L 5 R 121/23

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 6 R 300/19
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 121/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

I.    Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 5. April 2023 abgeändert.

Der Bescheid vom 22. Mai 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. August 2019 wird aufgehoben, soweit die Beklagte bei der Rücknahme des Bescheides vom 4. September 2009 hinsichtlich der Rentenhöhe für die Zeit vom 1. Februar 2018 bis 30. April 2019 eine höhere Unfallrente als nach einer MdE von 80 v.H. zugrunde gelegt hat sowie vom Kläger mehr als 84.600,83 € erstattet verlangt.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

II.    Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

III.    Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit der Rücknahme der dem Kläger gewährten Altersrente für schwerbehinderte Menschen und einer daraus resultierenden Erstattungsforderung in Höhe von 87.368,23 €.

Der 1949 geborene Kläger beantragte am 17. Februar 2009 bei der Beklagten Altersrente für schwerbehinderte Menschen, wobei er unter anderem in Abschnitt 12 des Antragsvordrucks die Frage nach dem Bezug von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung verneinte. Außerdem versicherte der Kläger mit seiner eigenhändigen Unterschrift, dass er sämtliche Angaben nach bestem Wissen gemacht habe, und verpflichtete sich, den Rentenversicherungsträger unverzüglich zu benachrichtigen, wenn nach der Stellung des Rentenantrags bis zum Rentenbeginn eine Leistung nach Abschnitt 12 dieses Antrags beantragt oder gezahlt werde. Den Rentenantrag des Klägers nahm der Knappschaftsälteste D. auf.

Mit Rentenbescheid vom 7. Mai 2009 gewährte die Beklagte dem Kläger für die Zeit ab 1. Juli 2009 Altersrente für schwerbehinderte Menschen ohne Anrechnung von Einkommen mit einem monatlichen Zahlbetrag von 2.413,04 €, die sie mit weiterem Rentenbescheid vom 4. September 2009 für die Zeit ab 1. Juli 2009 neu feststellte, wodurch sich für die Zeit ab 1. September 2009 der monatliche Rentenzahlbetrag auf 2.533,73 € erhöhte und sich für die Zeit vom 1. Juli 2009 bis 31. August 2009 eine Rentennachzahlung in Höhe von 241,38 € ergab. Dabei rechnete die Beklagte weiterhin kein Einkommen an. In beiden Bescheiden wies sie den Kläger auf Folgendes hin:

„Mitteilungspflichten und Mitwirkungspflichten

Die Altersrente kann sich bis zum Ablauf des Monats des Erreichens der Regelaltersgrenze mindern oder sie kann wegfallen, sofern durch Einkommen die Hinzuverdienstgrenze überschritten wird. (…)

Bestimmte Leistungen können auch nach dem Erreichen der Regelaltersgrenze Einfluss auf die Rentenhöhe haben. Sie sind verpflichtet, uns den Bezug und jede Veränderung folgender Leistungen unverzüglich mitzuteilen:

-    Rente an Versicherte aus der gesetzlichen Unfallversicherung,

(…)

Soweit Änderungen Einfluss auf den Rentenanspruch oder die Rentenhöhe haben, werden wir den Bescheid - auch rückwirkend - ganz oder teilweise aufheben und zu Unrecht erbrachte Leistung zurückfordern.

Größere Überzahlungen können vermieden werden, wenn Sie uns entsprechend den Mitteilungspflichten unverzüglich benachrichtigen.“

Mit Schreiben vom 6. März 2019 teilte die Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BGHM) der Beklagten mit, dem Kläger für die Folgen eines Arbeitsunfalles vom 8. Mai 1967 eine Verletztenrente nach einer MdE von 90 v.H. zu zahlen, konkret monatlich 1.625,54 € (1. Februar 2018 bis 30. Juni 2018) bzw. 1.677,88 € (1. Juli 2018 bis 30. April 2019). Ausweislich der dem Kläger bereits gewährten Verletztenrente nach einer MdE von 80 v.H. vom 1. Februar 2018 bis 30. April 2019 (gesamt: 22.139,10 €) ergab sich eine Nachzahlung in Höhe von 2.767,40 €, die wegen eventueller Erstattungsansprüche anderer Sozialleistungsträger vorerst einbehalten werde. Die Beklagte werde gebeten, ihren Erstattungsanspruch nach Zeit und Höhe anzugeben.

Der Bitte der Beklagten, ihr die Höhe der Unfallrente ab dem 1. Juli 2009 mitzuteilen (Schreiben vom 21. März 2019), entsprach die BGHM mit Schreiben vom 25. März 2019. Danach betrug die Verletztenrente des Klägers monatlich 1.266,62 € (ab 1. Juli 2009), 1.279,16 € (ab 1. Juli 2011), 1.307,05 € (ab 1. Juli 2012), 1.310,31 € (ab 1. Juli 2013), 1.332,20 € (ab 1. Juli 2014), 1.360,17 € (ab 1. Juli 2015), 1.417,98 € (ab 1. Juli 2016), 1.444,92 € (ab 1. Juli 2017), 1.625,54 € (ab 1. Februar 2018) und 1.677,88 € (ab 1. Juli 2018).

Mit Schreiben vom 12. April 2019 machte die Beklagte gegenüber der BGHM eine Erstattung in Höhe von 2.767,40 € für die Zeit vom 1. Februar 2018 bis 30. April 2019 geltend.

Mit weiterem Schreiben vom 12. April 2019 hörte die Beklagte den Kläger zu einer von ihr beabsichtigten Rücknahme der ursprünglichen Rentenbewilligung und Erstattung von in der Zeit vom 1. Juli 2009 bis 30. April 2019 überzahlten Rentenleistungen in Höhe von 87.368,23 € an, wobei sie mitteilte, gegenüber der BGHM eine Erstattung in Höhe von 2.767,40 € geltend gemacht zu haben, wodurch sich die Überzahlung auf 84.600,83 € vermindere.

Mit Wertstellung zum 24. April 2019 überwies die BGHM der Beklagten 2.767,40 €.

Von der ihm eingeräumten Möglichkeit zur Stellungnahme machte der Kläger mit Schreiben vom 16. Mai 2019 Gebrauch, indem er sich auf die Verjährung der Erstattungsforderung berief. Im Übrigen habe er sich anlässlich der Antragstellung vom Knappschaftsältesten D. beraten lassen bzw. habe dieser den Antrag aufgenommen, der deshalb darauf hätte hinwirken müssen, dass anderweitig zu berücksichtigende Leistungen angegeben werden. Möglicherweise sei er seinerzeit falsch beraten worden. 

Mit Bescheid vom 22. Mai 2019 nahm die Beklagte ihren Bescheid vom 4. September 2009 über die Neufeststellung der Altersrente für schwerbehinderte Menschen gemäß § 45 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) i. V. m. § 93 Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch (SGB VI) mit Wirkung ab 1. Juli 2009 hinsichtlich der Rentenhöhe zurück und verpflichtete den Kläger zur Rückzahlung der in der Zeit vom 1. Juli 2009 bis 30. April 2019 eingetretenen Überzahlung in Höhe 87.368,23 € gemäß § 50 SGB X. Der Kläger habe grob fahrlässig gehandelt, als er im Rentenantrag nicht angegeben hatte, eine Unfallrente zu beziehen. Ihm sei bekannt gewesen, dass der Bezug einer Unfallrente Auswirkungen auf die Rentenhöhe habe. In der Verwaltungsakte seien weder Angaben noch Hinweise vorhanden, die auf den Bezug einer Unfallrente hindeuten würden. Auch seien sämtliche Fristen für die Rückforderung gewahrt. Anhaltspunkte, die eine Falschberatung bestätigen könnten, seien nicht ersichtlich. Daher werde der Bescheid vom 4. September 2009 hinsichtlich der Rentenhöhe gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X zurückgenommen.

