S 6 R 300/19

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 6 R 300/19
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 121/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

 
Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Rückforderung von Altersrente für schwerbehinderte Menschen wegen rückwirkender Anrechnung von Unfallrente. 

Der 1949 geborene Kläger ist wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls auf seinen Antrag vom 24.05.1968 seit dem 01.01.1969 im Bezug einer Unfallrente der Berufsgenossenschaft Holz und Metall in Hannover (BGHM Hannover). 

Er bezog außerdem gemäß Bescheid der damaligen Landesversicherungsanstalt Hannover vom 02.07.1969 in dem Zeitraum vom 01.05.1968 bis zum 30.11.1969 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Zeit. Ausweislich der Berechnungen in den Anlagen zum Bescheid wurde die Unfallrente damals auf den Bezug der Berufsunfähigkeitsrente angerechnet. 

Am 17.02.2009 beantragte der Kläger die Bewilligung einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Bei der Antragstellung nahm der Kläger die Hilfe des Knappschaftsältesten C. in Anspruch. Zu der Frage unter Punkt 12.2 des Antragsformulars, ob er „Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung oder von einem ausländischen Unfallversicherungsträger“ beziehe, kreuzte er mithilfe des Knappschaftsältesten das Kästchen „nein“ an. Mit seiner eigenhändigen Unterschrift versicherte der Kläger außerdem gemäß Punkt 18 des Antragsformulars, dass er alle Angaben nach bestem Wissen gemacht habe und verpflichtete sich, den Rentenversicherungsträger unverzüglich zu benachrichtigen, wenn nach Stellung dieses Rentenantrags bis zum Rentenbeginn eine Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung beantragt oder gezahlt werde.

Mit Bescheid vom 07.05.2009 bewilligte die Beklagte eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab 01.07.2009. Mit Bescheid vom 04.09.2009 hob sie den ursprünglichen Bewilligungsbescheid auf und stellte die Rente mit Wirkung zum 01.07.2009 neu fest. Beide Bescheide sind jeweils auf Seite 4 mit den folgenden Hinweisen insbesondere zu Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung versehen:

„Bestimmte Leistungen können auch nach dem Erreichen der Regelaltersgrenze Einfluss auf die Rentenhöhe haben. Sie sind verpflichtet, uns den Bezug und jede Veränderung folgender Leistungen unverzüglich mitzuteilen:

-    Rente an Versicherte aus der gesetzlichen Unfallversicherung,

-    Abfindung einer Rente an Versicherte aus der gesetzlichen Unfallversicherung,

-    Heimpflege anstelle einer Rente an Versicherte aus der gesetzlichen Unfallversicherung,

-    Verletztengeld aus der gesetzlichen Unfallversicherung,

-    ….

Wird eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung beantragt oder ein Rentenverfahren eingeleitet, teilen Sie uns dies bitte unverzüglich mit.“

Mit Schreiben der BGHM Hannover vom 06.03.2019 an die Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover wurde mitgeteilt, dass der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Klägers zum 01.02.2018 von 80 % auf 90 % heraufgesetzt wurde und sich hieraus für den Zeitraum vom 01.02.2018 bis zum 30.04.2019 eine Nachzahlung in Höhe von 2.767,40 € ergebe. Durch Weiterleitung dieses Schreibens an die Beklagte erlangte diese mit Zugang am 13.03.2019 Kenntnis von dem Bezug der Unfallrente.

Nach Anhörung des Klägers mit Schreiben vom 12.04.2019 hob die Beklagte den Bescheid über die Neuberechnung der Altersrente vom 04.09.2009 mit Bescheid vom 22.05.2019 für die Zeit ab dem 01.07.2009 hinsichtlich der Rentenhöhe auf und forderte für den Zeitraum vom 01.07.2009 bis zum 30.04.2019 überzahlte Rentenbeträge in Höhe von 87.368,23 € zurück. 

Die Beklagte begründet ihre Aufhebungsentscheidung damit, dass der Kläger im Rahmen der Rentenantragstellung in grob fahrlässiger Weise nicht angegeben habe, dass er eine Unfallrente beziehe.  

Gegen den Aufhebungsbescheid erhob der Kläger am 07.06.2019 Widerspruch. Er trägt vor, dass der Knappschaftsälteste, der sein langjähriger Arbeitskollege gewesen sei, ihn falsch beraten habe. 

