L 12 SO 87/22

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 114/21
Datum
-
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 SO 87/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

I. Das Verfahren wird ausgesetzt.

 

II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

 

1. Ist Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit dahin auszulegen, dass die Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (SGB IX) in Gestalt von Schulassistenzleistungen eine Leistung im Sinne dieses Art. 3 darstellt und daher in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fällt?

 

Wenn Frage 1 verneint wird:

 

2. Ist Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.04.2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union dahin auszulegen, dass er einer Vorschrift des nationalen Rechts entgegensteht, die Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX in Gestalt von Schulassistenzleistungen von einem gewöhnlichen Aufenthalt im Inland abhängig macht?

 

3. Liegt eine nicht gerechtfertigte Beschränkung des Rechts der Unionsbürger gemäß Art. 20 und Art. 21 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vor, wenn die Gewährung der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX in Gestalt von Schulassistenzleistungen für Unionsbürger versagt wird, die ihren Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen (grenznahen) Mitgliedstaat haben, die Sachleistung aber im Aufenthaltsstaat erbracht wird?

 

Gründe:

 

Der Senat setzt das Verfahren entsprechend § 114 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) aus und legt dem EuGH die im Tenor genannten Fragen nach Art. 267 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 lit. a) AEUV zur Vorabentscheidung vor.

 

A. Streitgegenstand, Sachverhalt und Beurteilung nach nationalem Recht

 

I. Gegenstand und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattung für Leistungen der Eingliederungshilfe in Form von Schulassistenzleistungen für den Zeitraum vom 01.08.2021 bis 30.11.2021.

 

Die am 00.00.0000 in R. geborene Klägerin besitzt die deutsche und irische Staatsangehörigkeit und wohnt mit ihren Eltern und ihren drei Brüdern in der belgischen Stadt O., die unweit der deutsch-belgischen Grenze liegt. Die im Jahr 0000 geborene Mutter der Klägerin besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit und arbeitet seit dem 01.07.2021 als angestellte Ärztin in Vollzeit in R.. Der im Jahr 0000 geborene Vater der Klägerin ist irischer Staatsangehöriger, war EU-Beamter mit Einsatzort in N. und ist seit dem 01.04.2021 Rentner. Die Klägerin ist geistig behindert, leidet infolgedessen an einer Entwicklungsstörung und ist pflegebedürftig. Sie ist bei der L. in Deutschland und ergänzend in der Freien Krankenkasse in Belgien krankenversichert. Nach dem Besuch einer integrativen Kindertagesstätte in R. besuchte sie ab 2015 eine Förderschule in M. (Belgien). In den Schuljahren von 2017/2018 bis 2019/2020 besuchte sie eine Gemeinschaftsgrundschule in R.. Auf Antrag gewährte die Beklagte der Klägerin für die Schuljahre 2018/2019 und 2019/2020 Eingliederungshilfe in Form der Leistungen zur Teilhabe an Bildung durch Übernahme der Kosten einer Schulassistenz im Umfang von 15 Stunden pro Woche. Seit dem Schuljahr 2020/2021 besucht die Klägerin die Städtische Gesamtschule R.-S. im Ganztag. Auf ihren Antrag stockte die Beklagte die Eingliederungshilfeleistungen für dieses Schuljahr auf 35 Stunden pro Woche auf.

 

Einen Folgeantrag auf Gewährung von Eingliederungshilfeleistungen für das Schuljahr 2021/2022 lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 09.06.2021 ab und verwies zur Begründung darauf, dass die Klägerin wegen ihres gewöhnlichen Aufenthalts in Belgien von der Eingliederungshilfe ausgeschlossen sei. Aus den vergangenen Bewilligungsbescheiden könne sie keine weitergehenden Rechte ableiten, weil es keinen Anspruch auf eine fehlerhafte Wiederholung bei der Rechtsanwendung gebe. Den dagegen eingelegten Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 20.08.2021 zurück. Die Klägerin habe ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Deutschland. Bei Minderjährigen bestimme sich in der Regel der gewöhnliche Aufenthalt nach dem der Eltern, wenn sie mit diesen zusammenleben. Die Klägerin und ihre Familie hätten ihren Wohnsitz in Belgien. Die Arbeitstätigkeit der Mutter in Deutschland sei nicht entscheidend, weil diese sich nur während der Arbeitszeit in Deutschland aufhalte. An Wochenenden und Feiertagen sowie in Urlaubs- und Krankheitszeiten befinde sich der Lebensmittelpunkt dann ausschließlich in Belgien. Der Vater der Klägerin sei Rentner und habe damit ebenfalls seinen Lebensmittelpunkt am Wohnsitz in Belgien.

 

Dagegen hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Aachen erhoben. Zur Begründung führte sie aus, dass der Wohnsitz nur Indizwirkung für den gewöhnlichen Aufenthalt habe. Sie übernachte nur in Belgien. Ihr gesamtes restliches Leben spiele sich dagegen in R. ab. Sie gehe dort zur Schule und übe dort verschiedene Hobbys aus. Ihre Freunde und Familienangehörigen mütterlicherseits, zu denen ein enger Kontakt bestehe, wohnten in R.. Die Praxen ihrer Ärzte und Therapeuten befänden sich allesamt in Deutschland. Ihre Mutter arbeite in Deutschland, zahle dort Steuern und beteilige sich an der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Solange ihre Mutter Beiträge an die deutsche Sozialversicherung entrichte, müsse der deutsche Staat auch entsprechende Leistungen für ihre Kinder vorhalten.

 

Das Sozialgericht Aachen hat die Klage durch Urteil vom 25.01.2022 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass die Klägerin wegen ihres gewöhnlichen Aufenthalts in Belgien nach § 101 SGB IX von Eingliederungshilfeleistungen ausgeschlossen sei. Auch nach europarechtlichen Normen lasse sich der Anspruch nicht begründen. Leistungen der Eingliederungshilfe fielen nicht in den Anwendungsbereich von Art. 3 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004. Art. 3 Abs. 5 lit. a) VO (EG) Nr. 883/2004 bestimme ausdrücklich, dass die Verordnung nicht für soziale und medizinische Fürsorge gelte.

 

Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen eingelegten Berufung. Zur Begründung führt sie aus, dass der sachliche Anwendungsbereich von Art. 3 Abs. 1 lit. a) VO (EG) Nr. 883/2004 eröffnet sei. Die belgische Schulbehörde habe ihrer Familie nach Durchführung eines Assessmentverfahrens kein konkretes Angebot zu ihrer Beschulung unterbreitet. Man habe ihr vielmehr zu verstehen gegeben, dass eine inklusive Beschulung, wie sie sie benötigen würde, dort nicht realisierbar wäre. In Schulklassen an einer belgischen Regelschule würden zwar auch Kinder mit Behinderung unterrichtet, allerdings würden dort keine Inklusionsassistenten eingesetzt. Alle Kinder, die im Rahmen dieses Systems nicht beschult werden könnten, müssten die Förderschule besuchen.