Hiergegen erhob der Kläger am 7. Juni 2019 Widerspruch, zu dessen Begründung er vortrug, bei der Antragstellung durch den Knappschaftsältesten D., einem langjährigen Arbeitskollegen, unterstützt worden zu sein. Der Knappschaftsälteste sei es gewesen, der das Antragsformular ausgefüllt habe und der die jeweiligen Kreuze und Eintragungen in dem Antragsformular nach Rücksprache mit ihm, dem Kläger, vorgenommen habe. Der Knappschaftsälteste, dem seine persönliche Situation bekannt gewesen sei, hätte darauf hinweisen müssen, dass der Erhalt weiterer Rentenleistungen anzugeben sei. Es müsse erwartet werden, dass der Knappschaftsälteste bei derart wichtigen Angaben explizit nachfrage. Er, der Kläger, habe darauf vertrauen dürfen, dass das Antragsformular ordnungsgemäß ausgefüllt sei. Da die Beklagte schon früher von seinem weiteren Rentenbezug Kenntnis gehabt habe, sei ihre Forderung außerdem verjährt.

Durch Widerspruchsbescheid vom 8. August 2019 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Der Kläger müsse sich eine grob fahrlässige Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung vorwerfen lassen, weil er sowohl in dem Rentenbescheid vom 7. Mai 2009 als auch in dem Neufeststellungsbescheid vom 4. September 2009 darauf hingewiesen worden sei, dass eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung auf die Rentenhöhe Einfluss haben könne, ebenso wie auf seine Verpflichtung, sie, die Beklagte, über alle Änderungen von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zu informieren. Gleichwohl sei eine Mitteilung über den Bezug bzw. über Änderungen der Höhe der Verletztenrente unterblieben. Auch habe der Kläger erkennen können, dass der Bezug der Verletztenrente Auswirkungen auf die monatliche Höhe seiner Altersrente hätte haben müssen. Es seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass dem Kläger die Einsichtsfähigkeit für diese einfachen und naheliegenden Überlegungen gefehlt habe. Vorliegend überwiege das öffentliche Interesse an einer Rücknahme. Hiervon sei nicht im Ermessenswege abzusehen. Insbesondere bedeute die Rücknahme für die Vergangenheit für den Kläger keine besondere Härte. Ferner müsse berücksichtigt werden, dass die Versichertengemeinschaft vor finanziellen Verlusten zu schützen sei. Das Erfordernis der Gesetzmäßigkeit eines jeden Verwaltungshandelns verlange grundsätzlich die Beseitigung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes, zumal der Kläger die festgestellte Rentenüberzahlung auch ratenweise zurückerstatten könne. Da sich die Überzahlung durch die Anrechnung eines zusätzlichen Renteneinkommens ergebe, liege keine Minderung des Gesamteinkommens des Klägers vor. Die Jahresfrist sei eingehalten, da diese Frist regelmäßig erst mit dem Abschluss der Anhörung beginne.

Zur Begründung seiner am 16. August 2019 vor dem Sozialgericht Gießen erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen, dass die Rücknahme erst nach Ablauf der Jahresfrist und damit zu spät erfolgt sei. Er habe in den Jahren 1969, 1987, 2003 und 2005 schriftlich mit der Beklagten wegen seiner Berufsunfähigkeit und der Unfallrente korrespondiert. Deshalb sei der Beklagten eine Überprüfung der Rentenangelegenheit schon vor der Mitteilung der BGHM vom 6. März 2019 möglich gewesen. Gegenteilige Behauptungen der Beklagten seien falsch, wie die beiliegenden Dokumente vom 2. Juli 1969 belegen würden. Daraus gehe hervor, dass seinerzeit der Landesversicherungsanstalt (LVA) Hannover mitgeteilt worden sei, dass seit dem 1. Januar 1969 ein Unfallrentenbezug zu berücksichtigen sei. Auch habe er weder grob fahrlässig noch auf sonstige Weise Falschangaben gemacht, die zum Erlass des rechtswidrigen Verwaltungsaktes geführt hätten. Er habe bei der Antragstellung die Hilfe des Knappschaftsältesten D. in Anspruch genommen und darauf vertraut, dass dessen Unterstützung, Aufklärung und Beratung ausreichen würden, um einen ordnungsgemäßen und vor allem richtigen Rentenantrag zu stellen. Dadurch sei er seinen Sorgfaltspflichten nachgekommen. Nicht er, sondern der Knappschaftsälteste habe das Antragsformular ausgefüllt. Rein vorsorglich berufe er sich auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Es wäre zu erwarten gewesen, dass ihn der Knappschaftsälteste befragt, ob er noch andere Leistungen eines Unfallversicherungsträgers beziehe. Selbstverständlich hätte er bei der Erörterung dieser Thematik die Rentenleistung der BGHM angegeben. Die Pflichtverletzung des Knappschaftsältesten sei auch kausal für seinen Schaden bzw. die bei ihm eingetretene Beeinträchtigung, weil andernfalls die Rentenleistung der BGHM von vornherein bei der Altersrente hätte angerechnet werden können und er dann keiner erheblichen Rückforderung ausgesetzt wäre. Ihn treffe kein Verschulden, wie die beiliegende eidesstattliche Erklärung des Knappschaftsältesten D. vom 5. Februar 2022 belege. Da sich in den folgenden Jahren an seiner Situation nichts geändert habe, sei er nicht verpflichtet gewesen, gegenüber der Beklagten weiterführende Angaben zu machen. Deshalb hätte er letztlich auch die Hinweise in den Bescheiden nicht beachten müssen. Ihn habe keine gesteigerte Sorgfaltspflicht getroffen, seine ursprünglichen Angaben nochmals zu prüfen und zu korrigieren. 

Demgegenüber hat die Beklagte erwidert, erstmals durch das Schreiben der BGHM vom 6. März 2019 von dem Bezug der Unfallrente Kenntnis erlangt zu haben. Die Inanspruchnahme der Hilfe des Knappschaftsältesten habe den Kläger nicht davon entbunden, die Fragen im Antragsformular zutreffend zu beantworten. Trotz des Bezugs einer Rente wegen Berufsunfähigkeit in den Jahren 1968 und 1969 sei der Kläger verpflichtet gewesen, in dem 40 Jahre später gestellten Rentenantrag den Bezug seiner Unfallrente anzugeben. Die Unterlagen der LVA Hannover bestätigten, dass der Kläger Kenntnis davon gehabt habe, dass der Bezug der Unfallrente auch Auswirkungen auf seine Altersrente habe. Der Kläger habe den Rentenantrag persönlich unterschrieben und sei daher für die Richtigkeit der von ihm gemachten Angaben verantwortlich. Der Kläger habe sich anlässlich der Antragstellung verpflichtet, den Rentenversicherungsträger unverzüglich zu unterrichten, wenn eine Leistung nach Abschnitt 12 des Rentenformulars beantragt oder gezahlt werde. Ebenso sei der Kläger in den beiden Bescheiden vom 7. Mai 2009 und 4. September 2009 darauf hingewiesen worden, dass eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung Einfluss auf die Rentenhöhe haben könne.

