßig bis zum Beginn einer Rente wegen Alters gezahlt wird, oder
5.    sich in Untersuchungshaft oder im Vollzug einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befinden oder einstweilig nach § 126a Abs. 1 der Strafprozessordnung untergebracht sind. Dies gilt nicht für Versicherte im erleichterten Strafvollzug bei Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.
 

A.    Vorliegend erfüllt der Kläger die Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschriften nach §§ 9, 10, 11 SGB VI und ein Ausschluss nach § 12 SGB VI besteht nicht.

Gemäß § 9 Abs. 2 SGB VI sind Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu erbringen, wenn die persönlichen (§ 10 SGB VI) und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 11 SGB VI) dafür gegeben sind und kein Ausschlussgrund (§ 12 SGB VI) vorliegt. Bei der Entscheidung über die Voraussetzungen, das „Ob“ der Leistung, handelt es sich um einen gebundenen Anspruch, welcher der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Unzutreffend hat die Beklagte entschieden, dass die Voraussetzungen, also das „Ob“ der Leistungsbewilligung nicht erfüllt sind.

I.    Der Kläger hat die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen bei Antragstellung nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI erfüllt. Denn im Zeitpunkt der Antragstellung auf Leistungen zur Teilhabe am 16.08.2019 bezog der Kläger eine laufende Rente wegen voller Erwerbsminderung von der Beklagten. Der spätere Entzug der Rente zum 31.10.2022 vermag an der Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nichts verändern. Denn maßgeblich ist bereits nach dem Gesetzeswortlaut allein, ob die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zur Zeit der Antragstellung erfüllt sind. Ist dies der Fall, so gelten diese bis zum Abschluss des Verfahrens als erfüllt, sodass der spätere Wegfall der Rente wegen Erwerbsminderung unerheblich ist (vgl. Kater, in: Rolfs/Körner/ Krasney/Mutschler (Hrsg.), BeckOGK SGB VI, Kommentar, Stand: 15.02.2023, § 11 SGB VI Rn. 5; Jüttner, in: Hauck/Noftz, SGB VI, Kommentar, 4. EL (Stand: 2023), § 11 SGB VI Rn. 4).

II.    Daneben liegen keine der Ausschlussgründe des § 12 Abs. 1 SGB VI und § 13 Abs. 2 SGB VI für die Erbringung von Leistungen zur Teilhabe beim Kläger vor.

III.    Der Kläger erfüllt zudem die persönlichen Voraussetzungen des § 10 SGB VI.

1.    Die Erwerbsfähigkeit des Klägers war wegen Krankheit im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI nicht nur erheblich gefährdet, sondern bereits gemindert. Insoweit genügt eine Minderung oder Gefährdung der Erwerbsfähigkeit im "bisherigen Beruf" (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 13.04.2021 – L 13 R 3498/18, BeckRS 2021, 24324, Rn. 26; LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 27.10.2004 – L 2 RJ 48/04, Juris Rn. 19). Dabei ist nicht allein auf die letzte Tätigkeit abzustellen; vielmehr sind die beruflichen Tätigkeiten in den letzten Jahren, wenn auch nicht aus allzu lange zurückliegender Zeit, in die Betrachtung mit einzubeziehen (vgl. BSG, Urt. v. 31.01.1980 – 11 RA 8/79, BSGE 49, 263, Juris Rn. 20; Kassler Komm. – Kater, in: Rolfs/Körner/Krasney/Mutschler (Hrsg.) BeckOGK, Kommentar, Stand: 15.02.2024, § 10 SGB VI Rn. 19). Bezogen auf den danach maßgeblichen bisherigen Beruf sind alle seiner weiteren Ausübung entgegenstehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu berücksichtigen, die nicht lediglich bei der Verrichtung von Tätigkeiten auftreten, die von vornherein als atypisch für den jeweiligen Beruf zu qualifizieren sind (vgl. BSG, Urt. v. 20.10.2009 – B 5 R 44/08, BSGE 104, 294, Juris Rn. 29; Urt. vom 11.09.1980 – 1 RA 47/79, SozR-2200 § 1237 a RVO Nr. 16, Juris Rn. 29).