Mit Widerspruchsbescheid vom 08.08.2019 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie ist der Auffassung, dass der Kläger grob fahrlässige Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit des Bescheids hatte. Er habe bei Erhalt des Bescheides erkennen können, dass der Bezug der Verletztenrente aus der Unfallversicherung Auswirkungen auf die monatliche Höhe der zuerkannten Altersrente haben musste. Bei Zweifeln treffe ihn außerdem die Pflicht zur Erkundigung bei der Beklagten, welcher er nicht nachgekommen sei. 

Am 16.08.2019 hat der Kläger Klage erhoben.

Er trägt vor, dass die Beklagte aus Schriftverkehr mit dem Kläger in den Jahren 1969, 1987, 2003 und 2005 Kenntnis von der Rentenleistung aus der Unfallversicherung gehabt habe. Zum Nachweis hat der Kläger die oben genannten Schriftstücke der Landesversicherungsanstalt Hannover vorgelegt.

Er ist der Auffassung, dass er auf die Rechtmäßigkeit des Bewilligungsbescheids vertrauen durfte. Nicht er, sondern der Versichertenälteste habe den Antrag ausgefüllt. Auf dessen rechtmäßige Aufklärung und Beratung habe er vertrauen dürfen. 

Er macht außerdem einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch geltend. Zur Begründung führt er an, dass der Knappschaftsälteste seiner Beratungs- und Auskunftspflicht nicht nachgekommen sei. Die Pflichtverletzung sei auch kausal für den entstandenen Schaden gewesen.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 22.05.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.08.2019 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, dass die Inanspruchnahme von Hilfestellungen den Kläger nicht davon entbinde, die Fragen aus dem Antragsformular wahrheitsentsprechend zu beantworten. Der Kläger habe den Rentenantrag selbst unterschrieben und sei damit verantwortlich für die von ihm gemachten Angaben. Außerdem belege die Vorlage von Unterlagen der Landesversicherungsanstalt Hannover, dass der Kläger tatsächlich Kenntnis davon gehabt habe, dass sich der Bezug der Unfallrente auf die Altersrente auswirke. Schriftverkehr aus den Jahren 1969, 1987, 2003 und 2005 zu dem Umstand, dass der Kläger Unfallrente beziehe, sei der Beklagten nicht bekannt. 

Im gerichtlichen Verfahren hat der Kläger eine eidesstattliche Erklärung des inzwischen verstorbenen Knappschaftsältesten C. vom 05.02.2022 zu den Umständen der Antragstellung vorgelegt. Mit dieser erklärt Herr C., dass die Fragen im Rentenantrag gemeinsam bearbeitet wurden. Die Frage 12.2 zu den „Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung“ hätten sie mit „Nein“ angekreuzt. Herr C. erklärt weiter: 

„Nein deswegen, weil Herr A. mit seinem Nein, was ich übernahm, darauf hinwies, dass er eine Berufsunfähigkeitsrente und keine Unfallversicherung bezog.“

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vortrags der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die jeweils Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen. 

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig. Sie ist als Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, da sie sich gegen die Rückforderung überzahlter Rentenleistungen und damit gegen einen belastenden Verwaltungsakt richtet. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen liegen vor.

Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 22.05.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.08.2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 54 Abs. 2 SGG

Die Beklagte war berechtigt, den Bescheid über die Neufeststellung der Altersrente für schwerbehinderte Menschen vom 04.09.2009 mit Wirkung für die Vergangenheit gemäß § 45 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) zurückzunehmen sowie von dem Kläger den überzahlten Betrag gemäß § 50 Abs. 1 SGB X für den Zeitraum vom 01.07.2009 bis zum 30.04.2019 in Höhe von 87.368,23 € zurückzufordern.  

Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Dabei ist das Vertrauen gemäß § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X allerdings nicht berufen, soweit

1.    er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,

2.    der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder

3.    er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

Gemäß § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe nach § 45 Abs. 2 SGB X zurückgenommen werden, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 gegeben sind. Gemäß § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X wird der Verwaltungsakt nur in den Fällen des Absatzes 2 Satz 3 und des Absatzes 3 Satz 2 mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Die Behörde muss dies gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen.