Durch Urteil vom 5. April 2023 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Bescheid über die Neufeststellung der Altersrente vom 4. September 2009 sei von Anfang an rechtswidrig gewesen, in dessen Bestand der Kläger nicht habe vertrauen können. Der Kläger habe bei der Antragstellung grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung Angaben unrichtig gemacht, auf denen der Bescheid vom 4. September 2009 beruht habe. Ihm hätte aufgrund einfachster Überlegungen klar sein müssen, dass er eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung beziehe und dass jener Umstand mitteilungspflichtig sei. Der Vortrag des Klägers, er habe die Rente wegen Berufsunfähigkeit begrifflich mit der Unfallrente verwechselt, verfange nicht. Mit seiner eigenhändigen Unterschrift habe sich der Kläger für den Inhalt seiner (unrichtigen) Angaben verantwortlich gezeichnet. Dass er bei der Antragstellung durch den Knappschaftsältesten D. unterstützt worden sei, vermöge daran nichts zu ändern. Denn der Vertretene müsse sich die fehlerhafte Erklärung seines Vertreters grundsätzlich wie einen eigenen Fehler zurechnen lassen. Auf die Sachkunde des Knappschaftsältesten habe sich der Kläger nicht verlassen dürfen, weil er die Fehlerhaftigkeit der Erklärung habe erkennen können. Selbst wenn der Knappschaftsälteste beim Ausfüllen des Rentenformulars pflichtwidrig gehandelt haben sollte, wäre der Kläger nicht vom Vorwurf der groben Fahrlässigkeit entlastet. Es könne ihm nicht zum Vorteil gereichen, dass er sich der Hilfe eines unwissenden Vertreters bedient habe. Auch müsse sich der Kläger die grob fahrlässige Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 4. September 2009 entgegenhalten lassen. Ausweislich seines Vortrags in der mündlichen Verhandlung habe der Kläger den Bescheid nicht gelesen, sondern lediglich den monatlichen Auszahlungsbetrag zur Kenntnis genommen. Hätte er den Bescheid gelesen, wäre ihm aufgefallen, dass ihm die Altersrente aufgrund fehlender Anrechnung der Unfallrente nicht in der gewährten Höhe zustehe. Die von der Beklagten im Widerspruchsbescheid angestellten Ermessenserwägungen seien nicht zu beanstanden und die Rücknahme innerhalb eines Jahres nach der Kenntnis der Beklagten vom Unfallrentenbezug des Klägers erfolgt. Die Erstattungsforderung sei ebenfalls rechtmäßig. Auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch könne sich der Kläger nicht berufen. Es fehle an der hierfür erforderlichen Kausalität, weil der Kläger die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 4. September 2009 hätte erkennen können.

Gegen das ihm am 22. Mai 2023 zugestellte Urteil hat der Kläger am 26. Mai 2023 Berufung bei dem Hessischen Landessozialgericht eingelegt.

Zur Begründung wiederholt er sein bisheriges Vorbringen, indem er nochmals darauf hinweist, bei der Rentenantragstellung vom Knappschaftsältesten unterstützt worden zu sein, dass die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs erfüllt seien, ihm die Begrifflichkeiten der verschiedenen Versicherungsbezeichnungen nicht geläufig gewesen seien, die Beklagte schon zu einem früheren Zeitpunkt Kenntnis von der Rentenzahlung der BGHM gehabt habe, er auf den Bestand des Bescheides habe vertrauen dürfen und er sich auf die Einrede der Verjährung und Verwirkung berufe. Vertiefend führt er noch aus, sich bei der Beklagten erkundigt zu haben, ob er ab 1. Juli 2004 in Altersteilzeit gehen könne, ohne Nachteile bei seiner Altersrente zu erleiden. Anlässlich dieses Kontakts sei er nicht über die Anrechnung seiner Unfallrente und die Kürzung der Altersrente in Kenntnis gesetzt worden. Hätte er hiervon Kenntnis gehabt, hätte er die Altersteilzeit nicht in Anspruch genommen. Er habe gegenüber dem Knappschaftsältesten die Rente wegen Berufsunfähigkeit angegeben. Weshalb die Beklagte weder den Knappschaftsältesten noch ihn auf den Bescheid vom 2. Juli 1969 hingewiesen habe, sei für ihn ebenso wenig nachvollziehbar wie der Umstand, dass die Beklagte jenen Bescheid bei der Überprüfung des Rentenantrags unberücksichtigt gelassen habe. Er selber habe von dem Erlass des Bescheides vom 2. Juli 1969 keine Kenntnis gehabt, da er seinerzeit noch nicht volljährig gewesen sei und der Bescheid seiner Mutter bekanntgeben worden sei. Wäre er korrekt über die Anrechnung der Unfallrente informiert worden, hätte er keine Erhöhung der Unfallrente beantragt. Er sei finanziell erheblich schlechter gestellt als ohne diese Erhöhung.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 5. April 2023 und den Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. August 2019 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der von der Beklagten vorgelegten Rentenakte des Klägers, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

Die statthafte Berufung (§ 143, § 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) des Klägers ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 151 Abs. 1 SGG).

Sie hat aber nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

Das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 5. April 2023 kann keinen Bestand haben, soweit es die Klage auch abgewiesen hat, als die Beklagte bei der Rücknahme des Bescheides vom 4. September 2009 hinsichtlich der „Rentenhöhe“ für die Zeit vom 1. Februar 2018 bis 30. April 2019 eine höhere Unfallrente als nach einer MdE von 80 v.H. zugrunde gelegt hat und vom Kläger mehr als 84.600,83 € erstattet verlangt. Insoweit ist der angefochtene Bescheid vom 22. Mai 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. August 2019 (§ 95 SGG) rechtswidrig und beschwert den Kläger im Sinne von § 54 Abs. 2 SGG. Im Übrigen hat das Sozialgericht die Klage zu Recht abgewiesen.

Gegen den Rücknahme- und Erstattungsbescheid der Beklagten vom 22. Mai 2019 setzt sich der Kläger zutreffend mit der isolierten Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG zur Wehr.

Unter welchen gesetzlichen Voraussetzungen ein nach Maßgabe von § 77 SGG in der Sache bindend gewordener Verwaltungsakt - wie vorliegend der Rentenneufeststellungsbescheid vom 4. September 2009 - aufgehoben werden kann und welche Folgen sich daraus ergeben, ist in den §§ 44 ff. SGB X geregelt.

Die Rücknahme des Bescheides vom 4. September 2009 hinsichtlich der „Rentenhöhe“ - eigentlich hinsichtlich des Rentenzahlbetrags (vgl. zur Anrechnung von Hinzuverdienst bei einer Rente wegen voller Erwerbsminderung: BSG, Urteil vom 9. Oktober 2013, B 5 R 8/12 R, juris Rdnr. 18) - mit Wirkung ab 1. Juli 2009 stützt sich auf § 45 SGB X. Rechtsgrundlage für das Erstattungsverlangen der Beklagten ist § 50 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 3 SGB X.