Nach Maßgabe der obigen Grundsätze war unter dem bisherigen Beruf des Klägers das Tätigkeitsfeld eines Rettungsassistenten zu verstehen. Dem steht auch nicht entgegen, dass die Ausübung der Tätigkeit im Zeitpunkt des Teilhabeantrags bereits 13 Jahre zurückliegt. Denn die Anknüpfung an den letzten Beruf erfolgt grundsätzlich ohne zeitliche Beschränkung (BSG, Urt. v. 12.03.2019 – B 13 R 27/17 R, SozR 4-2600 § 10 Nr. 4, Juris Rn. 21 ff.). Nach Auffassung der Kammer ist die Tätigkeit des EMS-Trainers aufgrund ihrer kurzen Dauer von fünf Monaten nicht bei der Betrachtung in die Bestimmung der letzten beruflichen Tätigkeit miteinzubeziehen. Auch die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Verkaufshelfer im T.-Getränke stellt nicht den bisherigen Beruf des Klägers dar. Denn im Vordergrund steht die letzte nicht in unerheblichem Umfang ausgerichtete Tätigkeit, die gesamten Tätigkeiten der letzten Jahre sind hingegen erst einmal nachrangig (Luthe, in: Schlege/Voelzke, jurisPK-SGB VI, Kommentar, 3. Aufl. 2021 (Stand: 01.04.2021), § 10 SGB VI Rn. 43).

Bei Stellung des Rehabilitationsantrages war der Kläger aufgrund von Krankheit dauerhaft nicht mehr in der Lage, die für den Beruf des Rettungsassistenten wesentlichen Tätigkeiten noch auszuüben. Die Tätigkeit im Rettungsdienst ist in besonderer Weise geprägt durch Heben und Tragen schwerer Lasten und ungünstiger Körperhaltungen: wie z. B. Transfer von Patienten mit unterschiedlicher Konstitution und Gewicht, regelmäßiged Tragen von ärztlichen Gerätschaften wie Defibrillator, Beatmungseinheit, Notfallrucksack und Sauerstoffflasche, einer variablen Arbeitshaltung wie gehend, stehend, vorgebeugt und häufig kniend. Mithin handelt es sich bei dem Beruf des Klägers um schwere körperliche Tätigkeiten, denen der Kläger gesundheitlich nicht mehr gewachsen ist. 

Dies ergibt sich zur Überzeugung der Kammer aus dem Gesamtergebnisses des vorliegenden Verfahrens und wird letztlich auch von Seiten der Beklagten nicht in Abrede gestellt. Zwar mögen nach dem Sachverständigengutachten von Dr. med. K. vom 21.07.2022 beim Kläger auf dem psychiatrischen Fachgebiet keine quantitativen und qualitativen Leistungseinschränkungen für leichte bis mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehen. Allerdings ist nach dem überzeugenden Inhalt des Reha-Entlassungsbericht der Rheumakliniken D-Stadt vom 29.06.2023 die erlernte und ausgeübte berufliche Tätigkeit als Rettungsassistent dem Kläger unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nur noch unter drei Stunden erwerbstäglich zumutbar, da diese aus rheumatologische Sicht nicht leidensgerecht ist. Dies erschließt sich der Kammer auch vor dem Hintergrund der Vielzahl von qualitativen Einschränkungen, die sich beim Kläger auf dem rheumatologischen Gebiet ergeben. So sind ausweislich des Reha-Entlassungsbericht u. a. repetitive mittelschwere und schwere Hebe- und Tragebelastungen, häufig gebückte Zwangshaltungen und besondere Kraftanforderungen der Hände sowie Zurücklegen von weiten Gehstrecken dem Kläger nicht mehr zumutbar. Diese gesundheitlichen Beeinträchtigungen stehen der Ausübung einer Tätigkeit im Rettungsdienst mit seinen beschriebenen typischen Anforderungen an die körperliche Belastung und seinen schweren körperlichen Arbeiten entgegen. Diese gesundheitlichen Einschränkungen sind auch von Dauer, da bereits im Jahr 2015 die Erstdiagnose einer axialen Spondylarthritis, also einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung des Achsenskeletts beim Kläger gestellt wurde.

Im Übrigen ergibt sich nach Auffassung der Kammer kein anderes Ergebnis, falls man die Tätigkeit als EMS-Trainer und Verkaufshelfer im Getränkemarkt bei der Betrachtung der beruflichen Tätigkeit miteinbeziehen würde. So ist die Tätigkeit des EMS-Trainers durch eine überwiegende stehende, zeitweise gehend, gebückte, kniende bzw. hockende Arbeitshaltungen geprägt, die dem Kläger nach den Feststellungen im Reha-Entlassungsberichts allerdings nicht mehr zumutbar sind. Die Tätigkeit als Verkaufshelfer ist hingegen, durch das teilweise Heben von schweren Lasten und Zurücklegen von weiten Gehstrecken geprägt, was dem Kläger ebenfalls ausweislich des Entlassungsberichts nicht mehr möglich ist.