 

Auf Anfrage des Senats hat die Klägerin unter Vorlage von Rechnungen mitgeteilt, dass sie die Kosten der Schulassistenz von August bis November 2021 in Höhe von 12.782,32 Euro selbst getragen hat. Im Januar 2022 erklärte sich die Deutschsprachige Gemeinschaft (DG) Belgiens bereit, die Kosten für die Schulbegleitung für die Zeit vom 01.12.2021 bis 30.06.2022 zu übernehmen. Das Ministerium der DG Belgiens erklärte ferner mit Schreiben vom 01.08.2022, dass auch die Kosten der Assistenzleistungen für das Schuljahr 2022/2023 übernommen würden. Die Kosten für die Assistenzleistungen im Schuljahr 2023/2024 tragen die Eltern der Klägerin dagegen selbst, nachdem die DG Belgiens die Kostenübernahme nicht verlängerte.

 

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

 

das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 25.01.2022 zu ändern und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 09.06.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.08.2021 zu verurteilen, ihr die für die Inanspruchnahme einer Schulassistenz im Zeitraum vom 01.08.2021 bis 30.11.2021 entstandenen Kosten in Höhe von 12.782,32 Euro zu erstatten.

 

Die Beklagte beantragt,

 

                                    die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie meint, dass Kinder mit einem sonderpädagogischen Bedarf in Belgien auch an einer Regelschule beschult werden könnten.

 

In einer schriftlichen Stellungnahme vom 07.04.2023 hat das Ministerium der DG auf Anfrage des Senats erklärt, dass die Kostenübernahme ab Dezember 2021 aus Kulanz erfolgt sei, um der Klägerin einen erneuten Schulwechsel zu ersparen. Dem Ministerium stünden Haushaltsmittel zur Verfügung, wenn in besonderen psycho-medizinisch-sozialen Notlagen für ein schulpflichtiges Kind keine zureichend qualifizierten Beschulungs- oder Betreuungsangebote in der DG existierten und extern eine entsprechende Facheinrichtung um Aufnahme ersucht werde. Für die Klägerin bestünden zwei realistische Optionen: entweder die Beschulung in einer Regel-Sekundarschule in M. bzw. in der Förder-Sekundarschule in M., die sich beide in der Trägerschaft der DG befänden, oder aber die Billigung eines Anschlussjahres an der Gesamtschule R.-S.. Betreuungen eins zu eins seien dabei an den Schulen in M. selten anzutreffen.

 

In einem Schreiben vom 03.05.2023 hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf Anfrage des Senats erklärt, dass die Regelung nach § 101 SGB IX dem anerkannten Grundsatz des Territorialprinzips entspreche. Für das europäische Ausland sei das Europäische Fürsorgeabkommen beachtlich. Dem Ministerium lägen keine Zahlen und Statistiken vor, die Aufschluss darüber gäben, welche Kosten durch den Leistungsausschluss nach § 101 SGB IX jährlich eingespart werden. Im Gesetzgebungsverfahren sei die Vereinbarkeit der Regelung mit Unionsrecht geprüft und bejaht worden.

 

II. Nationaler Rechtsrahmen

Die maßgeblichen Vorschriften des nationalen Rechts lauten wie folgt:

 

Verfassungsrecht: Art. 1 Grundgesetz (GG) (in der Fassung vom 23.05.1949, BGBl. I, S. 1): „(1) 1Die Würde des Menschen ist unantastbar. 2Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (…); Art. 3 GG (in der Fassung vom 23.05.1949, BGBl. I, S. 1):

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (…), (3) (…) 2Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. (…); Art. 20 GG (in der Fassung vom 23.05.1949, BGBl. I, S. 1): (1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (…)

 

Materielle Gesetze:

§ 30 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil (SGB I) (in der Fassung des Gesetzes vom 04.11.1982, BGBI. I, S. 1450): (1) Die Vorschriften dieses Gesetzbuchs gelten für alle Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Geltungsbereich haben.; (2) Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts bleiben unberührt: (3) 1Einen Wohnsitz hat jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, daß er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. 2Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt.

 

§ 18 SGB IX (in der Fassung des Gesetzes vom 23.12.2016, BGBl. I, S. 3234)

(6) 1Konnte der Rehabilitationsträger eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat er eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Leistungsberechtigten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese vom Rehabilitationsträger in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. (…)

 

§ 75 SGB IX (in der Fassung des Gesetzes vom 23.12.2016, BGBl. I, S. 3234)

(1) Zur Teilhabe an Bildung werden unterstützende Leistungen erbracht, die erforderlich sind, damit Menschen mit Behinderungen Bildungsangebote gleichberechtigt wahrnehmen können.

(2) 1Die Leistungen umfassen insbesondere 1. Hilfen zur Schulbildung, insbesondere im Rahmen der Schulpflicht einschließlich der Vorbereitung hierzu (…)

 

§ 90 SGB IX (in der Fassung des Gesetzes vom 23.12.2016, BGBl. I, S. 3234)

(1) 1Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. 2Die Leistung soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können. (…) (4) Besondere Aufgabe der Teilhabe an Bildung ist es, Leistungsberechtigten eine ihren Fähigkeiten und Leistungen entsprechende Schulbildung und schulische und hochschulische Aus- und Weiterbildung für einen Beruf zur Förderung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. (…)

 

§ 99 SGB IX (in der Fassung des Gesetzes vom 02.06.2021, BGBl. I, S. 1387)

(1) Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten Menschen mit Behinderungen im Sinne von § 2 Absatz 1 Satz 1 und 2, die wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind (wesentliche Behinderung) oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90 erfüllt werden kann. (…)

 

§ 101 SGB IX (in der Fassung des Gesetzes vom 02.06.2021, BGBl. I, S. 1387)

(1) 1Deutsche, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, erhalten keine Leistungen der Eingliederungshilfe. 2Hiervon kann im Einzelfall nur abgewichen werden, soweit dies wegen einer außergewöhnlichen Notlage unabweisbar ist und zugleich nachgewiesen wird, dass eine Rückkehr in das Inland aus folgenden Gründen nicht möglich ist: 1. Pflege und Erziehung eines Kindes, das aus rechtlichen Gründen im Ausland bleiben muss, 2. längerfristige stationäre Betreuung in einer Einrichtung oder Schwere der Pflegebedürftigkeit oder 3. hoheitliche Gewalt. (2) Leistungen der Eingliederungshilfe werden nicht erbracht, soweit sie von dem hierzu verpflichteten Aufenthaltsland oder von anderen erbracht werden oder zu erwarten sind. (…)

 

§ 104 SGB IX (in der Fassung des Gesetzes vom 23.12.2016, BGBl. I, S. 3234)

(1) 1Die Leistungen der Eingliederungshilfe bestimmen sich nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach der Art des Bedarfes, den persönlichen Verhältnissen, dem Sozialraum und den eigenen Kräften und Mitteln; dabei ist auch die Wohnform zu würdigen. (…)

 

§ 112 SGB IX (in der Fassung des Gesetzes vom 23.12.2016, BGBl. I, S. 3234)

(1) 1Leistungen zur Teilhabe an Bildung umfassen 1. Hilfen zu einer Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu; die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht bleiben unberührt (…)

 

Art. 19 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) (in der Fassung des Gesetzes vom 13.12.2006, BGBl. 2008 II, S. 1419): Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern, indem sie unter anderem gewährleisten, dass (…) b) Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist; (…)

 

III. Beurteilung nach nationalem Recht

Bei isolierter Betrachtung nach nationalem Recht ist die Berufung der Klägerin unbegründet. Sie hat gegen die sachlich und örtlich zuständige Beklagte keinen Kostenerstattungsanspruch. Dieser ergibt sich nicht aus der allein in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage des § 18 Abs. 6 S. 1 SGB IX, weil es an einem erforderlichen Sachleistungsanspruch mangelt.