Der Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 22. Mai 2019 ist formell rechtmäßig ergangen, insbesondere ist der Kläger vor Erlass dieses Bescheides mit Schreiben der Beklagten vom 12. April 2019 ordnungsgemäß angehört worden (§ 24 Abs. 1 SGB X).

Der Rücknahmebescheid ist in materiell-rechtlicher Hinsicht aber nur teilweise rechtmäßig. 

Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Dabei ist das Vertrauen in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X allerdings nicht berufen, soweit

1.    er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, 

2.    der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder 

3.    er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

Gemäß § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nach Absatz 2 nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Das gilt nicht, wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 Zivilprozessordnung (ZPO) vorliegen (§ 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X). Bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe kann nach § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nach Absatz 2 zurückgenommen werden, wenn 

1.    die Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 gegeben sind oder

2.    der Verwaltungsakt mit einem zulässigen Vorbehalt des Widerrufs erlassen wurde.

In den Fällen des § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X kann ein Verwaltungsakt über eine laufende Geldleistung der Vorschrift des § 45 Abs. 3 Satz 4 SGB X zufolge auch nach Ablauf der Frist von zehn Jahren zurückgenommen werden, wenn diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde.

Gemäß § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X wird der Verwaltungsakt nur in den Fällen des Absatzes 2 Satz 3 und des Absatzes 3 Satz 2 mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Die Behörde muss dies nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen.

Gemessen an diesen gesetzlichen Vorgaben erweist sich die Rücknahme des Rentenneufeststellungsbescheides vom 4. September 2009 mit Wirkung ab 1. Juli 2009 nur zum Teil als rechtmäßig. 

Der Bescheid vom 4. September 2009 war nur insoweit rechtswidrig im Sinne von § 45 Abs. 1 SGB X, als eine Anrechnung der dem Kläger von der BGHM gewährten Unfallrente nach einer MdE von 80 v.H. unterblieben ist. Demgegenüber hat die Beklagte den dem Kläger rückwirkend aufgrund der Erhöhung der Unfallrente nach einer MdE von 90 v.H. ab 1. Februar 2018 gewährten Mehrbetrag als nachrangig verpflichteter Leistungsträger gemäß § 104 SGB X und damit im Wege der Erfüllungsfiktion des § 107 SGB X rechtmäßig erbracht. 

Rechtswidrig im Sinne von § 45 SGB X bedeutet, dass bei Erlass des zurückzunehmenden Bescheides entweder das Recht unrichtig angewandt oder aber von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist. Für die Frage, ob der Bescheid bereits bei seinem Erlass rechtswidrig war, kommt es darauf an, ob im Zeitpunkt seiner Erteilung eine andere Entscheidung als die von der Behörde getroffene hätte ergehen müssen. Das ist vorliegend für den Bezug der Unfallrente nach einer MdE von 80 v.H. zu bejahen. Hätte nämlich die Beklagte jenen Rentenbezug berücksichtigt und die Unfallrente auf die dem Kläger gewährte Altersrente für schwerbehinderte Menschen gemäß § 93 SGB VI angerechnet, hätte sie ihm für die Zeit ab 1. Juli 2009 eine geringere Rentenleistung bewilligt und somit offenkundig eine andere Entscheidung getroffen als diejenige im Bescheid vom 4. September 2009. Durch die rechtswidrig zu hoch bewilligte Altersrente für schwerbehinderte Menschen ist zugunsten des Klägers auch ein rechtlich erheblicher Vorteil begründet worden. Gegen die teilweise Anrechnung der Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung gemäß § 93 SGB VI auf Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. hierzu: BSG, Urteil vom 27. August 2009, B 13 R 14/09 R, SozR 4-2600 § 93 Nr. 13; BSG, Urteil vom 20. Oktober 2005, B 4 RA 27/05 R, SozR 4-2600 § 93 Nr. 7; BSG, Urteil vom 27. August 1998, B 8 KN 20/97 R, juris; BSG, Urteil vom 31. März 1998, B 4 RA 49/96 R, SozR 3-2600 § 93 Nr. 7), die der Kläger zumindest sinngemäß mit seinem in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erhobenen Einwand geltend gemacht hat, mit seiner Unfallrente seine Altersrente finanziert zu haben.

Hinsichtlich der Erhöhung der Unfallrente des Klägers ab 1. Februar 2018 gelangt § 45 SGB X nicht zur Anwendung. Denn ein Rentenbewilligungsbescheid darf nicht wegen einer Überzahlung aufgehoben werden, soweit wegen des Zusammentreffens mit einer rückwirkend gewährten Unfallrente (§ 93 Abs. 1 SGB VI) ein Erstattungsanspruch des Rentenversicherungsträgers gegen den Unfallversicherungsträger (§§ 102 ff. SGB X) besteht. In solchen Fällen fehlt es wegen der Erfüllungsfiktion des § 107 Abs. 1 SGB X an der Rechtswidrigkeit des Rentenbescheides, die dann erst mit Beginn der laufenden Zahlung der Unfallrente eintritt (vgl. BSG, Urteil vom 26. April 2005, B 5 RJ 36/04 R, SozR 4-1300 § 107 Nr. 2). Dies ist dann zugleich als nachträgliche Änderung der Verhältnisse im Sinne von § 48 SGB X anzusehen. 

Wegen der Erhöhung der Unfallrente des Klägers bestand ein Erstattungsanspruch der Beklagten gegen die BGHM für die Zeit vom 1. Februar 2018 bis 30. April 2019 in Höhe von insgesamt 2.767,40 €. 

Gemäß § 107 Abs. 1 SGB X gilt der Anspruch des Berechtigten gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch besteht. Dabei führt bereits das Bestehen eines Erstattungsanspruchs und nicht erst dessen Realisierung zur fiktiven Erfüllung des Anspruchs des Leistungsberechtigten gegenüber dem leistungspflichtigen Träger (vgl. BSG, Urteil vom 31. Oktober 1991, 7 RAr 46/90, juris Rdnr. 24; BSG, Urteil vom 7. August 1986, 4a RJ 33/85, juris Rdnr. 18 m.w.N.). In den Fällen des § 93 SGB VI ergibt sich der Erstattungsanspruch des Rentenversicherungsträgers gegen den Unfallversicherungsträger aus § 104 SGB X (vgl. BSG, Urteil vom 29. April 1997, 8 RKn 29/95, SozR 3-1300 § 107 Nr. 10). Nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Leistungsträger, gegen den ein Berechtigter vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, erstattungspflichtig, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen des § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Der demnach vorrangige § 103 Abs. 1 SGB X betrifft Fallgestaltungen, in denen der Anspruch auf die erbrachten Sozialleistungen nachträglich entfallen ist. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger hingegen, soweit er bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre (§ 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X). Ausgehend von dieser Differenzierung ist hinsichtlich des nach § 93 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI nicht zu leistenden Rentenbetrags der Rentenversicherungsträger nachrangig verpflichteter Leistungsträger im Sinne von § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X. Es handelt sich nicht um einen von § 103 SGB X erfassten Fall, weil § 93 Abs. 1 SGB VI nicht zum Wegfall des Anspruchs auf Versichertenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung führt, sondern sich hierdurch lediglich die monatlichen Rentenzahlungen mindern. In Anbetracht dessen ist der Erstattungsanspruch auch nicht nach § 104 Abs. 1 Satz 3 SGB X ausgeschlossen. Der Erstattungsanspruch der Beklagten scheitert schließlich auch nicht daran, dass die BGHM selbst geleistet hatte, bevor sie von der Rentenleistung der Beklagten Kenntnis erlangt hat. Vielmehr hat die BGHM die aus der rückwirkenden Erhöhung der Unfallrente des Klägers zum 1. Februar 2018 resultierende Nachzahlung in Höhe von insgesamt 2.767,40 € vorerst einbehalten und die Beklage hierüber in Kenntnis gesetzt, verbunden mit der Bitte, einen Erstattungsanspruch nach Zeit und Höhe anzugeben. 