Zuletzt musste das Gericht auch kein weiteres Sachverständigengutachten von Amts wegen gemäß § 106 Abs. 3 Nr. 5 SGG zur Bestimmung der qualitativen Leistungseinschränkungen aufgrund der rheumatischen Erkrankung und den übrigen Gesundheitsstörungen einholen. Denn aus den gerichtlicherseits vorliegenden Entlassungsbericht der Rheumaklinik D-Stadt vom 29.06.2023 sind die Beeinträchtigungen des Klägers detailliert aufgelistet und nachvollziehbar dargelegt, sodass die für die Urteilsfindung relevanten Tatsachen für die Kammer hinreichend aufgeklärt waren.

2.    Nach § 10 Abs. 1 Nr. 2b SGB VI ist weiter erforderlich, dass die geminderte Erwerbsfähigkeit durch die Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder eine weitere wesentliche Verschlechterung abgewehrt werden kann. Bei der Beurteilung der Fragen, wann eine geminderte Erwerbsfähigkeit durch eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben "gebessert" wird und wann eine solche Besserung als "wesentlich" zu qualifizieren ist, muss berücksichtigt werden, dass das Leistungsvermögen des Klägers in medizinischer Hinsicht durch die – von ihm angestrebte und auch anderen – berufliche Rehabilitationsmaßnahme nicht beeinflusst werden kann.

Angestrebt wird vom Kläger vielmehr eine Kompensation der fortbestehenden medizinischen Minderung der Erwerbsfähigkeit: Dem Kläger soll durch eine neue berufliche Qualifikation Tätigkeitsfelder erschlossen werden, die ihm vorher mangels der erforderlichen Ausbildung verschlossen waren. Auch eine solche Erschließung neuer beruflicher Möglichkeiten begründet eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit i. S. d. Gesetzes (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 12.10.2005 – L 2 RJ 368/01, Juris Rn. 33).

3.    Daneben muss eine positive Erfolgsprognose gestellt werden können, da nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI Teilhabeleistungen nur gewährt werden, wenn sie voraussichtlich die erheblich gefährdete oder bereits geminderte Erwerbsfähigkeit eines Versicherten in bestimmter Weise günstig beeinflussen. Die im Rahmen des § 10 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI anzustellende Prognose ist dann positiv, wenn der Erfolg der begehrten Rehabilitationsleistung wahrscheinlich ist (vgl. BSG, Urt. v. 17.02.1982 – 1 RJ 102/80, BSGE 53, 100, Juris Rn. 23). Anders ausgedrückt: ist bei vorausschauender Betrachtung der Erfolg der Leistung nicht nur zweifelhaft, sondern kann die Möglichkeit eines Erfolgs nicht erwartet werden, ist die Rehabilitationsleistung abzulehnen (vgl. BSG, Urt. v. 30.10.1985 – 4a RJ 9/84, Juris Rn. 12; LSG Hessen, Urt. v. 19.06.2023 –  L 5 R 217/20, Juris Rn. 42). Ausweislich des Reha-Entlassungsbericht wird eine berufliche Umschulung zum Sport- und Fitnesskaufmann aus rheumatologischer Sicht für realistisch gehalten. Weiter besteht perspektivisch ein Restleistungsvermögen für leichte Tätigkeiten für zumindest sechs Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter den üblichen Bedingungen bei Berücksichtigung der benannten qualitativen Einschränkungen. Zudem wurde der Kläger aus der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme als arbeitsfähig erlassen. Damit besteht die ausreichende Möglichkeit eines Erfolgs der Teilhabeleistung.
 
Soweit die Beklagte einwendet, dass die gesundheitlichen Einschränkungen beim Kläger könnten bei Schreibarbeiten am Computer aufgrund beginnender Arthralgien, besonders in den Handgelenken, sowie bei der Demonstration von Fitnessübungen bestehen und einem erfolgreichen Abschluss der begehrten Teilhabeleistung entgegenstehen, überzeugt aufgrund des umfangreichen und nachvollziehbaren Reha-Entlassungsbericht nicht. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass die Beklagte eine Umschulung zu einer kaufmännischen Tätigkeit unter Fortführung der immunsuppressiven Therapie für möglich hält.