Der Bescheid über die Neufeststellung der Altersrente vom 04.09.2009 war von Anfang an rechtswidrig, da eine Anrechnung der Verletztenrente aus der Unfallversicherung gemäß § 93 Abs. 1 Nr. 1 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) nicht erfolgt ist. Die durch den Kläger bezogene Unfallrente der BGHM Hannover hätte gemäß § 93 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI von Beginn der Auszahlung der Altersrente an insoweit abgezogen werden müssen, als die Summe der zusammentreffenden Rentenbeträge vor Einkommensanrechnung nach § 97 SGB VI und nach § 65 Absatz 3 und 4 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII) den jeweiligen Grenzbetrag übersteigt. 

I. Der Kläger kann sich gegenüber der Rücknahme des Rentenbescheids nicht mit Erfolg auf Vertrauensschutz gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB X berufen, da der Tatbestand des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X erfüllt ist. 

Zur Überzeugung der Kammer hat der Kläger bei Antragstellung grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung Angaben unrichtig gemacht, auf welchen der Bewilligungsbescheid auch beruht.  

Gemäß § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 2. Halbsatz SGB X verhält sich grob fahrlässig, wer die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Dies ist der Fall, wenn der Begünstigte schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (vgl. BSG, Urteil vom 31. August 1976 - 7 RAr 112/74, juris Rn. 19 sowie Urteil vom 12.02.1980 - 7 RAr 13/79, juris Rn. 27). Dieser Vorwurf muss sich im Hinblick auf die Unrichtigkeit der Angabe ergeben. Entscheidend ist danach das individuelle Vermögen, die Fehlerhaftigkeit der gemachten Angabe erkennen zu können. Danach sind Angaben zunächst grob fahrlässig fehlerhaft gemacht, wenn dem Versicherten ohne weitere Überlegungen klar sein musste, dass er den betreffenden Umstand mitteilen musste (vgl. Schütze, in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 45 Rn. 61). Nach dem subjektiven Fahrlässigkeitsbegriff der ständigen Rechtsprechung sind sowohl die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit des Begünstigten als auch seine Einsichtsfähigkeit zu berücksichtigen (vgl. zum subjektiven Fahrlässigkeitsbegriff nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, Urteil vom 13. 12. 1972 - 7 RKg 9/69, juris Rn. 14, Urteil vom 20.09.1977 - 8/12 RKg 8/76, juris Rn. 25 sowie Urteil vom 08.02.2001 - B 11 AL 21/00 R, juris Rn. 23). 

Zur Überzeugung der Kammer hätte der Kläger die Fehlerhaftigkeit des Verschweigens seines Bezugs der Unfallrente erkennen können. Dem Kläger musste aufgrund einfachster Überlegungen klar sein, dass er im Bezug einer solchen Rente ist, sowie, dass dieser Umstand mitteilungspflichtig ist. 

Der Kläger bezog die Unfallrente zum Zeitpunkt der maßgeblichen Antragstellung bereits während eines Zeitraums von vierzig Jahren, nämlich seit dem 01.01.1969. Die Unfallrente hatte als dauerhaftes Erwerbsersatzeinkommen über den gesamten Zeitraum hinweg existenzsichernde Funktion. Es überzeugt daher nicht, dass der Kläger von dem Bezug seiner Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung im Zeitpunkt der Antragstellung am 17.02.2009 keine Kenntnis gehabt haben will. Soweit der Kläger vorträgt, er sei in den genannten Zeiträumen, nämlich in den Jahren 1969, 1987, 2003 und 2005, mit der Beklagten in Kontakt getreten und die Beklagte habe hierauf von der zu berücksichtigenden Unfallrente Kenntnis erlangt, bestätigt dies die Auffassung der Kammer. Dabei verfängt nicht der Vortrag des Klägers aus der mündlichen Verhandlung, dass er die Berufsunfähigkeitsrente begrifflich mit der Unfallrente verwechselt habe. Hiergegen spricht zum einen der Umstand, dass es sich um verschiedene Rentenarten zweier verschiedener Leistungsträger mit im konkreten Fall ganz unterschiedlichen Bewilligungszeiträumen handelt. Zum anderen spricht dagegen, dass der Kläger den Unterschied auch aus dem ihm gegenüber ergangenen Bescheid der Landesversicherungsanstalt Hannover vom 02.07.1969 erkennen konnte. Hier werden beide Renten nicht nur nebeneinander genannt, sondern die Unfallrente wird auf die Berufsunfähigkeitsrente angerechnet. Daher musste dem Kläger auch bewusst sein, dass sich die Unfallrente auf die Höhe der streitgegenständlichen Altersrente auswirken kann. Schließlich wurde der Kläger im Antragsformular ausdrücklich auf seine Mitteilungspflicht hinsichtlich des Bezugs von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung hingewiesen. Mit seiner eigenhändigen Unterschrift zeichnet er sich für den Inhalt seiner (unrichtigen) Angaben verantwortlich und hat damit die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt.