Im Übrigen liegen die Voraussetzungen des § 45 SGB X jedoch vor. 

Der Bescheid vom 4. September 2009 konnte nicht nur mit Wirkung für die Zukunft, sondern auch mit Wirkung für die Vergangenheit - ab Rentenbeginn am 1. Juli 2009 - zurückgenommen werden, weil die Voraussetzungen des § 45 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und 3 SGB X erfüllt sind. 

Zur Überzeugung des Senats beruhte der Rentenbescheid vom 4. September 2009 auf Angaben, die der Kläger infolge grober Fahrlässigkeit unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X). 

Zunächst ist festzuhalten, dass es vorliegend im Rahmen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X - entgegen den Ausführungen der erstinstanzlichen Entscheidung - nicht auf ein grob fahrlässiges Handeln des Knappschaftsältesten als Vertreter ankommt, welches sich der Kläger als Vertretener in entsprechender Anwendung von § 278 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zurechnen lassen müsste (vgl. hierzu: BSG, Urteil vom 22. Oktober 1968, 9 RV 418/65, BSGE 28, 258). Denn der Knappschaftsälteste ist anlässlich der Rentenantragstellung am 17. Februar 2009 nicht als Vertreter bzw. Bevollmächtigter (§ 13 SGB X) des Klägers aufgetreten. Stattdessen hat er den Kläger beim Ausfüllen des Rentenantragsformulars lediglich unterstützt, was vor allem dadurch deutlich wird, dass der Kläger den Rentenantrag eigenhändig unterschrieben hat. Dementsprechend bedurfte es von vornherein keines Rückgriffs auf ein etwaiges grob fahrlässiges Handeln des Knappschaftsältesten, weil sich der Kläger in eigener Person den Vorwurf gefallen lassen muss, jedenfalls grob fahrlässig gehandelt zu haben. 

Die von der Beklagten im Rentenbescheid vom 4. September 2009 hinsichtlich der „Rentenhöhe“ getroffene Verwaltungsentscheidung beruhte auf Angaben, die der Kläger zumindest grob fahrlässig in wesentlicher Hinsicht unrichtig gemacht hat. 

Dass die Angabe, keine Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu beziehen, objektiv unrichtig war, kann mit Blick auf den zum damaligen Zeitpunkt mehr als 40 Jahre andauernden Bezug der Unfallrente von der BGHM nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Hierin liegt ein Verstoß gegen die generell für jeden Empfänger von Sozialleistungen bestehenden Mitwirkungspflichten. Denn wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, hat gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (SGB I) alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind. In diesem Sinne sind auch die in den Rentenbescheiden vom 7. Mai 2009 und 4. September 2009 enthaltenen Hinweise zu verstehen, wonach bestimmte Leistungen auch nach dem Erreichen der Regelaltersgrenze Einfluss auf die Rentenhöhe haben können und der Kläger deshalb verpflichtet ist, der Beklagten den Bezug und jede Veränderung einer Versichertenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung unverzüglich mitzuteilen. 

Es reicht allerdings nicht aus, dass die Angabe des Klägers objektiv unrichtig war. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X verlangt, dass der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig - also in subjektiver Hinsicht - unrichtige (oder unvollständige) Angaben gemacht hat. Grobe Fahrlässigkeit liegt der in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3, 2. Halbsatz SGB X enthaltenen Legaldefinition zufolge vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Dies ist regelmäßig dann anzunehmen, wenn einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden und wenn das nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (ständige Rechtsprechung, vgl. nur BSG, Urteil vom 8. Februar 2001, B 11 AL 21/00 R, SozR 3-1300 § 45 Nr. 45; BSG, Urteil vom 11. Juni 1987, 7 RAr 105/85, BSGE 62, 32; BSG, Urteil vom 31. August 1976, 7 RAr 112/74, SozR 4100 § 152 Nr. 3). Maßgebend hierfür ist die persönliche Einsichtsfähigkeit des Begünstigten, also ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab (vgl. BSG, Urteil vom 16. März 2017, B 10 LW 1/15 R, juris Rdnr. 33 m.w.N.). Dabei muss sich die grobe Fahrlässigkeit allein auf die Unrichtigkeit (bzw. Unvollständigkeit) der Angaben beziehen (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 27. Januar 2012, L 5 R 395/10, juris Rdnr. 60 m.w.N.). 

Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Sozialgericht zutreffend dargelegt, dass der Kläger anlässlich der Rentenantragstellung die Angabe, keine Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu beziehen, grob fahrlässig gemacht hat. Dass der Kläger seinerzeit dem Knappschaftsältesten mitgeteilt haben will, eine Berufsunfähigkeitsrente zu beziehen, weil ihm die Begrifflichkeiten der verschiedenen Versicherungsleistungen nicht geläufig gewesen seien, entlastet ihn nicht, sondern bestätigt vielmehr eindrucksvoll, dass er das nicht beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Denn in Abschnitt 12.2 des Antragsformulars wird gerade nicht nach dem Bezug einer konkret zu bezeichnenden Rentenleistung gefragt, sondern nur, ob Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung bezogen werden. Diese Frage ist derart klar, eindeutig und unmissverständlich formuliert, dass sich ihr Sinngehalt auch einer in sozialversicherungsrechtlichen Angelegenheiten unbedarften Person erschließt. Tiefgreifender Gedankengänge oder eines sozialversicherungsrechtlichen Spezialwissens bedarf es hierfür nicht. Der Kläger hätte daher zumindest erkennen müssen, dass der Bezug einer Unfallrente anzugeben war. Überdies hätte sich ihm bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt ohne weiteres erschließen müssen, dass es sich bei der von ihm bezogenen Rente um eine Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung handelt. Denn jene Rente wird von der BGHM - einem Leistungsträger der gesetzlichen Unfallversicherung - und nicht von einem Rentenversicherungsträger erbracht. Dies musste dem Kläger vor allem auch deshalb klar gewesen sein, weil er im Zeitpunkt der Rentenantragstellung schon seit mehr als 40 Jahren im Leistungsbezug der BGHM stand, während ihm lediglich in den Jahren 1968 und 1969 eine Berufsunfähigkeitsrente von der LVA Hannover gewährt worden war. In Anbetracht dessen erscheint eine Verwechslung beider Rentenleistungen nahezu ausgeschlossen bzw. allenfalls dann denkbar, wenn der Kläger einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt haben sollte. Dass dem Kläger der Bezug einer Unfallrente von der BGHM durchaus bekannt gewesen sein muss, folgt im Übrigen daraus, dass er sich wegen der Erhöhung seiner Unfallrente an eben jene BGHM gewandt hat und nicht an die Beklagte oder einen anderen Rentenversicherungsträger. 