Der erforderlichen Prognose ist grundsätzlich der aufgrund eines vom Rentenversicherungsträger ordnungsgemäß durchgeführten Verwaltungsverfahrens ermittelte Sachverhalt zugrunde zu legen, wie er sich im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes für den Antragszeitraum darstellt. Beurteilungszeitpunkt für die im Rahmen des § 10 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI zu treffende Beurteilung ist also der Zeitpunkt der Entscheidung über den Rehabilitationsantrag (vgl. LSG Hessen, Urt. v. 19.06.2023 – L 5 R 217/20, Juris Rn. 39; Luthe, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, Kommentar, 3. Aufl. 2021 (Stand: 01.04.2021), § 10 SGB VI Rn. 65). Vorliegend ist zunächst aus Sicht der Kammer festzuhalten, dass keine ausreichende Sachverhaltsaufklärung durch die Beklagte erfolgt ist. Die Antragsablehnung beruht auf einer beratungsärztlichen Stellungnahme, die im Wesentlichen auf eine solche Stellungnahme aus einem vorhergehenden Antragsverfahren verweist und sich diese zu eigen macht. Eine persönliche ambulante Begutachtung des Klägers, insbesondere auf dem psychiatrischen Fachgebiet, ist im Rahmen des streitgegenständlichen Antragsverfahren durch die Beklagte nicht erfolgt. Dies wäre allerdings in Anbetracht der späteren Feststellungen durch den Sachverständigen Dr. med. K. in seinem Gutachten angezeigt und notwendig gewesen. Ausgehend von der Einschätzung des Sachverständigen Dr. med. K. ist die Kammer zum Schluss gelangt, dass eine positive Prognose spätestens im Zeitpunkt des ablehnenden Bescheides vom 16.10.2019 zu stellen war.

IV.    Sofern – wie hier – die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind sowie keine Ausschlüsse greifen, erbringen die Rentenversicherungsträger nach §§ 13 Abs. 1 und 16 S. 1 SGB VI die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach den Vorschriften der §§ 49 bis 54 des SGB IX. Gemäß § 49 Abs. 1 SGB IX werden zur Teilhabe am Arbeitsleben die erforderlichen Leistungen erbracht, um die Erwerbsfähigkeit von Menschen mit Behinderung oder von Behinderung bedrohter Menschen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben möglichst auf Dauer zu sichern. Damit hat der Kläger vorliegend einen Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe dem Grunde nach.

B.    Vorliegend hat die Beklagte, nachdem der Kläger einen Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dem Grunde nach hat, das ihr nach § 13 S. 1 SGB VI und § 49 Abs. 4 S. 1 SGB IX eingeräumte Ermessen bereits gänzlich nicht ausgeübt, da sie den Antrag des Klägers bereits wegen der von ihr rechtsfehlerhaft angenommen Nichterfüllung der persönlichen Voraussetzungen nach § 10 Abs. 1 SGB VI abgelehnt hat.

Auf Rechtsfolgenseite stellen die §§ 13 Abs. 1 S. 1 SGB VI und 49 Abs. 4 S. 1 SGB IX das „Wie“ der Leistungen, d. h. die konkrete Auswahl der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in das Ermessen des Rehabilitationsträgers – hier des beklagten Rentenversicherungsträgers. Zugleich legen die §§ 13 Abs. 1 S. 1 SGB VI und 49 Abs. 4 S. 1 SGB IX die Gesichtspunkte für eine pflichtgemäße Ausübung des Auswahlermessen fest. Gemäß § 13 Abs. 1 SGB VI bestimmt der Rentenversicherungsträger im Einzelfall unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts des Versicherten im Sinne des § 8 SGB IX und der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung dieser Leistungen sowie die Rehabilitationseinrichtung nach pflichtgemäßem Ermessen. § 49 Abs. 4 S. 1 SGB IX bestimmt, dass bei der Auswahl der Leistungen Eignung, Neigung, bisherige Tätigkeit sowie Lage und Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt angemessen berücksichtigt werden. 

