L 5 P 2/24 B

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 P 81/23 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 P 2/24 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Auch bei einer Beschwerde müssen die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen eines jeden Rechtsmittels erfüllt sein und daher die Beschwerde (auch) den Beschwerdeführer bezeichnen, wozu die Angabe des vollständigen Namens und der Anschrift mit Angabe der Wohnung nach Ort, Straße, Hausnummer und ggf. weiteren Unterscheidungsmerkmalen ohne Rücksicht auf den Wohnsitz im Rechtssinne zählt. Grundsätzlich nicht ausreichend sind daher die Angabe eines Postfachs oder einer postlagernden Anschrift.
2. Ausnahmen von der Pflicht, die Anschrift zu nennen, können aber im Lichte des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) nach den Umständen des Einzelfalls anerkannt werden, wenn der Rechtsschutzsuchende - wie hier - glaubhaft über eine solche Anschrift nicht verfügt, etwa weil er wohnsitzlos ist (wie BSG, Beschlüsse vom 26.09.2023 B 5 R 21/23 BH, juris, Rn. 6; vom 18.11.2003 B 1 KR 1/02 S, juris, Rn. 9).
3. Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, so gilt es in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist (§ 63 Abs. 2 Satz 1 SGG i.V.m. § 189 ZPO).
4. Gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1 SGG i.V.m. § 185 Nr. 1 ZPO kann die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung (öffentliche Zustellung) erfolgen, wenn der Aufenthaltsort einer Person unbekannt und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG und auch aller anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes ist im Lichte des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG eine öffentliche Zustellung nur als letztes Mittel zulässig und als ultima ratio nur zu rechtfertigen, wenn eine andere Form der Zustellung nicht oder nur schwer durchführbar ist (wie BSG, Beschluss vom 14.12.2023 B 4 AS 72/23 B, juris, Rn. 7; BFH, Beschluss vom 25.02.2016 X S 23/15 (PKH), juris, Rn. 19; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13.09.2023 L 8 R 1970/22, juris, Rn. 25).
5. Gegenüber einem obdach-/wohnungslosen Verfahrensbeteiligten obliegt dem Gericht eine gesteigerte Prozessfürsorgepflicht. Es hat daher für die Zustellung eines Schriftstücks einen Weg zu wählen, auf dem am ehesten damit gerechnet werden kann, dass der Beteiligte tatsächlich davon Kenntnis erhält. Ist der Obdachlose postalisch lediglich über die Anschrift einer Beratungsstelle erreichbar, nimmt diese aber keine förmlichen Zustellungen entgegen, muss das Gericht förmlich zuzustellende Schriftstücke zumindest zusätzlich auch mit einfachem Brief an die Anschrift der Beratungsstelle übersenden, damit der Obdachlose die Möglichkeit hat, tatsächlich von dem Schriftstück Kenntnis zu nehmen (vgl. BFH, a.a.O., Rn. 20 f.). Gleiches gilt auch dann, wenn Briefe einen obdachlosen Verfahrensbeteiligten nur postlagernd erreichen und die Zustellung an die postlagernde Adresse scheitert. Auch in diesem Fall muss das Gericht das zuzustellende Schriftstück über die Bewilligung der öffentlichen Zustellung hinaus zumindest zusätzlich auch mit einfachem Brief an die postlagernde Anschrift des obdachlosen Verfahrensbeteiligten senden, damit dieser die Möglichkeit hat, tatsächlich von dem Schriftstück Kenntnis zu nehmen und seinen Anspruch auf rechtliches Gehör zu verwirklichen (wie LSG Baden-Württemberg, a.a.O., Rn. 25).

 

I. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 21.08.2023 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.


G r ü n d e :

I.

Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Ast.) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung der Antrags- und Beschwerdegegnerin (Ag.) zur Benennung von drei Gutachtern zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie zur Zahlung von 70 € pro Woche seit dem 07.07.2022.

Die Ast. ist bei der Ag. kranken- und pflegeversichert.