Der Einwand des Klägers, der ihn bei der Rentenantragstellung unterstützende Knappschaftsälteste hätte darauf hinwirken müssen, dass anderweitig zu berücksichtigende Leistungen angegeben werden, geht ins Leere. Insoweit verkennt der Kläger, dass bei der Rentenantragstellung nicht nur solche Angaben gemacht werden müssen, die bei der Feststellung bzw. Berechnung der Renten zu berücksichtigen sind. Die Bewertung der von einem Antragsteller gemachten Angaben bleibt dem Rentenversicherungsträger vorbehalten. Ein Irrtum über die rechtliche Relevanz der Angaben auf Seiten des Rentenantragstellers ist im Rahmen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X unerheblich und deshalb von vornherein nicht geeignet, den Vorwurf grober Fahrlässigkeit zu entkräften. Überdies hätte es sich dem Knappschaftsältesten in Anbetracht der eindeutig formulierten Frage nach dem Bezug von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ohne weitere Anhaltspunkte nicht aufdrängen müssen, dass diesbezüglich ein Erläuterungsbedarf des Klägers besteht. Einen entsprechenden Bedarf hatte der Kläger seinerzeit offensichtlich nicht kundgetan. Zumindest geht dies nicht aus der Erklärung des Knappschaftsältesten vom 5. Februar 2022 hervor, der deshalb ebenso wenig verpflichtet war, darauf hinzuwirken, dass andere Rentenleistungen anzugeben sind, bzw. explizit beim Kläger nach dem Bezug weiterer Rentenleistungen nachzufragen. Stattdessen war es der Kläger, der den Knappschaftsältesten darauf hingewiesen hatte, dass er - der Knappschaftsälteste - wüsste, dass er - der Kläger - seit dem Jahr 1967 eine „Berufsunfähigkeitsrente“ beziehen würde. Dem war aber offenkundig nicht so. Denn der Knappschaftsälteste hat weiter angegeben, das Rentenantragsformular ohne eigene Vorkenntnisse ausgefüllt und demgemäß die Frage nach dem Bezug von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ausschließlich auf der Grundlage der Angaben des Klägers verneint zu haben. Vor diesem Hintergrund stützt die Erklärung des Knappschaftsältesten vom 5. Februar 2022 keinesfalls das Vorbringen des Klägers, ihn selber würde an der unrichtigen Angabe zum Bezug einer Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung kein Verschulden treffen. Das Gegenteil ist der Fall. Der Kläger durfte in Anbetracht der aufgezeigten Umstände gerade nicht darauf vertrauen, das Antragsformular ordnungsgemäß ausgefüllt zu haben. Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat noch erläutert hat, die von ihm bezogene Unfallrente gegenüber dem Knappschaftsältesten als „Berufsunfähigkeitsrente“ bezeichnet zu haben, entschuldigt ihn dies nicht einmal ansatzweise. Denn dann hätte er die Frage nach dem Bezug von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung im Rentenantragsformular erst Recht nicht verneinen dürfen, sondern dort in Abschnitt 12 die „Berufsunfähigkeitsrente“ angeben müssen.

Im Übrigen kann bei dieser Sachlage keine Rede davon sein, dass der Kläger anlässlich der Rentenantragstellung vom Knappschaftsältesten falsch beraten wurde. Mangels Falschberatung beruft sich der Kläger deshalb auch vergeblich auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Abgesehen davon tritt dieses Rechtsinstitut nur ein, wenn ein Leistungsträger durch Verletzung einer ihm aus dem Sozialleistungsverhältnis obliegenden Haupt- oder Nebenpflicht, insbesondere zur Auskunft und Beratung (§ 14 und § 15 SGB I), nachteilige Folgen für die Rechtsposition des Betroffenen herbeigeführt hat und diese Rechtsfolgen durch ein rechtmäßiges Verwaltungshandeln wieder beseitigt werden können (ständige Rechtsprechung, vgl. nur BSG, Urteil vom 26. April 2005, B 5 RJ 6/04 R, SozR 4-2600 § 4 Nr. 2). Das Begehren des Klägers, ihm im Ergebnis eine Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung ohne Anrechnung einer gleichzeitig bezogenen Unfallrente zu belassen, verstieße gegen § 93 SGB VI und wäre nicht als rechtmäßiges Verwaltungshandeln anzusehen. In Anbetracht dessen macht der Kläger auch ohne Erfolg geltend, bei seinen Kontakten mit der Beklagten - namentlich im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Altersteilzeit ab 1. Juli 2004 - nicht über die Anrechnung seiner Unfallrente in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Das gilt umso mehr, als die Beklagte seinerzeit keine Kenntnis von dem Bezug einer Unfallrente hatte. Insoweit musste sich ihr ein Beratungsbedarf des Klägers nicht aufdrängen, zumal ein entsprechendes Beratungsbegehren des Klägers nicht aktenkundig ist.

Der Vorwurf des Klägers, die Beklagte habe ihn nicht auf den Bescheid vom 2. Juli 1969 hingewiesen, erweist sich schon deshalb als haltlos, weil er damit die Mitwirkungspflichten aus § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB I in ihr Gegenteil verkehrt. Der Kläger verkennt grundlegend, dass er als Antragsteller alle Tatsachen anzugeben hat, die für die Leistung erheblich sind. Im Übrigen lässt sich dem aktenkundigen Gesamtkontenspiegel lediglich entnehmen, dass der Kläger vom 1. Mai 1968 bis 30. November 1969 eine Rente bezogen hatte, nicht jedoch, ob hierauf eine Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung angerechnet worden war. Nähere Kenntnisse über die Regelungsgehalte des im Übrigen von der LVA Hannover erlassenen Bescheides vom 2. Juli 1969 hatte die Beklagte offenkundig nicht. Daher erschließt sich dem Senat nicht, welcher zusätzliche Erkenntnisgewinn sich für den Kläger und den Knappschaftsältesten hinsichtlich des Bezugs einer Unfallrente hätte ergeben sollen, sofern die Beklagte auf die Existenz jenes Bescheides hingewiesen hätte. 

