S 14 KR 5/24 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 14 KR 5/24 ER
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
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Datum
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3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
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Kategorie
Beschluss
Leitsätze


Zur Geltendmachung des Anspruchs eines Kindes, bei dem Diabetes Typ I diagnostiziert ist, auf außerklinische Intensivpflege während des Besuchs einer Kindertagesstätte im einstweiligen Rechtsschutz.  


Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig bis zum Ablauf des aktuellen Verordnungszeitraums am 31.10.2024, längstens aber bis zur Entscheidung des nach Abschlusses des Vorverfahrens noch anhängig zur machenden Hauptsache, außerklinische Intensivpflege im Umfang von bis 30 Stunden wöchentlich zur Verfügung zu stellen. 

Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers. 


Gründe

I.

Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes über die Genehmigung und Kostenübernahme für außerklinische Intensivpflege. 

Der 2019 geborene Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin im Rahmen der Familienversicherung versichert. Er leidet unter Diabetes Typ I und besucht die Evangelische Kindertagesstätte in C-Stadt. 

Mit Verordnung vom 30.10.2023 beantragte der Antragsteller außerklinische Intensivpflege mit einem Umfang von 6 Stunden täglich bei der Antragsgegnerin. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass unter intensivierter Insulintherapie gehäufte Hypoglykämien aufgetreten seien. Es gehe um die Vermeidung lebensbedrohlicher Situationen. 

Mit Bescheid vom 11.12.2023 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag ab. Die Leistungen seien bereits als sonstige Leistungen der häuslichen Krankenpflege bewilligt worden. 

Dagegen wandte sich der Antragsteller, vertreten durch seine Prozessbevollmächtigte, mit Widerspruchsschreiben vom 5.1.2024. 

Mit Schreiben vom 8.1.2024 teilte die Antragsgegnerin mit, dass eine Genehmigung von sonstigen Leistungen erfolgt sei. Die Entscheidung müsse daher aufrechterhalten werden. 

Daraufhin bat die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers um Auskunft, ob die von der Antragsgegnerin benannte Genehmigung den gesamten Umfang des Kitabesuchs täglich beinhalte. Sollte dies der Fall sein, läge jedenfalls keine Eilbedürftigkeit vor. 

Die Antragsgegnerin teilte mit, dass 2 Mal täglich Unterstützung beim Diabetesmanagement genehmigt worden sei. Dies bedeute, dass der Pflegedienst 2 Mal täglich in den Kindergarten komme und alle Aufgaben im Zusammenhang mit dem Diabetesmanagement wahrnehme.

Der Antragsteller hat am 19.1.2024 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung am Sozialgericht Marburg gestellt. Zur Begründung wurde insbesondere auf eine ärztliche Stellungnahme von Dr. H. verwiesen, die belege, dass der Antragsteller unter stark schwankenden Blutzuckerwerten leide und deshalb die außerklinische Intensivpflege notwendig sei. 

Der Antragsteller beantragt, 
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für die beantragte Versorgung für das Kind A. A., geboren am XX.XX.2019, der außerklinischen Intensivpflege für den Zeitraum 31. Oktober 2023 bis 31. Oktober 2024 ab bestehender Leistung zu tragen.

Die Antragsgegnerin beantragt, 
den Antrag abzulehnen. 

Es sei weder ein Anordnungsanspruch noch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Es sei bereits eine intensivierte Insulintherapie genehmigt worden. Der Antragsteller begehre eine Teilhabeassistenz. Lebensbedrohliche Situationen, in denen sofortiges Tätigwerden erforderlich sei, seien nicht dokumentiert. Ein Anordnungsgrund läge ebenfalls nicht vor. Dieser werde mit der beruflichen Tätigkeit der Eltern und der Organisation des Pflegedienstes begründet. Dies ersetze aber nicht die erforderlichen Ausführungen zum medizinischen Erfordernis. 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.


II.

Der zulässige Antrag ist begründet. 

Nach dem hier einschlägigen § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Die hier in Betracht kommende Regelungsanordnung (Satz 2) setzt einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus.

Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.

Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. 

§ 37c SGB V bestimmt, dass versicherte Personen mit einem besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege Anspruch auf außerklinische Intensivpflege haben. Ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege liegt nach S. 2 vor, wenn die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft zur individuellen Kontrolle und Einsatzbereitschaft oder ein vergleichbar intensiver Einsatz einer Pflegefachkraft erforderlich ist. Dies ist insbesondere der Fall, wenn behandlungspflegerische Maßnahmen in ihrer Intensität oder Häufigkeit unvorhersehbar am Tag erfolgen müssen (siehe nur BeckOGK/Nolte, 1.3.2021, SGB V § 37c Rn. 4). 