Da sie wohnungslos/wohnsitzlos ist, hat die Ast. im Verwaltungs- wie im gerichtlichen Verfahren eine postlagernde Adresse in der A Straße in A angegeben. Unter dieser Adresse befindet sich ein Einkaufszentrum, in dem u.a. eine Filiale der Deutschen Post AG betrieben wird.

Mit Schreiben vom 01.06.2022 beantragte die Ast. Leistungen aus der Pflegeversicherung und bat um Durchführung einer möglichst kurzfristigen Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit.

Mit Schreiben vom 08.06.2022 teilte die Ag. der Ast. mit, dass ihr Antrag an den Medizinischen Dienst (MD) weitergeleitet worden sei, der einen persönlichen Termin zur Begutachtung ausmachen werde. Es wurde darauf hingewiesen, dass bei Nichteinhaltung des Termins direkt Kontakt mit dem MD aufzunehmen sei.

Mit Schreiben vom 03.11.2022 fragte die Ag. beim MD nach dem Stand der Begutachtung. Am 10.11.2022 teilte der MD mit, dass der Auftrag noch vorliege und zeitnah bearbeitet werde. Mit weiterem Schreiben vom 23.11.2022 gab der MD den Begutachtungsauftrag an die Ag. zurück, da der Auftrag nicht habe bearbeitet werden können. Die Ast. sei nicht erreichbar, da sie keine Wohnung habe und es sich bei der angegebenen Adresse nur um eine Postlagerungsanschrift handle. Es werde um Abklärung gebeten, da eine Begutachtung nur möglich sei, wenn eine Adresse angegeben werde und eine Beurteilung der Wohnsituation möglich wäre.

Die Ast. teilte mit Schreiben vom 04.04.2023 der Ag. mit, dass seit ihrer Antragstellung keine Begutachtung stattgefunden habe. Sie fordere daher die Ag. auf, eine Liste mit drei Gutachtern entsprechend § 18 Abs. 3a Satz 1 Nr. 2 SGB XI zu übersenden. Zudem sei ein Betrag von 70 € für jede begonnene Woche seit dem 07.07.2022 entsprechend § 18 Satz 1 SGB XI zu zahlen. Es sei insoweit ein Betrag von 2.800 € fällig.

Mit Bescheid vom 14.04.2023 lehnte die Ag. die Benennung von Gutachtern sowie die Zahlung einer Verzögerungsgebühr ab. Zur Begründung wurde u. a. darauf hingewiesen, dass eine Begutachtung aufgrund der fehlenden Mitwirkung der Ast. nicht möglich gewesen sei. Der MD habe den Begutachtungsauftrag zurückgegeben, da aufgrund einer fehlenden Wohnadresse eine Begutachtung nicht möglich gewesen sei. Es werde um Mitteilung einer Adresse sowie einer Telefonnummer gebeten, damit eine erneute Begutachtung in Auftrag gegeben werden könne.

1.
Hiergegen legte die Ast. mit Schreiben vom 03.05.2023 Widerspruch ein und stellte mit Schreiben vom 15.05.2023 einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Augsburg (SG), gerichtet auf Benennung von drei Gutachtern sowie der Zahlung von 70 € je begonnene Woche seit dem 07.07.2022.

Mit Beschluss vom 21.08.2023 hat das SG diesen Antrag abgelehnt. Das Gericht habe sich im Rahmen der summarischen Prüfung nicht davon überzeugen können, dass ein Anordnungsanspruch - hier ein Recht auf Benennung von drei Gutachtern sowie auf Zahlung einer Sanktion von 70 € je Woche - bestehe. Es lägen auch erhebliche Zweifel an einem Anordnungsgrund vor:

* Vorliegend habe die Ag. den Antrag auf Pflegeleistungen der Ast. umgehend an den MD weitergeleitet, der mehrfach versucht habe, mit der Ast. einen Begutachtungstermin auszumachen. Eine Begutachtung sei gescheitert, weil von der Ast. weder eine Wohnadresse, noch eine Adresse zu Begutachtung, noch eine Telefonnummer zur Kontaktaufnahme mitgeteilt worden sei. Die Ast. sei sowohl von der Ag. als auch vom MD auf diesen Sachverhalt hingewiesen worden. Eine Begutachtung nach Aktenlage sei nur beim Vorliegen einer eindeutigen Aktenlage möglich. Da es sich hierbei um eine Ausnahmevorschrift handele, sei diese eng auszulegen. Die Ast. habe zur Prüfung des Sachverhalts keine ärztlichen Unterlagen eingereicht, nicht auf behandelnde Ärzte verwiesen und im gerichtlichen Verfahren die Einholung von Befunden durch die Verweigerung der Schweigepflichtsentbindungen verhindert. Insoweit sei eine Begutachtung nach Aktenlage nicht möglich (gewesen). Insoweit habe die Ag. die nicht fristgerechte Begutachtung nicht zu vertreten.

* Eine Verpflichtung der Ag. zur Zahlung der pauschalen Zusatzzahlung nach § 18 Abs. 3b SGB XI für die dort genannten Verzögerungsfälle bestehe nicht. Auch hier bestehe eine Zahlungspflicht nicht, wenn die Pflegekasse die Verzögerung nicht zu vertreten habe. Dies sei z. B. dann der Fall, wenn die Verzögerung vom Antragsteller selbst, insbesondere durch Verletzung seiner Mitwirkungspflichten oder seinem Umfeld verursacht worden sei. Hier sei die Verzögerung von der Ast. selbst und durch die fehlende Angabe von Möglichkeiten, mit ihr Kontakt aufzunehmen, verursacht.

* Es bestünden aber auch erhebliche Zweifel am Vorliegen eines Anordnungsgrundes. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG wäre eine Anordnung nur möglich, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen würde. Ein Anordnungsgrund sei nicht glaubhaft gemacht. Der Eintritt von schweren und unzumutbaren, durch eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr auszugleichenden Nachteilen im Sinne einer Gefährdung von wesentlichen oder grundgesetzlich geschützten Rechtsgütern ohne die begehrte einstweilige Anordnung, sei nicht vorgetragen oder ersichtlich.

Am 21.08.2023 hat die Kammervorsitzende die öffentliche Zustellung des Beschlusses vom 21.08.2023 verfügt (Aushang an der Gerichtstafel am 24.08.2023, Abhang am 25.09.2023).

Mit Schreiben vom 10.11.2023 hat sich die Ast. an das SG gewandt und vorgetragen, dass sie aus einer Mitteilung der Ag. "jetzt" erfahren habe, dass in der Sache am 21.08.2023 ein Beschluss ergangen sei, der ihr jedoch nicht zugestellt worden sei. Sie bitte daher umgehend um Übersendung des Beschlusses und um Mitteilung des Grundes, weshalb der Beschluss ihr nicht übersandt worden sei. Sollte der Beschluss öffentlich zugestellt worden seien, habe das SG darzulegen, welche Maßnahmen im Einzelnen zuvor unternommen worden seien, um das Schreiben der Ast. zustellen zu können.

Mit Schreiben vom 21.11.2023 hat das SG versucht, den Beschluss vom 21.08.2023 und zahlreiche weitere Schriftstücke der Ast. mit Postzustellungsurkunde (PZU) zuzustellen. Das Schreiben ist am 30.11.2023 als unzustellbar zurückgekommen.

Auf das weitere Schreiben der Ast. vom 11.12.2023 hat das SG der Ast. mit einfachem Schreiben vom 18.12.2023 das Schreiben vom 21.11.2023 nebst Anlagen nochmals geschickt.

2.
Mit Schreiben vom 22.12.2023 hat sich die Ast. an das Bayerische Landessozialgericht (LSG) gewandt und eine "außerordentliche Beschwerde" erhoben. Die 9. Kammer des SG habe am 21.08.2023 einen Beschluss erlassen, der der Ast. nicht zugestellt worden sei. Erst aus einem Schreiben der Ag. habe die Ast. von dem Beschluss erfahren. Mit Schreiben vom 10.11.2023 und 11.12.2023 sei die Kammer dazu aufgefordert worden, den Beschluss der Ast. zu übersenden. Dem sei die Kammer bis dato nicht nachgekommen.