Darüber hinaus ist der Kläger bösgläubig im Sinne des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X gewesen. Bösgläubigkeit im Sinne dieser Vorschrift liegt entweder bei einem positiven „Wissen“ oder dann vor, wenn es dem Begünstigten aufgrund der ihm bekannten Umstände zumindest möglich war, die fehlende Übereinstimmung des Verwaltungsakts mit dem geltenden Recht zu erkennen (vgl. Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 3. Aufl. <Stand: 5. Februar 2024>, § 45 Rdnr. 87). Dass der Begünstigte mit der Rechtswidrigkeit lediglich hat rechnen müssen, genügt hingegen nicht. Dabei ist auf die Abschätzung der Rechtsfolgen durch den Betroffenen nach dessen individuellem Verständnishorizont und insoweit auf eine „Parallelwertung in der Laiensphäre“ abzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 6. Mai 2009, B 11 AL 10/08 R, SozR 4-4300 § 144 Nr. 19). Auf dieser Ebene besteht die erforderliche Kenntnis, wenn der Begünstigte weiß oder wissen muss, dass ihm die zuerkannte Leistung oder anderweitige Begünstigung so nicht zusteht (vgl. Schütze in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 45 Rdnr. 65). Daher kann einem Leistungsempfänger immer nur dann grobe Fahrlässigkeit im Zusammenhang mit § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X vorgeworfen werden, wenn ihm der Fehler bei seinen subjektiven Erkenntnismöglichkeiten aus anderen Gründen geradezu „in die Augen springt“. Das ist der Fall, wenn er aufgrund einfachster und ganz naheliegender Überlegungen sicher die Rechtswidrigkeit hätte erkennen können (vgl. BSG, Urteil vom 26. August 1987, 11a RA 30/86, BSGE 62, 103) oder er das nicht beachtet hat, was im gegebenen Falle jedem hätte einleuchten müssen (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 1980, 7 RAr 13/79, SozR 4100 § 152 Nr. 10). Augenfällig im vorstehenden Sinne sind Fehler zunächst, wenn die Begünstigung dem Verfügungssatz nach ohne weitere Überlegungen als unzutreffend erkannt werden kann. Darüber hinaus ist ein Fehler der Begründung des Verwaltungsaktes nach augenfällig, wenn die Fehlerhaftigkeit dem Adressaten unter Berücksichtigung seiner individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit ohne weitere Nachforschungen und mit ganz naheliegenden Überlegungen einleuchten und auffallen muss (vgl. Schütze, a.a.O., § 45 Rdnr. 69). Dabei besteht für den Adressaten eines Bescheides die Obliegenheit, dessen Inhalt zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010, B 13 R 77/09 R, juris Rdnr. 33 m.w.N.). Auch ohne ausdrückliche gesetzliche Normierung folgt das aus dem Grundsatz, dass sich die Beteiligten gegenseitig vor vermeidbarem, das Versicherungsverhältnis betreffenden Schaden zu bewahren haben (vgl. BSG, Urteil vom 8. Februar 2001, B 11 AL 21/00 R, juris Rdnr. 25 m.w.N.). Bei der Bewilligung einer zu hohen Leistung muss sich die Bösgläubigkeit nicht auf die genaue Höhe der Überzahlung beziehen. Vielmehr genügt die Kenntnis bzw. grob fahrlässige Unkenntnis, dass ein Berechnungsfaktor nicht zutrifft (vgl. BSG, Urteil vom 27. Juli 2000, B 7 AL 88/99 R, BeckRS 2000, 40140).

Daran gemessen muss sich der Kläger jedenfalls den Vorwurf der grob fahrlässigen Unkenntnis im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X gefallen lassen. Er ist sowohl in dem Bescheid vom 7. Mai 2009 als auch in dem Bescheid vom 4. September 2009 ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass er verpflichtet ist, den Bezug und jede Veränderung von Versichertenrenten aus der gesetzlichen Unfallversicherung unverzüglich mitzuteilen, weil die Höhe seiner Altersrente davon abhängig sein könnte. Der Kläger musste somit wissen, dass der Rentenbescheid vom 4. September 2009 mit Blick auf den Unfallrentenbezug zu seinen Gunsten falsch war. Die von der Beklagten erteilten Hinweise sind unzweideutig und verständlich. Es gibt keine Anhaltspunkte, dass der Kläger subjektiv nicht in der Lage gewesen sein könnte, den Inhalt dieser Hinweise zu verstehen. Sofern er die Hinweise nicht gelesen, sondern - wie dem erstinstanzlichen Urteil zu entnehmen ist - lediglich den monatlichen Auszahlungsbetrag zur Kenntnis genommen haben sollte, hätte der Kläger in besonders schwerem Maße die erforderliche Sorgfalt verletzt. Denn bei Erhalt eines begünstigenden Bescheides besteht die erforderliche Sorgfalt jedenfalls darin, diesen vollständig und genau zu lesen. In diesem Fall wäre seine Unkenntnis der Rechtswidrigkeit unbeachtlich, weil sie auf grober Fahrlässigkeit beruhte (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 12. März 2002, L 12 RJ 32/01, juris Rdnr. 32). Dass der Kläger - wie er in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat behauptet hat - keine Altersteilzeit in Anspruch genommen hätte, wenn ihm die Anrechnung der Unfallrente bekannt gewesen wäre, ändert daran nichts. Entscheidend ist allein, dass der Kläger im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Rentenbescheides vom 4. September 2009 bösgläubig gewesen ist. Daran bestehen für den Senat keine Zweifel.

Die Rücknahme des Bescheides vom 4. September 2009 erfolgte fristgerecht, weil die Beklagte mit der Bekanntgabe des Rücknahmebescheides vom 22. Mai 2019 die zehnjährige Rücknahmefrist des § 45 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und 3 SGB X eingehalten hat. Eines Rückgriffs auf § 45 Abs. 3 Satz 4 SGB X bedarf es deshalb nicht. Darüber hinaus ist auch die Frist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X gewahrt. Denn Kenntnis im Sinne dieser Vorschrift bedeutet die hinreichende Sicherheit für den Erlass eines Rücknahmebescheides (vgl. BSG, Urteil vom 25. Januar 1994, 7 RAr 14/93, juris Rdnr. 29) mit der Folge, dass die Jahresfrist regelmäßig erst nach Durchführung der Anhörung gemäß § 24 Abs. 1 SGB X zu laufen beginnt (vgl. BSG, Urteil vom 31. Januar 2008, B 13 R 23/07 R, juris Rdnr. 29; BSG, Urteil vom 6. März 1997, 7 RAr 40/96, juris Rdnr. 26 m.w.N.; BSG, Urteil vom 8. Februar 1996, 13 RJ 35/94, SozR 3-1300 § 45 Nr. 27). Da sich der Kläger zu dem Anhörungsschreiben der Beklagten vom 12. April 2019 mit Schreiben vom 16. Mai 2019 geäußert hat, ist der Bescheid vom 22. Mai 2019 zweifelsohne innerhalb der Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X ergangen. Der Kläger kann in diesem Zusammenhang vor allem nicht damit gehört werden, dass die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X längst abgelaufen sei, weil er den Bezug der Unfallrente seinerzeit der LVA Hannover mitgeteilt hatte. Dieses Vorbringen ist schon deshalb irrelevant, da es für die Kenntnis im Sinne des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X allein auf die positive Kenntnis des behördenintern für die Vorbereitung oder die Entscheidung zuständigen Bearbeiters oder zumindest der zur Entscheidung berufenen Dienststelle ankommt (vgl. BSG, Urteil vom 8. Februar 1996, 13 RJ 35/94, SozR 3-1300 § 45 Nr. 27). Die Mitteilung des Bezugs einer Unfallrente gegenüber einem gänzlich anderen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung - noch dazu mehr als 40 Jahre vor dem hier maßgeblichen Zeitraum - reicht für den Beginn der Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X ganz offenkundig nicht aus. 

Die Entscheidung der Beklagten ist schließlich auch ermessensfehlerfrei ergangen.

