L 16 KR 274/23 B ER

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Osnabrück (NSB)
Aktenzeichen
S 3 KR 95/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 16 KR 274/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Der Beschluss des Sozialgerichts Osnabrück vom 28. April 2023 wird aufgehoben.

Der Antrag wird abgelehnt.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt von der Antragsgegnerin die Versorgung mit dem Arzneimittel Miglustat (Zavesca) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.

Der im Jahre 2020 geborene Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert.

Im März 2022 wurde bei ihm die Diagnose GM2 Gangliosidose (Morbus Tay-Sachs) gestellt. Hierbei handelt es sich um eine lysosomale neurodegenerative Stoffwechselerkrankung. Bei dem Antragsteller liegt der infantile bis spät-infantile Phaenotyp vor. Charakteristisch ist der Verlust von erworbenen psychomotorischen Fähigkeiten nach zunächst meist normaler Entwicklung. Leitsymptome sind eine progrediente Spastik und dystone Bewegungsstörung. Die Krankheit ist gekennzeichnet durch eine progrediente Neurodegeneration mit zunehmenden Verlust erworbener kognitiver und motorischer Fähigkeiten und stark verkürzter Lebenserwartung.

Am 30. November 2022 beantragte der Antragsteller unter Beifügung eines Attestes der Kinderärztin Dr G. vom 22. November 2022 gegenüber der Antragsgegnerin die Kostenübernahme für Miglustat (Zavesca). Darin wurde ausgeführt, dass nach Informationen von Dr H. bereits Patienten mit GM2 Gangliosidose im Rahmen eines Off-Label-Use mit Miglustat behandelt worden seien. Man erhoffe sich eine Verlangsamung des neurodegenerativen Verlaufes und damit eine Stabilisierung des Krankheitszustandes. Die Therapie solle möglichst schnell begonnen werden.

Die Antragsgegnerin beauftragte den Medizinischen Dienst (MD) mit der sozialmedizinischen Überprüfung. Unter dem 3. Januar 2023 führte dieser aus, dass bei dem progredient ungünstigen Verlauf der infantilen GM2 Gangliosidose eine regelmäßig tödliche Erkrankung anzunehmen sei, bei der keine zugelassene Therapie derzeit existiere. Das beantragte Medikament Zavesca (Miglustat) sei zur Behandlung der durch einen ß-Glucocerebrosidase-Mangel verursachten lysosomalen Speicher-Gaucher-Krankheit und auch der durch einen Spingomyelinase-Mangel verursachten lysosomalen Speicher-Niemann-Pick-Krankheit Typ C zugelassen. Für die Wirksamkeit von Miglustat bei der lysosomalen, durch einen Hexosaminidase A-Mangel verursachten infantilen GM2-Gangliosidose (Morbus Tay-Sachs) könnten aber trotz umfangreicher und sorgfältiger Literaturrecherchen Daten, die auch auf eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung hinwiesen, nicht gefunden werden. Hierdurch könne eine Empfehlung für eine Off-Label-Therapie mit Miglustat im vorliegenden Fall nicht gegeben werden. Die Möglichkeit einer experimentellen Behandlung des Versicherten im Rahmen von klinischen Studien sowie einer Behandlung (zB Gentherapie) im Rahmen eines „compassionate use" sollten überprüft werden.

Mit Bescheid vom 10. Januar 2023 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag ab. Da Miglustat für die beantragte Anwendung nicht zugelassen sei, komme es auf die Voraussetzungen eines möglichen Off-Label-Use nach Maßgabe der Grundsätze des Bundessozialgerichts (BSG) an. Dafür müssten Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten ließen, dass das beantragte Arzneimittel für die beantragte Anwendung (Indikation) zugelassen werden könnte. Solche Forschungsergebnisse lägen nicht vor. Darüber hinaus sei auch ein Anspruch nach § 2 Abs 1a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) nicht gegeben, da auch die dortigen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

Der Antragsteller erhob Widerspruch, zu dessen Begründung er insbesondere die Stellungnahme des Dr I. vom 27. Januar 2023 überreichte. Darin führte Dr I. aus, dass die Grundlagenforschung bei Mäusen mit GM2 Gangliosidose gezeigt habe, dass eine Behandlung mit Miglustat die GM2-Akkumulation senke und damit einhergehend die Mäuse deutlich länger lebten und später neurologische Symptome entwickelten. Die Arbeit dieser Grundlagenforschung sei ein deutliches Indiz, dass Miglustat im Falle des Antragstellers einen positiven Effekt zeigen könnte.