Mit Schreiben vom 29.01.2024 hat sich der Berichterstatter an die Ast. gewandt und mitgeteilt, dass aufgrund des Schreibens des SG vom 18.12.2023 davon auszugehen sei, dass der Ast. der Beschluss des SG vom 21.08.2023 inzwischen vorliege. Auf den Hinweis im Übrigen wird Bezug genommen.

Mit Schriftsatz vom 05.02.2024 hat die Ast. zur weiteren Begründung der Beschwerde vorgetragen, dass der Beschluss des SG auf Willkür basiere. Ihr sei der Beschluss (erst) am 08.01.2024 zugegangen. Vom Erlass des Beschlusses habe sie erst aus einem Schreiben der Ag. vom 20.10.2023 erfahren. Daraufhin habe sie den Beschluss mit Schreiben vom 10.11.2023 von der Kammer eingefordert. Das SG sei dem nicht nachgekommen. Auch auf das erneute Anschreiben vom 11.12.2023 habe die Kammer nicht reagiert. Erst auf die "außerordentliche Beschwerde" vom 22.12.2023 beim LSG habe die Kammer den Beschluss der Ast. zugesandt. Neben dem Beschluss seien das Gerichtsschreiben vom 21.11.2023 und die darin aufgeführten Abschriften beigefügt gewesen. Das Schreiben bezwecke zu suggerieren, dass die Kammer dem Herausgabeverlangen des erlassenen Beschlusses im Schreiben der Ast. vom 10.11.2023 nachgekommen sei. Laut dem Briefkopf solle das Schreiben mittels PZU versandt worden sein, was bestritten werde. Davon abgesehen würden Schreiben, die mit PZU versandt werden, ausschließlich nur an eine Wohnanschrift und nicht an eine Postlagernd-Adresse zugestellt.

Die öffentliche Zustellung des Beschlusses vom 21.08.2023 basiere auf keiner Rechts-grundlage. Vor der Anordnung der öffentlichen Zustellung hätte die Kammer zumindest einen bzw. weiteren Zustellversuch unternehmen müssen, wozu die Möglichkeit bestanden habe, das Schreiben per Einschreiben mit Rückschein zuzustellen. Zum Nachweis der Zustellung genüge der Rückschein. Die Kammer habe diese alternative Zustellung
jedoch offensichtlich bewusst nicht in Erwägung gezogen und unterlassen. Die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung seien nicht gegeben (gewesen). Zumutbare Nachforschungen hätten durchgeführt werden müssen. Das (erste) Schreiben der Kammer vom 22.05.2023, das durch die Deutsche Post befördert worden sei, sei auf der Postfiliale in A angekommen und habe von der Ast. entgegengenommen werden können. Alle nachfolgenden Gerichtsschreiben habe die Kammer angeblich entweder über einen privaten Postdienstanbieter versandt oder mittels PZU zustellen wollen und hätten infolgedessen die Ast. nicht erreichen können. Die Ast. habe es daher nicht zu verantworten, dass die Gerichtsschreiben und der Beschluss nicht zugestellt werden konnten.

In der Sache hat die Ast. vorgetragen, dass die Ag. den MD den Auftrag zur Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit mit dem Wissen erteilt habe, dass die Ast. wohnungslos sei und es sich bei ihrer Anschrift lediglich um eine Postlagernd-Adresse handele. Dies sei auch unschwer vom MD selbst zu erkennen (gewesen). Die Ag. wie auch der MD hätten deshalb von vornherein gewusst, dass eine Begutachtung nur im Lebensumfeld der Ast. hätte stattfinden können, also auf der Straße oder aber, was der Ag. an und für sich hätte bekannt sein müssen, in derartigen Lebenslagen in einer örtlichen Sozialstation (hier: A). Auf diese Möglichkeit der Begutachtungsstätte hätte die Ag. den MD hinweisen müssen, was die Ag. jedoch unterlassen habe. Dass der MD dennoch zwei (Alibi-)Termine zur Begutachtung an die Postlagernd-Adresse der Ast. mitgeteilt habe, die von ihm selbst nicht eingehalten worden seien, spreche für sich und gehe letztlich zu Lasten der Ag.