 

1. Ein Sachleistungsanspruch auf Leistungen zur Teilhabe an Bildung als Eingliederungshilfe nach den §§ 75, 99 Abs. 1, 90 Abs. 1 und 4, 112 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB IX besteht nicht. Bei der Klägerin liegt eine wesentliche Behinderung gemäß § 2 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB IX vor, da ihre geistige Funktion wegen ihrer Grunderkrankung für länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher dadurch ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, gerade auch beim Besuch der Schule, beeinträchtigt ist. Der Anspruch aus § 112 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB IX umfasst auch Leistungen der Schulassistenz. Die Notwendigkeit der Schulbegleitung dem Grunde nach und im erfolgten Umfang von 35 Stunden in der Woche ergibt sich aus den mit dem Antrag eingereichten Unterlagen des Leistungserbringers und der Schule. Die Klägerin benötigt Unterstützung im Rahmen einer Eins-zu-eins-Betreuung in allen Tagesabläufen, die im Rahmen des Schulalltags anfallen, bei Unterrichtsaufgaben, bei den Mahl- und Pausenzeiten sowie in gezielten Einzelsituationen.

 

Dem Anspruch steht jedoch entgegen, dass die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Inland hat, sondern in Belgien, wodurch sie nach § 101 Abs. 1 S. 1 SGB IX von Leistungen ausgeschlossen ist. Ein minderjähriges Kind hat regelhaft seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I bei dem Elternteil, der das Personensorgerecht ausübt und bei dem es sich tatsächlich aufhält. Ungeachtet der vielfältigen Verbindungen der Klägerin und ihrer berufstätigen Mutter nach R., die zu nahezu täglichen Besuchen in dieser Stadt führen, hat die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt am Ort ihrer Wohnung in Belgien. Sie lebt ununterbrochen in dieser Wohnung und kehrt täglich zu ihr zurück. Eine Zweitwohnung in R. unterhalten sie und ihre Familie nicht. Der Vater der Klägerin, der mit ihrer Mutter das gemeinsame Sorgerecht ausübt, ist Rentner. Er hat seinen Lebensmittelpunkt in Belgien. Verbindungen nach Deutschland hat er nicht. Der Schwerpunkt der Lebensführung der Klägerin und ihrer Familie liegt damit in Belgien. Die Voraussetzungen der Rückausnahme vom Leistungsausschluss nach § 101 Abs. 1 S. 2 SGB IX liegen nicht vor. Es sind auch keine Leistungen im Sinne des § 101 Abs. 2 SGB IX von Belgien erbracht worden oder waren zu erwarten. Insbesondere kann die Klägerin nicht auf das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) vom 11.12.1953 (BGBl. II 1956, S. 564) verwiesen werden, weil keine Fürsorgeleistungen betroffen sind, die der belgische Staat seinen eigenen Staatsangehörigen gewährt, der Klägerin aber vorenthält (vgl. Art. 1 EFA). Die Übernahme der Schulassistenzkosten für den Zeitraum ab Dezember 2021 erfolgte – wie das Ministerium der DG bestätigt hat – allein aus Kulanz. Insofern ergibt sich übereinstimmend aus den Darstellungen der Eltern der Klägerin und der Stellungnahme des Ministeriums der DG Belgiens, dass die für die Beschulung der Klägerin an einer Regelschule erforderliche Eins-zu-eins-Betreuung in Belgien nicht gewährleistet ist.

 

2. Ein Sachleistungsanspruch ergibt sich nicht unmittelbar aus Art. 19 UN-BRK. Diese Konvention ist durch das Vertragsgesetz zur UN-BRK (BGBl. II 2008, S. 1419) in nationales Recht umgewandelt worden. Subjektive Ansprüche für behinderte Menschen vermittelt Art. 19 UN-BRK seinem Wortlaut nach nicht, sondern erklärt, dass die nähere Umsetzung des in Art. 19 UN-BRK eingeräumten Rechts den Vertragsstaaten vorbehalten bleiben soll. Diese Auslegung wird untermauert durch ein systematisches Argument: Die UN-BRK verwendet den Begriff „Anspruch“ dann, wenn subjektive Rechte der Menschen mit Behinderungen begründet werden sollen (z.B. in Art. 22 Abs. 1 S. 2 und Art. 30 Abs. 4 UN-BRK). Die Formulierung eines solchen „Anspruchs“ findet sich in Art. 19 UN-BRK dagegen nicht.

 

3. Die Klägerin kann gegen die Beklagte keine Rechte aus Art. 1 EFA als unmittelbar geltendes Bundesrecht ableiten, weil sie keine „Staatsangehörige des anderen Vertragschließenden“ (Belgien), sondern deutsche (und irische) Staatsangehörige ist.

 

4. Ein Sachleistungsanspruch lässt sich auch nicht aus dem Verfassungsrecht ableiten. Ein Anspruch folgt nicht aus dem Grundrecht auf Gewährleistung eines physischen und soziokulturellen Existenzminimums gemäß Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG. Der nationale Gesetzgeber hat nicht die Pflicht, Eingliederungshilfe auch für Auslandssachverhalte zu garantieren. Entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht das genannte Grundrecht auch nur für Menschen formuliert, die sich innerhalb des deutschen Hoheitsgebiets aufhalten (BVerfG Urteil vom 18.07.2012, 1 BvL 10/10 u.a., ECLI:DE:BVerfG:2012:ls20120718.1bvl001010, Rn. 63, juris). Dem Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist dadurch ausreichend Rechnung getragen, dass dem Hilfesuchenden bei Rückkehr nach Deutschland unter den gesetzlichen Voraussetzungen Eingliederungshilfe zusteht. Darüber hinaus darf der Gesetzgeber in Ansehung des Territorialitätsprinzips davon ausgehen, dass es grundsätzlich Aufgabe des Aufenthaltsstaates ist, im Falle von Hilfebedürftigkeit für entsprechende Fürsorgeleistungen Sorge zu tragen. § 101 SGB IX verstößt auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Differenzierungen durch den Gesetzgeber sind zulässig, bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (BVerfG Beschluss vom 07.04.2022, 1 BvL 3/18, ECLI:DE:BVerfG:2022:ls20220407.1bvl000318, Rn. 239, juris). Eine Ungleichbehandlung Deutscher im Ausland gegenüber denjenigen im Inland nach § 101 SGB IX ist dadurch gerechtfertigt, dass die Eingliederungshilfe keinen Leistungsexport vorsieht. Der Gesetzgeber durfte die Gewährung von Eingliederungshilfe an im Ausland lebende Deutsche im Interesse des Gemeinwohls an der zweckgerechten Verwendung von Steuermitteln an strenge Voraussetzungen knüpfen. Die für den Betroffenen grundsätzlich bestehende Rückkehrpflicht rechtfertigt sich daraus, dass regelmäßig nur im Inland die Überprüfbarkeit einer konkreten und aktuellen Hilfebedürftigkeit hinreichend gewährleistet ist. Den schützenswerten Interessen des Betroffenen wird dadurch Rechnung getragen, dass § 101 Abs. 1 S. 2 SGB IX Ausnahmegründe normiert, in welchen von diesem eine Rückkehr ins Inland nicht verlangt wird. Eine Benachteiligung wegen einer Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG liegt nicht vor; sie wäre aber auch wegen der voranstehenden Erwägungen sachlich gerechtfertigt.