I.    Vor diesem Hintergrund besteht ein Rechtsanspruch auf eine bestimmte Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben mithin nur dann, wenn der Ermessensspielraum der Beklagten auf Grund der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls derart eingeschränkt ist, dass diese rechtmäßig nur eine einzige (Auswahl )Entscheidung (sog. Ermessensreduktion auf Null; dazu nur BSG, Urt. v. 15.12.1994, 4 RA 44/93, Juris Rn. 27; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 17.11.2022 – L 10 R 2848/21, Juris Rn. 21 f.; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller//Schmidt, SGG, Kommentar, 15. Aufl. 2023, § 54 SGG Rn. 29 m. w. N.). Dies konnte die Kammer für die eigentlich vom Kläger begehrte Übernahme der Kosten für die Umschulung zum Sport- und Fitnesskaufmann nicht erkennen.

II.    Der Kläger hat allerdings einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Ausübung des der Beklagten gesetzlich nach §§ 13 Abs. 1 S. 1 SGB VI und 49 Abs. 4 S. 1 SGB VI eingeräumten Ermessens.

Für eine fehlerfreie Ermessensentscheidung ist es gemäß § 39 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil – (SGB I) erforderlich, dass der Verwaltungsträger sein Ermessen überhaupt betätigt und er es entsprechend dem Zweck der Ermächtigung und unter Einhaltung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens ausübt. Korrespondierend hierzu hat der von der Ermessensentscheidung Betroffene einen Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB I). Nur in diesem – eingeschränkten – Umfang unterliegt die Ermessensentscheidung nach Maßgabe des § 54 Abs. 2 S. 2 SGG der gerichtlichen Kontrolle auf Ermessensfehler. Rechtswidrig können Verwaltungsakte demnach nur in den Fällen des Ermessensnichtgebrauch, Ermessensunterschreitung bzw. Ermessensüberschreitung und Ermessensfehlgebrauch sein (vgl. BSG, Urt. v. 14.12.1994 – 4 RA 42/94, SozR 3 1200 § 39 Nr. 1, Juris Rn. 20). Die Frage, ob und in welcher Weise Ermessen ausgeübt wurde, beurteilt sich nach dem Inhalt des Verwaltungsaktes, insbesondere nach seiner Begründung (§ 35 Abs. 1 S. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – <SGB X>). Diese muss erkennen lassen, dass eine Ermessensentscheidung getroffen wurde, und sie muss darüber hinaus grundsätzlich auch diejenigen Gesichtspunkte aufzeigen, von denen der Verwaltungsträger bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist. Dafür ist zu prüfen, ob die Beklagte für die zur Ausschöpfung ihres Ermessensspielraums notwendige Interessenabwägung alle nach Lage des Einzelfalls wesentlichen (öffentlichen und privaten) Abwägungsbelange ermittelt, in diese Abwägung eingestellt, mit dem ihnen zukommenden objektiven Gewicht bewertet und bei widerstreitenden (öffentlichen und privaten) Belangen einen angemessenen Ausgleich hergestellt hat. Dabei steht es dem Verwaltungsträger – in den gesetzlichen Grenzen seines Ermessens – grundsätzlich frei zu entscheiden, auf welche der abwägungsrelevanten Umstände er die zu treffende Ermessenentscheidung im Ergebnis stützen möchte (vgl. BSG, Urt. v. 30.10.2013 – B 12 R 14/11 R, Juris Rn. 30; LSG Hessen, Urt. v. 13.09.2022 – L 2 R 332/20, Juris Rn. 53).

Gemessen hieran leidet die Entscheidung der Beklagten an einem Ermessensausfall (auch als Ermessensnichtgebrauch oder Ermessensunterschreitung bezeichnet). Die Beklagte hat ausweislich der Begründung der streitgegenständlichen Bescheide die Ablehnung allein auf die nach ihrer Einschätzung nicht erfüllten persönlichen Voraussetzungen gestützt. Daneben sind keine Anhaltspunkte für die erforderliche Abwägung der einzustellenden Interessen des Klägers gegenüber denen der Öffentlichkeit bzw. Versichertengemeinschaft aus den angefochtenen Bescheiden erkenntlich, die gerade eine Ermessensausübung und damit Ermessensentscheidung kennzeichnen. Die Beklagte hat daher die Pflicht erstmals das ihr von Gesetzes wegen eingeräumte Ermessen pflichtgemäß und ermessensfehlerfrei auszuüben.