Mit Schreiben vom 07.11.2022 habe sich der MD erneut gemeldet und einen Termin zur Begutachtung für den 23.11.2022 unter der Postlagernd-Adresse der Ast. bestimmt, obwohl es für den MD anhand der Adresse unschwer erkennbar gewesen sei, dass es sich hier nicht um eine Wohnanschrift, sondern lediglich um eine Postlagernd-Adresse handele. Der MD sei deshalb darauf hingewiesen worden, dass die Ast. keine Wohnung habe und deshalb darum gebeten worden, einen Ort in A zu benennen, wo die Begutachtung stattfinden könne. Der MD habe weder auf die Mitteilung reagiert noch sei er zum vereinbarten Termin vor der Postfiliale in A erschienen. Wenn die Kammer die Behauptung aufstelle und damit den Eindruck erwecken wolle, die Ast. habe den Termin am 23.11.2022 mit dem MD abgesagt, im Sinne, dass die Ast. kein Interesse an einer Begutachtung gehabt habe, so sei dies unzutreffend.

Die Ag. kenne den Gesundheitszustand der Ast. nur zum Teil aus seinen Unterlagen heraus. Dennoch halte es die Ag. nicht für notwendig dafür Sorge zu tragen, ihrer gesetzlichen Verpflichtung nachzukommen und eine rasche Begutachtung durch die Benennung von drei Gutachtern zu ermöglichen. Stattdessen wolle die Ag. im gerichtlichen Verfahren suggerieren, dass bei der wohnungslosen Ast. und somit einem atypischen Fall eine Begutachtung nicht durchführbar sei. Wenn die Ast. nun mal über keine Wohnung verfüge, müsse zwangsläufig eine Begutachtung dort stattfinden, wo eine solche Untersuchung ersatzweise möglich sei, wie beispielsweise in der örtlichen Sozialstation in A. Ob Hilfebedarf bei der Verrichtung des täglichen Lebens benötigt werde, lasse sich ortsunabhängig feststellen, wie § 18 Abs. 3 Satz 3 SGB XI (alt) aufzeige, wonach die Begutachtung auch im Krankenhaus oder in einer Rehabilitationseinrichtung durchgeführt werden könne. In dem zu erstellenden Gutachten habe der Sachverständige bei vorliegender Pflegebedürftigkeit der Ast. deren aktuelle Lebenssituation miteinzubeziehen und aufzuzeigen, wie die Pflege der Ast. sichergestellt werden könne.

Mit weiterem Schreiben vom 12.02.2024 hat die Ast. nochmals betont, dass erst nachdem sich das LSG mit dem SG wegen der Beschwerde offenkundig am 27.12.2023 in Verbindung gesetzt habe, der Beschluss vom 21.08.2023 mit weiteren Unterlagen zur Post aufgegeben worden sei, wie der Poststempel auf dem Kuvert des angeblich am 18.12.2023 erstellten Schreibens ausweise. Die Schriftstücke seien der Ast. am 08.01.2024 zugegangen. Sofern die eingereichte Beschwerde vom 05.02.2024 gegen den Beschluss des SG vom 21.08.2023 in diesem Beschwerdeverfahren (L 5 P 2/24 B) fortgesetzt werde, bleibe die Beschwerde folglich aufrechterhalten.

Mit Schriftsatz vom 26.02.2024 hat die Ag. dahingehend erwidert, dass die Erhebung der Beschwerde beim LSG am 27.12.2023 und somit nach Ablauf der Frist von einem Monat nach Bekanntgabe des Beschlusses vom 21.08.2023 erfolgt sei. Laut Schreiben der Ast. vom 05.02.2024 sei diese Verzögerung nicht von ihr zu verantworten. Nach Durchsicht der Unterlagen sei von einer fristgerechten Zustellung des Beschlusses auszugehen. Die
Ast. verfüge über keinen bekannten Aufenthaltsort. In diesem Fall erfolge eine öffentliche Zustellung durch das SG.