 

B. Vorlage und Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen

Zwar ist der Senat nicht zur Durchführung eines Vorabentscheidungsersuchens verpflichtet, da gegen seine Entscheidung ein Rechtsmittel gegeben ist. Der Senat hält indes bereits im Berufungsverfahren eine Vorlage an den EuGH für geboten, um das Verfahren zu beschleunigen und dem EuGH Gelegenheit zu geben, die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht unter Berücksichtigung seiner bisherigen Rechtsprechung zu vergleichbaren Fällen zu prüfen. Der Ausgang des Rechtsstreits hängt von der Auslegung des Unionsrechts ab.

 

I. Unionsrechtlicher Rechtsrahmen

Die im Streitfall maßgeblichen Bestimmungen des Unionsrechts sind:

 

Art. 20, 21 und 45 AEUV in der konsolidierten Fassung vom 07.06.2016 (ABl. C 202 vom 07.06.2016, S. 56-57);

Art. 1, 3, 11, 18 und 70 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166 vom 30.04.2004, S. 1-123);

Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.04.2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27.05.2011, S. 1-12)

 

II. Entscheidungserheblichkeit der Auslegung des EU-Rechts für das Ausgangsverfahren

Die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen sind für den Ausgang des Rechtsstreits entscheidungserheblich. Würden die vorgelegten Fragen 1, 2 oder 3 bejaht werden, hätte die Berufung der Klägerin Erfolg und die Entscheidung des Sozialgerichts R. müsste geändert werden. Würden alle Fragen verneint werden, wäre die Berufung zurückzuweisen. Nachfolgend werden die Zweifel des Senats an der Auslegung der Vorschriften des Unionsrechts, die für das Ausgangsverfahren entscheidungserheblich sind, anhand der Vorlagefragen erläutert.

 

1. Zur Vorlagefrage 1

a. Im Rahmen der Vorlagefrage 1 ist klärungsbedürftig, ob der persönliche und sachliche Anwendungsbereich der VO (EG) Nr. 883/2004 eröffnet ist.

 

Es ist zunächst unschädlich, dass die Bundesrepublik Deutschland bislang nicht erklärt hat, dass die Regelungen zur Eingliederungshilfe nach den §§ 90-150a SGB IX in den Geltungsbereich der VO (EG) Nr. 883/2004 fallen. Der EuGH hat bereits entschieden, dass das Fehlen einer solchen Erklärung nicht zur Folge hat, dass ein bestimmtes Gesetz automatisch vom sachlichen Geltungsbereich der Verordnung ausgenommen ist (vgl. etwa EuGH Urteil vom 25.07.2018, A [Hilfe für eine schwerbehinderte Person], C-679/16, ECLI:EU:C:2018:601, Rn. 30).

 

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH hängt die Unterscheidung zwischen Leistungen, die vom Geltungsbereich der VO (EG) Nr. 883/2004 erfasst sind, und solchen, die von ihm ausgeschlossen sind, im Wesentlichen von den grundlegenden Merkmalen der jeweiligen Leistung ab, insbesondere von ihrem Zweck und den Voraussetzungen ihrer Gewährung, nicht dagegen davon, ob eine Leistung von den nationalen Rechtsvorschriften als eine Leistung der sozialen Sicherheit eingestuft wird (vgl. etwa EuGH Urteile vom 14.03.2019, Dreyer, C-372/18, ECLI:EU:C:2019:206, Rn. 31; vom 12.03.2020, Caisse d’assurance retraite et de la santé au travail d’Alsace-Moselle, C-769/18, ECLI:EU:C:2020:203, Rn. 26; und vom 15.06.2023, Thermalhotel Fontana Hotelbetriebsgesellschaft m.b.H., C-411/22, ECLI:EU:C:2023:490, Rn. 22). Somit kann eine Leistung als Leistung der sozialen Sicherheit betrachtet werden, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich, wenn sie zum einen den Begünstigten ohne jede im Ermessen liegende individuelle Prüfung der persönlichen Bedürfnisse aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt wird und sie sich zum anderen auf eines der in Art. 3 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht (EuGH Urteile vom 14.03.2019, Dreyer, C-372/18, ECLI:EU:C:2019:206, Rn. 32; und vom 15.06.2023, Thermalhotel Fontana Hotelbetriebsgesellschaft m.b.H., C-411/22, ECLI:EU:C:2023:490, Rn. 23). Diese beiden Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen (EuGH Urteil vom 25.07.2018, A [Hilfe für eine schwerbehinderte Person], C-679/16, ECLI:EU:C:2018:601, Rn. 33).

 

Die erste dieser Voraussetzungen ist erfüllt, wenn eine Leistung nach objektiven und gesetzlich festgelegten Kriterien gewährt wird, deren Vorliegen den Anspruch auf diese Leistung begründet, ohne dass die zuständige Behörde sonstige persönliche Verhältnisse berücksichtigen darf (EuGH Urteile vom 15.07.2021, A [Öffentliche Gesundheitsversorgung], C-535/19, ECLI:EU:C:2021:595, Rn. 30; und vom 25.07.2018, A [Hilfe für eine schwerbehinderte Person], C-679/16, ECLI:EU:C:2018:601, Rn. 34). Diese Voraussetzung ist dann nicht erfüllt, wenn sich der Ermessenscharakter der Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Empfängers einer Leistung durch die zuständige Behörde vor allem auf die Eröffnung des Anspruchs auf diese Leistung bezieht (EuGH Urteil vom 25.07.2018, A [Hilfe für eine schwerbehinderte Person], C-679/16, EU:C:2018:601, Rn. 38). Diese Erwägungen gelten entsprechend für den individuellen Charakter der Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Empfängers einer Leistung durch die zuständige Behörde (EuGH Urteil vom 14.03.2019, Dreyer, C-372/18, ECLI:EU:C:2019:206, Rn. 35).