Für eine fehlerfreie Ermessensentscheidung ist es gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB I erforderlich, dass der Verwaltungsträger sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung (überhaupt) ausübt und dass er dabei im Übrigen auch die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einhält. Der gemäß § 39 Abs. 1 SGB I von der Ermessensentscheidung Betroffene hat einen damit korrespondierenden Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung fehlerfreien Ermessens (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB I). Nur in diesem - eingeschränkten - Umfang unterliegt nach Maßgabe des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG die Ermessensentscheidung einer gerichtlichen Kontrolle. Rechtswidrig können Verwaltungsakte demnach in Fällen des Ermessensfehlgebrauchs sein. Hierzu zählt vor allem der Ermessensnichtgebrauch, der dann vorliegt, wenn die Behörde ihrer Pflicht zur Ermessensbetätigung nicht nachgekommen ist, beispielsweise, weil sie fälschlicherweise davon ausgegangen ist, es handele sich um eine gebundene Entscheidung. Eine Ermessensentscheidung erweist sich aber auch dann als fehlerhaft, wenn die Behörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschreitet, das heißt eine nach dem Gesetz nicht zugelassene Rechtsfolge setzt (Ermessensüberschreitung), oder ein Abwägungsdefizit und Ermessensfehl- bzw. Ermessensmissbrauch vorliegen, mithin die Behörde von unzutreffenden, in Wahrheit nicht gegebenen, unvollständigen oder falsch gedeuteten tatsächlichen oder rechtlichen Voraussetzungen ausgeht, Gesichtspunkte tatsächlicher oder rechtlicher Art berücksichtigt, die rechtlich nicht relevant sind, oder umgekehrt wesentliche Gesichtspunkte außer Acht lässt, die zu berücksichtigen wären (vgl. BSG, Urteil vom 14. Dezember 1994, 4 RA 42/94 = SozR 3-1200 § 39 Nr. 1). 

Die Frage, ob überhaupt eine Ermessensentscheidung ergangen ist und ob diese gegebenenfalls rechtmäßig war, beurteilt sich nach dem Inhalt des Bescheides, insbesondere nach seiner Begründung (§ 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X). Diese muss erkennen lassen, dass eine Ermessensentscheidung getroffen wurde, und sie muss darüber hinaus grundsätzlich auch diejenigen Gesichtspunkte aufzeigen, von denen der Verwaltungsträger bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist (vgl. BSG, Urteil vom 17. Oktober 1990, 11 RAr 3/88, SozR 3-1300 § 45 Nr. 5; BSG, Urteil vom 25. Januar 1994, 7 RAr 14/93, SozR 3-1300 § 45 Nr. 20). Die Ermessensausübung ist gerichtlich aber auch dahingehend zu überprüfen, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat (vgl. BSG, Urteil vom 10. August 1993, 9 BV 4/93, SozR 3-1300 § 45 Nr. 18). 

Die von der Beklagten getroffene Ermessensentscheidung entspricht diesen Vorgaben. Zumindest mit ihrem Widerspruchsbescheid vom 8. August 2019, der dem Ausgangsbescheid seine endgültige Gestalt verliehen hat (§ 95 SGG), hat die Beklagte hinreichend deutlich zu erkennen gegeben, dass sie das ihr eingeräumte Ermessen innerhalb des ihr zustehenden Spielraums unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des § 45 SGB X betätigt sowie hierbei die Umstände des konkreten Einzelfalles gegeneinander abgewogen und angemessen berücksichtigt hat. Dabei ist insbesondere ihre Erwägung nicht zu beanstanden, dass die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit für den Kläger keine besondere Härte darstellt, weil ihm trotz der rückwirkenden Anrechnung der Unfallrente ein monatliches Gesamteinkommen zur Verfügung gestanden hat, das durchgängig höher war als die ihm zunächst gewährte ungekürzte Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Mit Blick darauf geht auch der Hinweis des Klägers ins Leere, er sei nach der Erhöhung seiner Unfallrente finanziell erheblich schlechter gestellt als ohne diese Erhöhung. Ebenfalls ermessensfehlerfrei hat die Beklagte neben dem Schutz der Versichertengemeinschaft vor finanziellen Verlusten auch das Erfordernis der Gesetzmäßigkeit eines jeden Verwaltungshandelns in ihre Abwägung einbezogen, welches grundsätzlich die Beseitigung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes verlangt. Dass hiervon in seinem Falle ausnahmsweise abzusehen sein könnte, hat der Kläger weder im Anhörungs- noch im Widerspruchsverfahren dargelegt. Die im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigenden Tatsachen müssen aber bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens vorgetragen worden sein. Andernfalls kann sich der Betroffene später nicht auf die Nichtberücksichtigung dieser Tatsachen berufen (vgl. BSG, Urteil vom 25. Januar 1994, 4 RA 16/92, SozR 3-1300 § 50 Nr. 16). Das gilt vorliegend insbesondere für den erstmals im Berufungsverfahren geltend gemachten Einwand des Klägers, die Beklagte habe bei der Rentenfeststellung den Bescheid vom 2. Juli 1969 unberücksichtigt gelassen. Unabhängig davon, dass schon unklar ist, welche Schlussfolgerungen die Beklagte aus der bloßen Existenz jenes Rentenbescheides für die notwendige Anrechnung einer Unfallrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung auf die mehr als 40 Jahre später gewährte Altersrente für schwerbehinderte Menschen hätte ziehen können, müsste sie ein etwaiges Mitverschulden bei der von ihr zu treffenden Ermessensentscheidung nicht zwingend in die Abwägung einbeziehen. Stellt nämlich die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens in Bezug auf die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts einen eigenen Fehler in die Interessenabwägung nicht mit ein, so liegt ein Ermessens- bzw. Abwägungsdefizit nicht vor, wenn der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (vgl. BSG, Urteil vom 30. Oktober 2013, B 12 R 14/11 R, SozR 4-1300 § 45 Nr. 15). Eben das trifft vorliegend auf den im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X bösgläubigen Kläger zu. 

Der von der Beklagten geltend gemachte Erstattungsanspruch ergibt sich aus § 50 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 SGB X. Dabei ist der im Bescheid vom 22. Mai 2019 verfügte Erstattungsbetrag von 87.368,23 € um 2.767,40 € auf 84.600,83 € zu reduzieren gewesen. Denn der ursprüngliche Rentenneufeststellungsbescheid vom 4. September 2009 ist hinsichtlich der „Rentenhöhe“ vom 1. Februar 2018 bis 30. April 2019 in diesem Umfang infolge der gerichtlichen Kassation des angefochtenen Rücknahmebescheides weiterhin wirksam (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB X), weshalb es insoweit an einem aufgehobenen Verwaltungsakt im Sinne von § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X fehlt. Anhaltspunkte dafür, dass das Rechenwerk der Beklagten im Übrigen unzutreffend sein könnte, sind weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich. 

Die Auffassung des Klägers, die Erstattungsforderung der Beklagten sei verjährt, findet im Gesetz keine Stütze. Gemäß § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X verjährt der Erstattungsanspruch in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Verwaltungsakt nach Absatz 3 unanfechtbar geworden ist. Der die Erstattungsforderung feststellende Bescheid der Beklagte vom 22. Mai 2019 ist bislang aber schon deshalb nicht unanfechtbar geworden, weil er mit dem vorliegenden Berufungsverfahren angefochten gewesen ist. Die Unanfechtbarkeit eines Verwaltungsaktes im Sinne von Bestandskraft tritt nach § 77 SGG erst ein, wenn der gegebene Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt ist. Vor diesem Hintergrund hat die vierjährige Verjährungsfrist des § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht einmal zu laufen begonnen. Erst Recht geht dann der Einwand des Klägers ins Leere, die Erstattungsforderung der Beklagten sei verwirkt. Hierfür gibt es in Anbetracht des tatsächlichen Geschehensablaufs keine vernünftigen Anhaltspunkte.

Nach alledem konnte die Berufung des Klägers nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg haben. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Das nur geringfügige Obsiegen des Klägers rechtfertigt es nicht, die Beklagte - auch nicht anteilig - an seinen außergerichtlichen Kosten zu beteiligen. 

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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