Die fehlende Wohnadresse der Ast. führe im gesamten Verfahren zu Problemen und Verzögerungen. Eine Begutachtung sei daran gescheitert, dass von der Ast. weder eine Wohnadresse, noch eine Adresse zur Begutachtung, noch eine Telefonnummer zur Kontaktaufnahme mitgeteilt worden sei. Im Antragsverfahren auf einstweiligen Rechtsschutz habe die Ag. der Ast. am 10.08.2023 angeboten, dass eine Begutachtung in einer Unterkunft für Wohnungslose oder in der Bahnhofsmission A stattfinden könne. Die Ast. sei gebeten worden, sich diesbezüglich mit der städtischen Sozialarbeiterin Frau W-S in Verbindung zu setzen. Dieses Angebot sei nicht in Anspruch genommen worden. Das an das SG gerichtete Schreiben vom 10.08.2023 hat dem Schriftsatz vom 26.02.2024 beigelegen.

Mit Schriftsatz vom 15.03.2024 hat die Ast. mitgeteilt, dass ihr das Schreiben der Ag. vom 10.08.2023 bis dato unbekannt gewesen sei.

Die Ast. beantragt sinngemäß,

den Beschluss des SG vom 21.08.2023 aufzuheben und die Ag. im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Ast. drei Gutachter zu benennen sowie einen Betrag von 70 € pro Woche wegen Fristüberschreitung seit dem 07.07.2022 zu bewilligen.

Die Ag. beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Im Übrigen wird auf die Prozessakten des LSG (L 5 P 2/24 B) und des SG (S 9 P 81/23 ER) sowie auf die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.


II.

Die Beschwerde gegen den Beschluss des SG vom 21.08.2023 ist zulässig (§§ 172, 173 SGG), hat aber in der Sache keinen Erfolg.

Der Zulässigkeit der Beschwerde steht nicht entgegen, dass die Ast. keine Wohnanschrift, sondern eine postlagernde Adresse angegeben hat. Zwar müssen (auch) bei der Beschwerde die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen eines jeden Rechtsmittels erfüllt sein (vgl. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Kommentar zum SGG, 14. Aufl. 2023, § 176 Rn. 3) und daher die Beschwerde (auch) den Beschwerdeführer bezeichnen, wozu die Angabe des vollständigen Namens und der Anschrift mit Angabe der Wohnung nach Ort, Straße, Hausnummer und ggf. weiteren Unterscheidungsmerkmalen ohne Rücksicht auf den Wohnsitz im Rechtssinne zählt. Grundsätzlich nicht ausreichend sind daher die Angabe eines Postfachs (BVerwG, Urteil vom 13.04.1999 - 1 C 24/97, juris, Rn. 27 ff. zu § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO) oder einer postlagernden Anschrift (Bayer. LSG, Urteil vom 02.08.2017 - L 9 AL 212/14, juris, Rn. 43). Ausnahmen von der Pflicht, die Anschrift zu nennen, können aber im Lichte des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) nach den Umständen des Einzelfalls anerkannt werden, wenn der Rechtsschutzsuchende glaubhaft über eine solche Anschrift nicht verfügt, etwa weil er wohnsitzlos ist (BSG, Beschlüsse vom 26.09.2023 - B 5 R 21/23 BH, juris, Rn. 6; vom 18.11.2003 - B 1 KR 1/02 S, juris, Rn. 9; jeweils unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 13.04.1999 - 1 C 24/97, juris, Rn. 27 ff.). Im vorliegenden Fall verfügt die Ast., wie dem Senat auch aus anderen von ihr betriebenen Verfahren bekannt ist, glaubhaft über keinen festen Wohnsitz und hat daher eine postlagernde Adresse in der A Straße in A angegeben, unter der sich ein Einkaufszentrum befindet, in dem u.a. eine Postfiliale betrieben wird.