Eine andere Bewertung ergibt sich nicht vor dem Hintergrund, dass sich der Kläger bei der Antragstellung durch den Knappschaftsältesten C. hat unterstützen lassen. 

Nach den hier anwendbaren Vertretungsregeln der § 164 Abs. 1, § 166 Abs. 1 BGB sowie § 278 BGB analog muss sich der Vertretene die fehlerhafte Erklärung seines Vertreters grundsätzlich wie einen eigenen Fehler zurechnen lassen (vgl. BSG, Urteil vom 22. Oktober 1968 - 9 RV 418/65, Rn. 15). Dies gilt insbesondere dann, wenn er die Fehlerhaftigkeit der Erklärung selbst erkannt hat oder hat erkennen können (vgl. Schütze, in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 45 SGB X Rn. 58 sowie Padé, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 45 SGB X Rn. 86). Hingegen kann grobe Fahrlässigkeit, insbesondere bei einem rechtlich nicht gewandten Antragsteller, ausgeschlossen sein, wenn er sich auf die hinreichende Sachkenntnis und die erschöpfende und unmissverständliche Befragung zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen eines von ihm für sachkundig gehaltenen Dritten verlässt (vgl. BSG, Urteil vom 14.6.1984 - 10 RKg 21/83, BeckRS 1980, 40570). Zwingend ist ein derartiger Ausschluss eigener grober Fahrlässigkeit aber nicht, weil es insoweit auf die jeweiligen Umstände des Falles ankommt (vgl. BSG, Urteil vom 30.10.2013 - B 12 KR 21/11 R, Rn. 30).
Vorliegend konnte der Kläger die Fehlerhaftigkeit der abgegebenen Erklärung erkennen. Er hatte zur Überzeugung der Kammer Kenntnis davon, dass er im Bezug einer Unfall- und nicht einer Berufsunfähigkeitsrente ist. 

Anhaltspunkte für den Ausschluss eigener grober Fahrlässigkeit des Klägers liegen nicht vor. Zur Überzeugung des Gerichts sind die als Urkundenbeweis verwertbaren Angaben des Knappschaftsältesten in der eidesstattlichen Versicherung vom 05.02.2022 der Wahrheit entsprechend abgegeben worden. Hiernach wies der Kläger den Knappschaftsältesten darauf hin, dass er, der Kläger, eine Berufsunfähigkeitsrente und keine Rente aus der Unfallversicherung beziehe. Diese Angaben habe er, der Knappschaftsälteste, sodann übernommen. Ob hierin ein pflichtwidriges Verhalten des Knappschaftsältesten gesehen werden kann, vermag dahinstehen. Es ist jedenfalls nicht geeignet, den Kläger vom Vorwurf eigener grober Fahrlässigkeit zu entlasten. Denn es kann dem wissenden Vertretenen nicht zu seinem Vorteil gereichen, dass er sich der Hilfe eines unwissenden Vertreters bedient. Sinn und Zweck der Zurechenbarkeit von Erklärungen ist nämlich nicht, dass derjenige, der sich der Hilfe eines Dritten bedient, bessergestellt wird als derjenige, der selbst handelt (vgl. BSG, Urteil vom 08.12.2020 - B 4 AS 46/20 R, juris Rn. 26). 

II. Daneben sind nach Auffassung der Kammer auch die Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X erfüllt, weil sich der Kläger grob fahrlässige Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 04.09.2009 entgegenhalten lassen muss. 