Soweit die Beklagte mit ihrem Schriftsatz vom 11.01.2024 erstmals Ausführungen zur Form der Teilhabeleistungen macht und damit Ermessensabwägungen anstellt, kann dies die im Bescheid vom 16.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2020 fehlende Ermessensausübung nicht heilen. Zwar können Begründungsmängel nach § 41 Abs. 2 SGB X bis zum Ende der letzten Tatsacheninstanz geheilt werden. Beim Fehlen der Ermessensbetätigung i. S. d. § 39 SGB I, wie es hier im Hinblick auf die Art der Teilhabeleistung vorliegt, handelt es sich aber nicht um einen formellen Fehler der Begründung, der allein von § 41 SGB X erfasst ist. Entsprechend den Grundsätzen zum Nachschieben von Gründen im Gerichtsverfahren sind zwar Ergänzungen der Ermessenserwägungen im Sinne der Nachholung der Begründung in Form der nachträglichen Mitteilung der bei Erlass aus Sicht der Behörde maßgebenden Ermessenserwägungen möglich. Ein Nachschieben von Gründen ist jedoch nicht zulässig, soweit eine vollständige Nachholung – hier hinsichtlich der Art der Teilhabeleistung – erfolgt. Dementsprechend ist die Heilung eines Ermessensfehlgebrauchs oder eines Ermessensausfalls unzulässig und eine Heilung nach § 41 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGB X nicht möglich (vgl. BSG, Urt. v. 01.03.2011 – B 7 AL 2/10 R, Juris Rn. 14; LSG Bayern, Urt. v. 13.12.2023 – L 16 AS 382/22, Juris Rn. 33; Schütze, in: Schütze, SGB X, Kommentar, 9. Aufl. 2020, § 41 SGB X Rn. 11; Baumeister, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Kommentar, 3. Aufl. 2023 (Stand: 15.11.2023), § 41 SGB X, Rn. 48 mit weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung; Littmann, in: Hauck/Noftz, SGB X, Kommentar, 1. EL 2024, § 41 SGB X Rn. 17, 20). Für eine Ermessensreduzierung auf Null besteht – wie bereits ausgeführt – vorliegend keine Anhaltspunkte.

Hinsichtlich der noch vorzunehmenden Ermessensausübung merkt die Kammer vorsorglich an, dass der Einwand der Beklagten, der Kläger verfüge nur über einen Hauptschulabschluss, nach Auffassung der Kammer nicht der angestrebten Umschulung zur Sport- und Fitnesskaufmann entgegensteht. Rechtlich ist für den anerkannten Ausbildungsberuf des Sport- und Fitnesskaufmann kein bestimmter Schulabschluss vorgeschrieben (siehe hierzu auch Sport/FitnessAusbV zum Berufsausbildungsgesetz). Laut Bundesagentur für Arbeit hatten 14 Prozent aller Ausbildungsanfänger im Jahr 2022 einen Hauptschulabschluss (Bundesagentur für Arbeit, Steckbrief: Sport- und Fitnesskaufmann/-frau, https://web.arbeitsagentur.de/berufenet/beruf/steckbrief/14449; abgerufen am: 09.04.2024). Auch der weitere Einwand, dass der Kläger bereits mehrere Ausbildungen abgebrochen habe, verfängt nicht. Zwar hat der Kläger eine Ausbildung zum Orthopädieschuhmacher 1993 und zum Altenpfleger 1995 abgebrochen, allerdings erfolgte dies aus gesundheitlichen Gründen. Letztlich hat der Kläger dennoch erfolgreich eine Berufsausbildung zum Rettungsassistent abgeschlossen. Zuletzt bestehen ausweislich des Reha-Entlassungsbericht auch keine Hinweise für Beeinträchtigungen der intellektuellen Leistungsfähigkeit des Klägers. Ergänzend merkt die Kammer an, dass für die Auswahl eines ermessengerechten Umschulungsberufs auch die Durchführung eines Eignungstests in Betracht kommt. Inwieweit der Beruf als Sport- und Fitnesskaufmann als Umschulungsziel oder eine Eingliederungshilfe geeignet ist, hatte das Gericht nicht zu entscheiden. Denn dies ist der Beklagten in ihrer erstmaligen Ermessenentscheidung vorbehalten.

Nach alledem ist die Entscheidung der Beklagten ermessensfehlerhaft und daher rechtwidrig. Die Beklagte ist folglich verpflichtet über den klägerischen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben neu zu entscheiden. 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt im Rahmen der Billigkeit, dass der Kläger letztlich eine ermessensfehlerfreie Neubescheidung durch die Beklagte beantragt hat und damit sein Antrag vollen Erfolg hatte.

Die Rechtsmittelbelehrung folgt aus §§ 143, 144 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
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