Die Antragsgegnerin beauftragte erneut den MD mit der Begutachtung. Unter dem 13. März 2023 führte dieser aus, dass nach umfassender Auswertung der Unterlagen und Literaturrecherchen festgestellt werden müsse, dass es sich bei allen angegebenen Publikationen um eine thematisch Auseinandersetzung mit verschiedenen lysosomalen Speichererkrankungen handele (zB GM1 Typ 2 Gangliosidose (5)) und ältere Publikationen, die Miglustat im Kontext der Niemann- Pick Erkrankung oder des M.Gaucher betrachteten, so dass eine Übertragbarkeit auf die hier vorliegende Tay-Sachs-Erkrankung in Frage gestellt werden müsse. Hinsichtlich eines möglichen Off-Label-Use bestünden über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels keine zuverlässigen, wissenschaftlich nachprüfbaren Aussagen. Es könne aus den recherchierten Veröffentlichungen keine Aussage über einen klinisch relevanten positiven Effekt im Hinblick auf die Beeinflussung des Krankheitsverlaufs der Tay-Sachs-Erkrankung abgeleitet werden. Hinsichtlich eines möglichen Leistungsanspruches aus § 2 Abs 1a SGB V handele es sich zweifellos um eine schwerwiegende, regelmäßig tödliche Erkrankung, so dass der Handlungsbedarf nachvollziehbar sei. Gleichwohl könne eine notstandsähnliche Situation mit unmittelbarer Lebensbedrohlichkeit nicht nachvollzogen werden, da in dem Bericht des Kinderhospitals J. aus Oktober 2022 „langsame motorische Fortschritte“ und „keine Entwicklungsrückschritte“ mitgeteilt würden. Eine zugelassene indikationsspezifische Therapie stehe bei dem Krankheitsbild nicht zur Verfügung. Der Antragsteller erhalte jedoch bereits eine Off-Label-Therapie mit N-Acetyl-L-leucin (Tanganil®). Ein Profitieren von der Tanganil-Medikation werde postuliert. In diesem Zusammenhang sei auf eine laufende Phase II-Studie hinzuweisen. In deren Rahmen würden Kinder von 6 bis 12 Jahren in verschiedenen Dosen mit N-Acetyl-L-leucin bei zugrundeliegender GM2 Gangliosidose behandelt. Abschließende Ergebnisse lägen bisher noch nicht vor. Jedoch gebe es erste positive Ergebnisse mit statistisch signifikanter und klinisch bedeutsamer Verbesserung der Symptome und der Lebensqualität. Eine im Jahre 2009 veröffentlichte Studie zeige bei der late onset Tay-Sachs Erkrankung keinen Benefit einer Miglustat Behandlung gegenüber Patienten, die nicht mit Miglustat behandelt worden seien. Insgesamt fänden sich keine validen Daten höherer Evidenz, die einen positiven klinisch relevanten Effekt von Miglustat auf den Erkrankungsverlauf der infantilen Tay-Sachs-Erkrankung nahelegen könnten. Es handele sich um einen experimentellen Ansatz. Anzumerken sei, dass in der zuletzt durchgeführten pädiatrischen Untersuchung bereits unter der bestehenden Off-Label-Therapie mit N-Acetyl-L-leucin eine Besserung eingetreten sei.

Der Antragsteller übermittelte sodann eine weitere Stellungnahme des Dr I. vom 27. März 2023, wonach das MD-Gutachten kaum die Schwere und Progression der Erkrankung widerspiegele. In wenigen Monaten würde der eingeschränkte GM2 Stoffwechsel dazu führen, dass das Gehirn zerstört werde. Es seien bereits 3 Monate als möglicher Behandlungszeitraum verloren und das therapeutische Fenster werde sich zeitnah schließen.