Voraussetzung für eine grob fahrlässige Unkenntnis ist, dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Mängel aus dem Bewilligungsbescheid oder anderen Umständen ergeben und für das Einsichtsvermögen des Betroffenen auch subjektiv ohne weiteres erkennbar sind. Darüber hinaus ist der Kläger als Leistungsberechtigter verpflichtet, Bewilligungsbescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen (vgl. BSG, Urteil vom 01.07.2010 - B 13 R 77/09 R, juris Rn. 33). Denn die Beteiligten haben sich gegenseitig vor vermeidbarem, das Versicherungsverhältnis betreffenden Schaden zu bewahren (vgl. BSG, Urteil vom 08.02.2001 - B 11 AL 21/00 R, juris Rn. 25 sowie Hessisches LSG, Urteil vom 13.10.2017 - L 5 R 61/16, juris Rn. 43). Die Unkenntnis ist daher grob fahrlässig, wenn der Adressat, hätte er den Bewilligungsbescheid gelesen und zur Kenntnis genommen, auf Grund einfachster und naheliegender Überlegungen sicher hätte erkennen können, dass der zuerkannte Anspruch nicht oder jedenfalls so nicht besteht (BSG, Urteil vom 26. August 1987 - 11a RA 30/86). Dabei führt das Außerachtlassen von gesetzlichen oder Verwaltungsvorschriften, auf die in einem Merkblatt besonders hingewiesen wurde, grundsätzlich zu der Annahme grober Fahrlässigkeit (vgl. BSG, Urteil vom 20.09.1977 - 8/12 RKg 8/76, juris Rn. 25). Dies muss erst recht gelten, wenn der Begünstigte im Bescheid selbst auf bestehende Mitteilungspflichten hingewiesen wurde. 

Hieran gemessen hätte der Kläger die Rechtswidrigkeit des Bescheids zur Überzeugung der Kammer aufgrund einfachster und ganz naheliegender Überlegungen erkennen können. Ausweislich seines Vortrages in der mündlichen Verhandlung hat er den Bewilligungsbescheid nicht gelesen, sondern lediglich den monatlichen Auszahlungsbetrag zur Kenntnis genommen. Dabei wurde der Kläger ausdrücklich auf die Mitteilungspflichten zum Bezug einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung hingewiesen. Hätte er den Bescheid gelesen, so hätte ihm auffallen müssen, dass ihm die Altersrente aufgrund der fehlenden Anrechnung seiner Unfallrente nicht in der gewährten Höhe zusteht. 

Zur Überzeugung der Kammer sind darüber hinaus keine Anhaltspunkte erkennbar, die an dem Einsichtsvermögen des Klägers in den Sachverhalt der Altersrentenversicherung und die Anrechenbarkeit anderer Versicherungsleistungen Zweifel begründen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich der Kläger nach seinem Vortrag aus unterschiedlichen Anlässen in den Jahren 1969, 1987, 2003 und 2005 mit den Voraussetzungen seines Rentenbezugs auseinandergesetzt hat.

Schließlich sind die angestellten Ermessenserwägungen der Beklagten im Widerspruchsbescheid vom 08.08.2019 nicht zu beanstanden, soweit diese der gerichtlichen Überprüfung unterliegen. Die Beklagte hat das ihr eingeräumte Ermessen in ermessensfehlerfreier Weise ausgeübt. 

Die Rücknahme erfolgte innerhalb der Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X. Die Beklagte erlangte mit dem Schreiben der BGHM Hannover vom 06.03.2019 am 13.03.2019 erstmals Kenntnis vom Bezug der Unfallrente und erließ sodann am 22.05.2019 den streitgegenständlichen Bescheid. Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte bereits vor diesem Zeitpunkt Kenntnis hatte, sind ausweislich der vorliegenden Unterlagen aus dem Verwaltungsverfahren nicht ersichtlich. Weiterer Vortrag des insoweit objektiv beweisbelasteten Klägers ist nicht erfolgt.

Die Überzahlungsforderung ist ebenfalls rechtmäßig. Nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist Voraussetzung für die Rückforderung der für die Zeit vom 01.07.2009 bis zum 30.04.2019 zu Unrecht gezahlten Altersrente, dass der sie bewilligende Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Hiernach sind die bereits erbrachten Leistungen zu erstatten. 

Auf einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch kann sich der Kläger nicht berufen. Nach Auffassung der Kammer ist bereits fraglich, ob angesichts der oben getroffenen Feststellungen der Kammer zur Kenntnis des Klägers vom Bezug der Unfallrente tatsächlich eine Pflichtverletzung vorliegt. Jedenfalls aber fehlt es an der Kausalität, da der Kläger die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides hätte erkennen können.

Nach alledem war die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG

Die Rechtsmittelbelehrung folgt aus § 143 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
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