Die Beschwerde ist auch fristgerecht eingelegt worden. Gemäß § 173 SGG ist die Beschwerde innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung beim Sozialgericht (Satz 1) oder Landessozialgericht (Satz 2) schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, so gilt es in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist (§ 63 Abs. 2 Satz 1 SGG i.V.m. § 189 ZPO). In Anwendung dieser Maßstäbe gilt der Beschluss des SG vom 21.08.2023 der Ast. am 08.01.2024 als zugestellt. Denn der Beschluss, den das SG mit einfachem Brief vom 18.12.2023 nochmals an die Ast. gesandt hat, ist dieser jedenfalls am 08.01.2024 tatsächlich zugegangen. Dies ergibt sich aus dem Schreiben der Ast. vom 12.02.2024, mit dem sie nochmals darauf hingewiesen hat, dass sie der Beschluss des SG vom 21.08.2023 erst am 08.01.2024 erreicht hat, nachdem sie sich mit ihrer "außerordentlichen Beschwerde" an das LSG gewandt und um Zustellung des Beschlusses des SG gebeten hatte. Da sich ein zeitlich späteres Zuleitungsschreiben nicht in der Prozessakte des SG befindet, hält der Senat es wegen der Verzögerungen rund um die Weihnachtsfeiertage für glaubhaft, dass das Schreiben des SG vom 18.12.2023 die Ast. unter ihrer postlagernden Adresse erst am 08.01.2024 erreicht hat.

Insbesondere gilt der Beschluss des SG vom 21.08.2023 hier nicht gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 185 ff. ZPO als zugestellt. Zwar hat die Kammervorsitzende am 21.08.2023 die öffentliche Zustellung des Beschlusses an die Ast. verfügt und ist der Aushang der entsprechenden Benachrichtigung am 24.08.2023 erfolgt, so dass die für den Eintritt der Zustellungsfiktion des § 188 Satz 1 ZPO maßgebliche Monatsfrist gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 SGG hier mit Ablauf des 25.09.2023, dem auf den Sonntag (Fristende) folgenden Montag, vergangen wäre. Allerdings war die öffentliche Zustellung des Beschlusses des SG vom 21.08.2023 unwirksam, weil die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung zum Zeitpunkt ihrer Bewilligung nicht gegeben waren. Gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1 SGG i.V.m. § 185 Nr. 1 ZPO kann die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung (öffentliche Zustellung) erfolgen, wenn der Aufenthaltsort einer Person unbekannt und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG und auch aller anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes ist im Lichte des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG eine öffentliche Zustellung nur als letztes Mittel zulässig und als ultima ratio nur zu rechtfertigen, wenn eine andere Form der Zustellung nicht oder nur schwer durchführbar ist (vgl. zuletzt BSG, Beschluss vom 14.12.2023 - B 4 AS 72/23 B, juris, Rn. 7; BFH, Beschluss vom 25.02.2016 - X S 23/15 (PKH), juris, Rn. 19; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13.09.2023 - L 8 R 1970/22, juris, Rn. 25; jeweils m.w.N.). Gegenüber einem obdach-/wohnungslosen Verfahrensbeteiligten obliegt dem Gericht eine gesteigerte Prozessfürsorgepflicht (vgl. BFH, Beschluss vom 25.02.2016, a.a.O., Rn. 20, für § 53 FGO als Parallelvorschrift zu § 63 SGG). Es hat daher für die Zustellung eines Schriftstücks einen Weg zu wählen, auf dem am ehesten damit gerechnet werden kann, dass der Beteiligte tatsächlich davon Kenntnis erhält (vgl. BFH, a.a.O., Rn. 21). Ist der Obdachlose postalisch lediglich über die Anschrift einer Beratungsstelle erreichbar, nimmt diese aber keine förmlichen Zustellungen entgegen, muss das Gericht förmlich zuzustellende Schriftstücke zumindest zusätzlich auch mit einfachem Brief an die Anschrift der Beratungsstelle übersenden, damit der Obdachlose die Möglichkeit hat, tatsächlich von dem Schriftstück Kenntnis zu nehmen (vgl. BFH, a.a.O., Rn. 20 f.). Gleiches gilt auch dann, wenn Briefe einen obdachlosen Verfahrensbeteiligten nur postlagernd erreichen und die Zustellung an die postlagernde Adresse scheitert. Auch in diesem Fall muss das Gericht das zuzustellende Schriftstück über die Bewilligung der öffentlichen Zustellung hinaus zumindest zusätzlich auch mit einfachem Brief an die postlagernde Anschrift des obdachlosen Verfahrensbeteiligten senden, damit dieser die Möglichkeit hat, tatsächlich von dem Schriftstück Kenntnis zu nehmen und seinen Anspruch auf rechtliches Gehör zu verwirklichen (LSG Baden-Württemberg, a.a.O., Rn. 25).