 

Der Senat geht davon aus, dass die erste Voraussetzung nicht erfüllt ist. Das SGB IX unterteilt die Eingliederungshilfeleistungen in Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen der sozialen Teilhabe, der Teilhabe am Arbeitsleben und der Teilhabe an Bildung. Die Eingliederungshilfe als Leistung der Teilhabe an Bildung in Form der hier streitbefangenen Schulassistenz nach §§ 75, 99 Abs. 1, 90 Abs. 1 und 4, 112 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB IX ist nicht von objektiven Voraussetzungen wie insbesondere dem genauen Prozentsatz oder Grad einer Beschädigung oder Behinderung abhängig. Des Weiteren wird die Eingliederungshilfe entsprechend dem persönlichen Bedarf des Betroffenen auf der Grundlage einer individuellen Prüfung dieses Bedarfs durch die zuständige Behörde gewährt (vgl. § 104 Abs. 1 S. 1 SGB IX; vgl. zur Eingliederungshilfe nach § 35a Sozialgesetzbuch Achtes Buch – Kinder- und Jugendhilfe [SGB VIII]: EuGH Urteil vom 12.03.2020, Caisse d’assurance retraite et de la santé au travail d’Alsace-Moselle, C-769/18, ECLI:EU:C:2020:203, Rn. 30 f.).

 

Ferner hat der Senat Zweifel, ob die Eingliederungshilfe in Form der Schulassistenz als Leistung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004, insbesondere – wie die Klägerin geltend macht – als Leistung bei Krankheit nach dessen lit. a) eingestuft werden kann. Üblicherweise wird unter „Krankheit“ in diesem Sinne eine vorübergehende Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes gesehen (EuGH Urteil vom 21.07.2011, Stewart, C-503/09, ECLI:EU:C:2011:500, Rn. 37). Der EuGH subsumiert ferner unter Leistungen bei Krankheit auch Leistungen der medizinischen Rehabilitation der deutschen Rentenversicherung (vgl. EuGH Urteil vom 10.01.1980, Jordens-Vosters, C-69/79, ECLI:EU:C:1980:7, Rn. 7). Die Eingliederungshilfe nach dem SGB IX wird jedoch nicht als zeitlich begrenzte Leistung im Zusammenhang mit einer vorübergehenden Gesundheitsbeeinträchtigung gewährt. Sie ist – in Gestalt der Schulassistenz – auch keine Leistung der medizinischen Rehabilitation, sondern eine Leistung der Teilhabe an Bildung. Diese bezweckt, den Berechtigten eine ihren Fähigkeiten und Leistungen entsprechende Bildung zu ermöglichen und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern (§ 90 Abs. 4 SGB IX).

 

Daher stellt sich für den Senat die Frage, ob es sich bei der Eingliederungshilfe nicht vielmehr um Leistungen der „sozialen Fürsorge“ handelt, die nach Art. 3 Abs. 5 lit. a) VO (EG) Nr. 883/2004 explizit vom sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen sind. Das grundlegende Abgrenzungsmerkmal liegt einerseits im nicht hinreichenden Bezug der Leistung zu einem der in Art. 3 Abs. 1 der VO (EG) aufgezählten Risiken und in der Bedürftigkeit als „wesentliches Anwendungskriterium“ (vgl. EuGH Urteile vom 22.06.1972, Frilli, C-1/72, ECLI:EU:C:1972:56, Rn. 14/15; und vom 27.03.1985, Hoeckx, C-249/83, ECLI:EU:C:1985:139, Rn. 13). In den sachlichen Geltungsbereich der Koordinierungsverordnung sollen grundsätzlich nur Leistungen der sozialen Sicherheit fallen, wenn sie den Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands ohne jede im Ermessen liegende individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit gewährt werden (vgl. EuGH Urteile vom 05.05.1983, Piscitello, C-139/82, ECLI:EU:C:1983:126, Rn. 13; und vom 16.09.2015, Kommission/Slowakei, C-433/13, ECLI:EU:C:2015:602, Rn. 71 ff.) und regelhaft Berufstätigkeits-, Beitrags- oder Mitgliedschaftszeiten voraussetzen (EuGH Urteil vom 27.03.1985, Hoeckx, C-249/83, ECLI:EU:C:1985:139, Rn. 13). Zentrales Element einer Fürsorgeleistung bildet demgegenüber auch die Subsidiarität der Leistung gegenüber privatrechtlichen Unterhaltsansprüchen oder vorrangigen Sozialleistungen (EuGH Urteil vom 27.03.1985, Hoeckx, C-249/83, ECLI:EU:C:1985:139, Rn. 13). Nach Auffassung des Senats spricht Einiges dafür, die Eingliederungshilfe nach dem SGB IX dem Bereich der sozialen Fürsorge zuzuordnen. Dieser Leistungsart dürfte der Zusammenhang mit einem der in Art. 3 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 bezeichneten Risiken fehlen. Berufstätigkeits-, Beitrags- oder Mitgliedschaftszeiten spielen für die Anspruchsentstehung der aus Steuermitteln finanzierten Eingliederungshilfe keine Rolle. Die Eingliederungshilfe wird zudem einzelfallorientiert (§ 104 Abs. 1 SGB IX) und gegenüber Leistungen von anderen oder von Trägern anderer Sozialleistungen nachrangig (§ 91 Abs. 1 SGB IX) erbracht. Auch wenn das Gesetz für bestimmte Leistungen der Eingliederungshilfe – so auch für die hier streitbefangenen Leistungen zur Teilhabe an Bildung – eine Beitragsfreiheit vorsieht (§ 138 SGB IX), dürfte das der Einstufung als Fürsorgeleistung nicht zwingend entgegenstehen. Dafür spricht, dass eine klare Trennlinie zwischen Leistungen der sozialen Sicherheit und Leistungen der Sozialhilfe nicht ohne Weiteres gezogen werden kann, weil in vielen Mitgliedstaaten auch beitragsunabhängige Rechtsansprüche (ohne Ermessen) implementiert worden sind. Vergleichbar ist die Eingliederungshilfe nach dem SGB IX im Übrigen mit der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nach § 35a SGB VIII, für die der EuGH den Sozialhilfecharakter ebenfalls bejaht hat (vgl. EuGH Urteil vom 12.03.2020, Caisse d’assurance retraite et de la santé au travail d’Alsace-Moselle, C-769/18, ECLI:EU:C:2020:203, Rn. 27 ff.).

 

Bei der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX handelt es sich nicht um eine besondere beitragsunabhängige Geldleistung gemäß Art. 70 VO (EG) Nr. 883/2004, weil sie in Anhang X der Verordnung nicht enthalten ist.