Das Gericht hält es für eher wahrscheinlich, dass der Antragsteller einen Anspruch auf die beantragte außerklinische Versorgung hat. Insbesondere ist glaubhaft gemacht, dass behandlungspflegerische Maßnahmen in ihrer Intensität und Häufigkeit unvorhersehbar am Tag erfolgen müssen. Aus der vorgelegten ärztlichen Stellungnahme von Dr. H. geht hervor, dass die Blutzuckerwerte des Antragstellers stark schwanken. Die Insulintherapie erfolge daher nicht nur durch regelmäßige Messungen, Berechnung der Dosis des Insulins und Abgabe der Insulinmengen vor und nach den Mahlzeiten, sondern durch zusätzliche Interventionen bei Symptomen einer Über- oder Unterzuckerung. Weiter führt Dr. H. aus, dass gerade aufgrund wechselnder körperlicher Aktivitäten, unregelmäßigen Tagesrhythmus sowie Infekten die Notwendigkeit einer jederzeitigen Interventionsmöglichkeit bestehen müsse. Nur durch die ständige Anwesenheit von geschultem medizinischem Personal ließen sich täglich drohende lebensgefährliche Über- und Unterzuckerungen vermeiden. Das hält die Kammer für überzeugend, insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass der Antragsteller noch ein Kleinkind ist und deshalb nicht davon auszugehen ist, dass er selbst bereits in der Lage ist, Symptome einer Über- oder Unterzuckerung zu erkennen und frühzeitig zu artikulieren. Hinzu kommt, dass die Mutter des Antragstellers in dem durchgeführten Erörterungstermin glaubhaft vorgetragen hat, dass bereits mehrfach akute Interventionen nötig waren. So hat diese berichtet, dass es allein in diesem Winter bereits dreimal zu einer Unterzuckerung gekommen ist – obwohl der Antragsteller in dieser Zeit in der Kindertagesstätte und damit unter Beobachtung war. Die Kammer hat keinen Grund an diesem Vortrag zu zweifeln. Die umfassende und abschließende Prüfung – ggf. auch durch Einholung eines Sachverständigengutachtens – muss im Hauptsacheverfahren erfolgen.

Auch ein Anordnungsgrund ist glaubhaft gemacht. Anders als die Antragsgegnerin meint, wird mit Blick auf den Anordnungsgrund nicht ausschließlich auf die Berufstätigkeit und organisatorische Schwierigkeiten in der Kita verwiesen. Der Anordnungsgrund ergibt sich vielmehr daraus, dass bei einer fehlenden Intensivpflege Unterzuckerungen drohen, die lebensbedrohlich sein können. 

Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass auch eine etwaige Folgenabwägung zugunsten des Antragstellers ausgehen würde. 

Droht bei Ablehnung des Eilantrages die Gefahr einer Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der der körperlichen Unversehrtheit, verlangt Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage, die sich von der im Hauptsacheverfahren nicht unterscheidet (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 22. November 2002 – 1 BvR 1586/02 –, juris) oder – sollte eine solche Prüfung – wie hier – nicht zeitnah möglich sein – eine Abwägung der widerstreitenden Interessen. Es ist eine verfassungskonforme Auslegung des § 86b Abs. 2 SGG geboten.

In Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz ist eine Folgenabwägung vorzunehmen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat. Abzuwägen sind stattdessen die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erging, obwohl dem Antragsteller die beantragte Leistung zusteht, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl kein Anspruch hierauf besteht (siehe SG Gießen, Beschluss vom 5. Dezember 2005 – S 21 KR 327/05 ER –, juris Rn. 34 ff.).

Das bedeutet insbesondere, dass die Grundrechte des Antragstellers auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit zur Geltung gebracht werden müssen. Besteht die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens stirbt, oder er schwere oder irrevisible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, ist ihm die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht auf Grund eindeutiger Erkenntnisse davon überzeugt ist, dass die begehrte Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert ist oder ihr Einsatz mit dem Risiko behaftet ist, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu verwirklichen. 

Besteht die Beeinträchtigung des Versicherten dagegen im Wesentlichen nur darin, dass er die begehrte Leistung zu einem späteren Zeitpunkt erhält, ohne dass sie dadurch für ihn grundsätzlich an Wert verliert, weil die Beeinträchtigung der in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG genannten Rechtsgüter durch eine spätere Leistungsgewährung beseitigt werden kann, dürfen die Sozialgerichte die begehrte Leistung im Rahmen der Folgenabwägung ablehnen (SG Gießen, Beschluss vom 5. Dezember 2005 – S 21 KR 327/05 ER –, juris Rn. 35).

Unter Zugrundlegung dieser Maßstäbe fällt die Folgenabwägung zugunsten des Antragstellers aus. Er hat eine besondere Dringlichkeit glaubhaft gemacht. Ohne die beantragte Versorgung drohen irreversible Schäden. Die finanziellen Interessen der Antragsgegnerin müssen hier zurückstehen.

Dem Antrag war daher stattzugeben. 

Die Kostenfolge beruht auf § 193 SGG analog und entspricht dem Ausgang des Verfahrens. 
 

Rechtskraft
Aus
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