Im vorliegenden Fall genügt die öffentliche Zustellung des Beschlusses des SG vom 21.08.2023 nicht diesen Anforderungen. Abgesehen davon, dass das SG bereits zuvor gerichtliche Schreiben ohne Not öffentlich zugestellt hat, obwohl bei einer postlagernden Adresse zunächst die Versendung mit einfachem Brief und ggf. dann mit Einschreiben/ Rückschein (§ 176 Abs. 1 ZPO) nahegelegen hätte, ist die öffentliche Zustellung des Beschlusses am 21.08.2023 verfügt worden, ohne zuvor eine Versendung mit einfachem Brief und ggf. dann mit Einschreiben/Rückschein versucht zu haben. Darüber hinaus ist - nach den zuvor genannten Grundsätzen - mit der öffentlichen Zustellung des Beschlusses dieser nicht auch zusätzlich mit einfachem Brief an die postlagernde Anschrift der Ast. gesendet worden. Der Umstand, dass das SG den Beschluss später mit einfachem Brief vom 18.12.2023 an die postlagernde Anschrift der Ast. versandt hat, ändert nichts daran, dass die Voraussetzungen der öffentlichen Zustellung am 21.08.2023 nicht vorlagen. Die Gewährung nachträglichen Gehörs genügt den Anforderungen des Art. 103 Abs. 1 GG nur in Ausnahmefällen, wenn dies zum Schutz gewichtiger Interessen erforderlich ist, weil vorheriges Gehör den Zweck der Maßnahme vereitelten würde oder die Entscheidung nach vorheriger Anhörung zu spät käme (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13.09.2023 a.a.O., Rn. 26 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier ersichtlich nicht vor.

Die Beschwerde der Ast. ist jedoch unbegründet. Zu Recht hat sich das SG nach den im vorläufigen Rechtsschutzverfahren geltenden Maßstäben im angegriffenen Beschluss vom 21.08.2023 nicht davon überzeugen können, dass ein Anordnungsanspruch - hier ein Recht auf Benennung von drei Gutachtern sowie auf Zahlung einer Sanktion von 70 € je Woche seit dem 07.07.2022 - und ein Anordnungsgrund glaubhaft (gemacht) sind. Der Senat weist die Beschwerde aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses des SG zurück und nimmt nach eigener Würdigung gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG auf diese Gründe Bezug.

Abgesehen davon, ist für den Senat nicht nachvollziehbar, dass Zeit und Ort zur Begutachtung der Ast. offenbar bis heute nicht vereinbart werden konnten. Dass die Ast. wohnungslos ist und über keinerlei Kontaktmöglichkeiten außer der postlagernden Adresse verfügt, ist eine Sache. Sie hat dennoch einen Anspruch auf Begutachtung im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften, den die Ag. solange versuchen muss umzusetzen, bis es ihr gelingt, die Ast. über die postlagernde Adresse zu erreichen. Dass sich das im Schreiben vom 10.08.2023 enthaltene Angebot zur Begutachtung in der Bahnhofsmission A an das SG gerichtet hat, genügt dafür nicht. Andererseits ist es Sache der Ast., die beim SG und LSG zahlreiche Verfahren betreibt, die postlagerführende Postfiliale regelmäßig aufzusuchen, damit sichergestellt werden kann, dass gerichtliche Schreiben und Schreiben der Ag. die Ast. auch erreichen.

Nach alledem konnte die Beschwerde keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

 

Rechtskraft
Aus
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