 

b. Ginge der EuGH von der Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs der VO (EG) Nr. 883/2004 aus, müsste die Klägerin auch dem persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung unterfallen. Grundsätzlich wäre Belgien als Wohnmitgliedstaat nach Art. 11 Abs. 3 lit. e) VO (EG) Nr. 883/2004 zuständig. Allerdings könnte für die Klägerin hier eine anders lautende Bestimmung im Sinne dieser Norm greifen. Wenn der EuGH die Eingliederungshilfe nach dem SGB IX in Gestalt der Schulassistenz als Leistung bei Krankheit einstuft, hätte die Klägerin als Familienangehörige einer Grenzgängerin einen Anspruch aus Art. 18 Abs. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 883/2004. Die Bundesrepublik Deutschland als dann „zuständiger Mitgliedstaat“ im Sinne des Art. 1 lit. s) VO (EG) Nr. 883/2004 ist nicht im Anhang III aufgeführt, so dass die Einschränkung nach Art. 18 Abs. 2 S. 2 der Verordnung nicht greifen würde.

 

Zur Vorlagefrage 2

Bezogen auf die zweite Vorlagefrage hält es der Senat für klärungsbedürftig, ob der Ausschluss eines Unionsbürgers von Leistungen der Eingliederungshilfe mit Art. 7 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 vereinbar ist, wenn er nicht im Aufenthaltsstaat (Deutschland), sondern in einem grenznahen Mitgliedstaat (Belgien) wohnt. Nach dieser Norm genießt ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer. Dies setzt grundsätzlich eine fortwirkende Arbeitnehmereigenschaft i.S.v. Art. 45 AEUV und die Zugehörigkeit zur Gesellschaft des Gastlandes diesem gegenüber voraus. Soziale Vergünstigungen in diesem Sinne müssen nach der Rechtsprechung des EuGH nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Arbeitsverhältnis gewährt werden (vgl. EuGH Urteile vom 31.05.1979, Even und ONPTS, C-207/78, ECLI:EU:C:1979:144, Rn. 22; vom 14.01.1982, Reina, C-65/81, ECLI:EU:C:1982:6, Rn. 12; und vom 12.07.1984, Castelli, C-261/83, ECLI:EU:C:1984:280, Rn. 11). Vielmehr genügt es, wenn die Vergünstigungen „den inländischen Arbeitnehmern hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnorts im Inland gewährt werden und deren Ausdehnung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, deshalb als geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der Union zu erleichtern“ (EuGH Urteil vom 12.07.1984, Castelli, C-261/83, ECLI:EU:C:1984:280, Rn. 11). Leistungen an Familienangehörige des Grenzarbeitnehmers sind dann „soziale Vergünstigungen“ des Grenzarbeitnehmers im Sinne von Art. 7 Abs. 2 VO (EU) Nr. 492/2011, wenn sich die aus den Leistungen erwachsenen Vorteile zugleich als Vergünstigungen zugunsten des Grenzarbeitnehmers selbst darstellen (EuGH Urteil vom 10.09.2009, Kommission/Deutschland, C-269/07, ECLI:EU:C:2009:527, Rn. 65), was wiederum dann der Fall ist, wenn der Grenzarbeitnehmer für den Unterhalt der unmittelbar begünstigten Personen zu sorgen hat (EuGH Urteil vom 18.06.1987, Lebon C-316/85, ECLI:EU:C:1987:302, Rn. 12 f.).

 

Der persönliche Anwendungsbereich der Norm dürfte eröffnet sein. Die Mutter der Klägerin, die ebenfalls deutsche Staatsbürgerin ist, ist seit dem 01.07.2021 in einer arbeitsmedizinischen Praxis in R. als angestellte Ärztin in Vollzeit tätig. Da diese Arbeitnehmerin von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, ist sie berechtigt, sich gegenüber dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, auf Art. 7 Abs. 2 der VO (EU) Nr. 492/2011 zu berufen. Die Mutter der Klägerin gewährt der minderjährigen Klägerin Unterhalt.

 

Ob Leistungen der Eingliederungshilfe in Gestalt von Assistenzleistungen für den Schulbesuch des Kindes eines Grenzarbeitnehmers eine „soziale Vergünstigung“ im Sinne des Art. 7 Abs. 2 VO (EU) Nr. 492/2011 darstellen, hat der EuGH bislang noch nicht entschieden. Der EuGH betont aber, dass diese Norm eine besondere Ausprägung des in Art. 45 AEUV enthaltenen Gleichbehandlungsgrundsatzes auf dem spezifischen Gebiet der Gewährung sozialer Vergünstigungen darstellt und daher ebenso wie Art. 45 AEUV auszulegen ist (EuGH Urteile vom 02.04.2020, PF u.a., C-830/18, ECLI:EU:C:2020:275, Rn. 29; vom 10.10.2019, Krah, C703/17, ECLI:EU:C:2019:850, Rn. 21; und vom 20.06.2013, Giersch u.a., C20/12, ECLI:EU:C:2013:411, Rn. 35). Vor dem Hintergrund, dass Art. 7 Abs. 2 VO (EG) Nr. 492/2011 eine Auffangfunktion zukommt, hat der EuGH bei der Bestimmung der „sozialen Vergünstigung“ (in Abgrenzung zur sozialen Sicherheit) bislang ein eher weites Verständnis zugrunde gelegt (vgl. etwa EuGH Urteile vom 28.05.1974, Callemeyn, C-187/73, ECLI:EU:C:1974:57, Rn. 14 f.; vom 18.07.2007, Hartmann, C-212/05, ECLI:EU:C:2007:437; und vom 21.12.2023, Chief Appeals Officer u.a., C-488/21, ECLI:EU:C:2023:1013, Rn. 64 ff.). Diese weite Auslegung könnte dafür sprechen, die Eingliederungshilfe nach dem SGB IX in Gestalt der Schulassistenzleistungen ebenfalls darunter zu subsumieren. Der Senat verweist in diesem Zusammenhang auf das Urteil des EuGH vom 02.04.2020 (PF u.a., C-830/18, ECLI:EU:C:2020:275), in welchem dieser ausgeführt hat, dass das Wohnsitzerfordernis als Voraussetzung für die Übernahme von Schülerbeförderungskosten eine europarechtswidrige nicht gerechtfertigte mittelbare Diskriminierung von Kindern von Grenzarbeitnehmern darstelle. Maßgeblich sei allein, dass die Mutter der (dortigen) Kläger als Arbeitnehmerin in Deutschland tätig sei und die Familienangehörigen in den Genuss der „sozialen Vergünstigungen“ kämen (EuGH Urteil vom 02.04.2020, PF u.a., C-830/18, ECLI:EU:C:2020:275, Rn. 21 ff.). Auf die Frage, ob die Kläger in Frankreich, ihrem Wohnsitzstaat, eine Schule gleicher Art hätten besuchen können, ging der EuGH ebenso wenig ein wie auf die Frage, ob der Schulbesuch seinerseits mit Kosten für die Eltern verbunden ist. Auf diese Umstände dürfte es im hiesigen Verfahren ohnehin nicht ankommen, weil die Eltern der Klägerin für deren Schulbesuch keinen finanziellen Beitrag leisten müssen und Eingliederungshilfeleistungen der gleichen Art (im Sinne einer Eins-zu-eins-Schulassistenz) in Belgien nicht zur Verfügung stehen.

 

Der in Art. 7 VO (EU) Nr. 492/2011 und Art. 45 AEUV niedergelegte Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verschleierten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungskriterien tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen (EuGH Urteile vom 10.10.2019, Krah, C703/17, ECLI:EU:C:2019:850, Rn. 23; vom 13.03.2019, Gemeinsamer Betriebsrat EurothermenResort Bad Schallerbach, C437/17, ECLI:EU:C:2019:193, Rn. 18; und vom 08.05.2019, Österreichischer Gewerkschaftsbund, C24/17, ECLI:EU:C:2019:373, Rn. 70). Die vom SGB IX statuierte Voraussetzung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Inland, um in den Genuss von Eingliederungshilfe zu kommen, könnte eine mittelbare Diskriminierung darstellen, da sie sich ihrem Wesen nach eher auf Grenzarbeitnehmer als auf inländische Arbeitnehmer auswirken kann und folglich die Gefahr besteht, dass sie Grenzarbeitnehmer besonders benachteiligt.

 

Geht der EuGH von einer mittelbaren Diskriminierung aus, stellt sich die Frage nach einer etwaigen Rechtfertigung. Eine mittelbare Diskriminierung ist grundsätzlich verboten, sofern sie nicht objektiv gerechtfertigt ist. Dafür muss sie geeignet sein, die Verwirklichung eines legitimen Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zu seiner Erreichung erforderlich ist (EuGH Urteil 10.07.2019, Aubriet, C-410/18, ECLI:EU:C:2019:582, Rn. 29). Der Zweck der Regelung wird aus der Gesetzgebungshistorie ersichtlich: Bis zum 31.12.2003 konnte Deutschen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hatten, in besonderen Notfällen Sozialhilfe gewährt werden. Seit dem 01.01.2004 sieht § 24 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe (SGB XII) vor, dass Sozialhilfeleistungen im Regelfall gänzlich ausgeschlossen und Ausnahmen nur in engen Grenzen möglich sind. Diese erhebliche Einschränkung ging zurück auf einen in der deutschen Öffentlichkeit diskutierten Fall eines in Florida (USA) lebenden hilfebedürftigen Deutschen. Das Sozialamt hatte dessen Miete für ein Appartement in unmittelbarer Strandnähe übernommen. In der Gesetzesbegründung zu § 24 SGB XII verweist der Gesetzgeber darauf, dass die „Berechtigung einer Sozialhilfegewährung an Deutsche im Ausland in der öffentlichen Diskussion generell in Frage“ gestellt worden sei „und sogar die Akzeptanz der Sozialhilfe als unterstes soziales Netz gelitten“ habe (BT-Drucks. 15/1761, S. 6). Mit Wirkung zum 01.01.2020 wurde die Eingliederungshilfe, die bis dahin Teil der Sozialhilfe nach dem SGB XII war, aus dem SGB XII herausgelöst und als neu geschaffenes Leistungssystem mit neuer Zuständigkeitsregelung in das SGB IX überführt. Die in § 101 SGB IX aufgenommene Regelung entspricht inhaltlich im Wesentlichen der in § 24 SGB XII. In seiner Gesetzesbegründung zu § 101 SGB IX (BT-Drucks. 18/9522, S. 278) verweist der Gesetzgeber daher auf die Parallelvorschrift des § 24 SGB XII.

 

Die Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit kann vor diesem Hintergrund einen legitimen Zweck des Allgemeininteresses für den Leistungsausschluss darstellen. Wenn die nationale Ausschlussnorm – wie hier in § 101 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 SGB IX – Härtefallausnahmen vorsieht, die im Wesentlichen an eine potentiell mögliche und wahrscheinliche Leistungserbringung im Wohnstaat geknüpft sind, dann kann das ebenfalls gegen die Annahme einer ungerechtfertigten Diskriminierung sprechen. Für die Europarechtskonformität des § 101 Abs. 1 S. 1 SGB IX könnte schließlich noch ins Feld geführt werden, dass das in Art. 18 AEUV in allgemeiner Weise niedergelegte Diskriminierungsverbot für medizinische und soziale Fürsorgeleistungen in Art. 3 Abs. 5 VO (EG) Nr. 883/2004 konkretisiert worden sein kann (vgl. zu Art. 24 der Richtlinie 2004/38/EG und Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004: EuGH Urteil vom 11.11.2014, Dano, C-333/13, ECLI:EU:C:2014:2358, Rn. 61). Würde der EuGH eine solche Fürsorgeleistung annehmen, könnte das bereits für eine Rechtfertigung einer mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Wohnsitzes ausreichen. Insofern ließe sich argumentieren, dass die Eingliederungshilfe im unionsrechtlichen Sinne ein Leistungssystem der sozialen Fürsorge darstellt und insoweit von der „Exportierbarkeit“ ausgenommen ist. Dem entspräche auch, dass die Norm den völkerrechtlich fundierten Territorialitätsgrundsatz bekräftigt, dass staatliche (und aus Steuermitteln finanzierte) Fürsorgeleistungen nur an Personen mit Wohnsitz im eigenen Hoheitsgebiet zu gewähren sind.

 

Andererseits ist fraglich, ob der Leistungsausschluss nach § 101 Abs. 1 S. 1 SGB IX zur zweckgerechten Verwendung von Steuermitteln tatsächlich erforderlich ist. Aus der vom Senat eingeholten Stellungnahme des zuständigen Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ergibt sich nicht, in welchem Umfang Deutschland durch den Leistungsausschluss nach § 101 Abs. 1 S. 1 SGB IX tatsächlich Ausgaben spart. Vor der zum 01.01.2004 erfolgten Verschärfung der Leistungsinanspruchnahme ging der Gesetzgeber von einem überschaubaren Adressatenkreis von weniger als 1.000 Personen aus (BR-Drucks. 658/03, S. 1). Gegenüber der Gesamtzahl von damals 2,91 Millionen Sozialhilfeempfängern war diese Zahl sehr gering. Ferner ist zu berücksichtigen, dass wegen des Leistungsausschlusses deutsche Staatsbürger potentiell zur Rückkehr gezwungen sind und dadurch eine Kostensteigerung auslösen. Soweit der Gesetzgeber mit der Verschärfung der Gesetzesfassung die missbräuchliche Inanspruchnahme von Leistungen reduzieren wollte, erscheint auch dieser Zweck – gerade auch unter Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen – jedenfalls für das SGB IX zweifelhaft. Für Sachleistungen, die im Inland erbracht werden, stellt sich das Problem eines Leistungsmissbrauchs – anders als etwa der Transfer von Geldleistungen ins Ausland nach dem Recht der Sozialhilfe (SGB XII) – nicht. Soweit der Zweck des Leistungsausschlusses auch darin erblickt werden kann, die Behörde von einer umständlichen Prüfung der Leistungsvoraussetzungen gegenüber im Ausland lebenden Deutschen freizustellen, bleibt die Erforderlichkeit jedenfalls für Grenzgänger und ihre sich im Inland aufhaltenden Familienangehörigen fragwürdig. Die streitbefangene Sachleistung wird nicht ins Ausland exportiert, sondern im Inland erbracht. Auch der Zugriff auf die Antragsteller zur Klärung der Sachleistungsvoraussetzungen wäre grundsätzlich gegeben und insoweit ein Unterschied zu Deutschen bzw. Unionsbürgern, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, nicht ersichtlich. Schließlich ist zu betonen, dass der Gesetzgeber mit der Ausgliederung der Eingliederungshilfe aus dem SGB XII ausdrücklich das Ziel verfolgt hat, Leistungen für Menschen mit Behinderungen aus den bisherigen Fürsorgesystemen herauszuführen und die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterzuentwickeln, was insbesondere in § 90 Abs. 1 und 4 SGB IX zum Ausdruck kommt. Der Senat hält es für denkbar, in diesem Zusammenhang die Wertungen von Art. 19 UN-BRK und Art. 26 UN-Grundrechte-Charta zu berücksichtigen.

 

Hinweise darauf, dass die Klägerin die Voraussetzungen für den Erhalt der fraglichen sozialen Vergünstigungen nach Art. 7 Abs. 2 VO (EU) Nr. 492/2011 willkürlich herbeigeführt und damit rechtmissbräuchlich gehandelt hätte (vgl. dazu EuGH Urteile vom 17.07.2014, Torresi, C-58/13 und C-59/13, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 42, 46; und vom 06.10.2020, Jobcenter Krefeld, C-181/19, ECLI:EU:C:2020:794, Rn. 76) liegen nicht vor. Nach den Feststellungen des Senats wird eine vergleichbare, den behinderungsbedingten Einschränkungen der Klägerin angemessene Schulassistenz in Belgien nicht angeboten, sodass die Inanspruchnahme der Leistung in Deutschland nachvollziehbar ist. Zwar können Schüler mit Behinderungen an einer belgischen Regelschule unterrichtet werden. Allerdings erfolgt die Betreuung dort nicht durch einen einzelnen Assistenten pro Schüler, sondern durch einen Förderlehrer, der sich gleichzeitig um mehrere Kinder in einer Klasse kümmert. Die Klägerin benötigt aufgrund ihrer Behinderung jedoch eine Eins-zu-eins-Betreuung im Rahmen des Schulalltags, sowohl im Unterricht als auch in den Pausenzeiten. Dass die Leistungsinanspruchnahme in Deutschland nicht willkürlich erfolgt, zeigt sich auch daran, dass die Klägerin neben ihrer deutschen Staatsangehörigkeit auch sonst eine hinreichende „tatsächliche Verbindung“ zu Deutschland als Aufenthaltsstaat aufweist: Sie besucht hier regelmäßig Familienangehörige, ist hier krankenversichert, nimmt Termine bei ihren Ärzten und Therapeuten wahr, geht Freizeitaktivitäten nach und hat eine Mutter, die als Arbeitnehmerin eine Erwerbstätigkeit im Inland ausübt.

 

Zur Vorlagefrage 3

Der Leistungsausschluss nach § 101 Abs. 1 S. 1 SGB IX könnte schließlich eine sachlich nicht gerechtfertigte Beschränkung des Rechts der Unionsbürger gemäß Art. 20 und Art. 21 Abs. 1 AEUV darstellen. Nach Art. 18 Abs. 1 AEUV ist jede Diskriminierung von Unionsbürgern aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten. Diese haben nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 lit. a) AEUV und Art. 21 Abs. 1 AEUV insbesondere das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Der EuGH hat die unionsbürgerschaftlich begründete Freizügigkeit zu einem Beschränkungsverbot ausgeweitet. Eine nationale Regelung, die bestimmte eigene Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, stellt eine Beschränkung der Freiheiten dar, die Art. 21 AEUV jedem Unionsbürger verleiht (EuGH Urteile vom 18.07.2006, De Cuyper, C-406/04, ECLI:EU:C:2006:491, Rn. 39; und vom 26.02.2015, Martens, C-359/13, ECLI:EU:C:2015:118, Rn. 25). Die vom Vertrag eröffneten Erleichterungen der Freizügigkeit könnten ihre volle Wirkung nicht entfalten, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von ihrer Wahrnehmung durch Hindernisse abgehalten werden könnte, die seinem Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat infolge einer Regelung seines Herkunftsstaats entgegenstehen, die Nachteile daran knüpft, dass er von diesen Erleichterungen Gebrauch gemacht hat (EuGH Urteil vom 26.02.2015, Martens, C-359/13, ECLI:EU:C:2015:118, Rn. 26).

 

Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung kann im Leistungsausschluss nach § 101 Abs. 1 S. 1 SGB IX eine Beschränkung des Freizügigkeitsrechts gesehen werden. Die Regelung würde die Klägerin als deutsche Staatsbürgerin allein deshalb benachteiligen, weil sie sich entschieden hat, ihren Wohnort bzw. gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien zu nehmen und damit von ihrer Freizügigkeit Gebrauch zu machen. In diesem Zusammenhang könnten die Erwägungen des EuGH in seinem Urteil vom 25.07.2018 (A [Hilfe für eine schwerbehinderte Person], C-679/16, EU:C:2018:601) auf diesen Fall übertragen werden. Streitgegenständlich war dort die Erbringung einer behinderungsbedingten persönlichen Assistenz zur Förderung einer Hochschulausbildung in Estland durch den Herkunftsstaat Finnland. Errichte ein Mitgliedstaat ein System zur Förderung der Hochschulausbildung in einem Mitgliedstaat oder außerhalb von diesem, müsse er dafür Sorge tragen, so der EuGH, dass die Modalitäten der Bewilligung dieser Förderung das Recht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV nicht in ungerechtfertigter Weise beschränkten (EuGH a.a.O., Rn. 59). Für die Übertragung dieser Erwägungen auf den hiesigen Fall kann sprechen, dass der EuGH – unter Verweis auf seine frühere Rechtsprechung – betont, der Unionsbürgerstatus als grundlegender Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten erlaube es diesen, im sachlichen Anwendungsbereich des AEUV unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen (EuGH, a.a.O., Rn. 56; vgl. ferner zum Bereich der Bildung: EuGH Urteil vom 11.07.2002, D'Hoop, C-224/98, ECLI:EU:C:2002:432, Rn. 25 ff.).

 

Eine Beschränkung des Freizügigkeitsrechts kann nach Gemeinschaftsrecht nur dann gerechtfertigt sein, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen des Allgemeininteresses beruht, die in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht rechtmäßigerweise verfolgten Zweck stehen (EuGH Urteil vom 18.07.2006, De Cuyper, C-406/04, ECLI:EU:C:2006:491, Rn. 40). Insoweit wird auf die obigen Erwägungen zur zweiten Vorlagefrage verwiesen.

 

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

 

 

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