Die Antragsgegnerin legte auch diese Stellungnahme dem MD zur Überprüfung vor. Unter dem 5. Mai 2023 führte der MD aus, dass die Datenlage bisheriger Untersuchungen hinsichtlich positiver Effekte weiterhin ernüchternd sei, so dass trotz positiver Effekte in tierexperimentellen Untersuchungen weiterhin keine Daten vorlägen, die einen klinisch relevanten positiven Effekt bei der Tay-Sachs Erkrankung belegen könnten. Daten über eine Kombination von Tanganil und Miglustat seien nicht auffindbar, so dass ein denkbarer synergetischer Effekt beider Medikamente, so wie es Dr Mengel postuliere, spekulativ bleibe.

Die Antragsgegnerin hat zwischenzeitlich am 21. Juni 2023 einen Widerspruchsbescheid erlassen. Der Antragsteller hat eine zuvor erhobene Untätigkeitsklage auf eine Klage in der Sache selbst umgestellt.

Bereits am 25. April 2023 hat der Antragsteller vor dem Sozialgericht (SG) Osnabrück um die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nachgesucht. Zur Begründetheit hat er sein Leistungsbegehren auf die Regelung in § 2 Abs 1a SGB V gestützt sowie auf eine grundrechtsorientierte Auslegung entsprechend des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6. Dezember 2005. Die dafür erforderlichen Voraussetzungen lägen beim ihm vor: Es bestehe eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung, eine andere Therapie sei nicht verfügbar und es bestehe eine auf Indizien gestützte, nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Ursache des Morbus Tay-Sachs sei eine Akkumulation des Gangliosids G2 im zentralen Nervensystem. An dieser Akkumulation von GM2 setze Miglustat (Zavesca) an. Das Arzneimittel hemme das Schlüsselenzym der Gangliosid-Synthese. Folge daraus sei, dass die Ganglioside GM1 und GM2 kaum noch gebildet würden. Diese Wirkung habe die Grundlagenforscherin Francis Platt und ihre Arbeitsgruppe bei Mäusen aufzeigen können. Wegen der Seltenheit der Erkrankung - sie habe eine Prävalenz unter lebend Geborenen von eins zu 320.000 - existierten keine umfangreichen klinischen Studien zur Wirkung von Miglustat (Zavesca) bei Morbus Tay-Sachs. Schließlich bestehe auch eine Eilbedürftigkeit. Die Erkrankung führe in absehbarer Zeit zum Tod. Zuvor erfolge ein Verlust sämtlicher wesentlicher Fähigkeiten; diese Entwicklung sei unumkehrbar. Die Behandlung mit Miglustat (Zavesca) biete die Möglichkeit, diese Entwicklung zu stoppen, jedenfalls aber den Krankheitsfortschritt deutlich zu verlangsamen. Da der Fähigkeitsverlust unumkehrbar sei, müsse mit der Behandlung frühzeitig begonnen werden. Wegen des raschen Fortschreitens der Erkrankung stehe auch nur ein enges Therapiefenster zur Verfügung. Dem Antragsteller sei es daher nicht zuzumuten, den Ausgang des Widerspruchsverfahrens und eines sich daran voraussichtlich anschließenden Hauptsacheverfahrens abzuwarten.

Die Antragsgegnerin hat sich innerhalb der vom SG gesetzten dreitägigen Frist nicht geäußert.

Mit Beschluss von 28. April 2023 hat das SG die Antragsgegnerin vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch verpflichtet, den Antragsteller mit sofortiger Wirkung mit dem Arzneimittel Zavesca zu versorgen und den Antragsteller von den dafür entstehenden Kosten freizustellen. Das SG erachte die Voraussetzungen des § 2 Abs 1a SGB V für gegeben. Der Antragsteller leide an einer regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung, für die keine andere Therapie zur Verfügung stehe. Es genüge, dass mit dem Arzneimittel Zavesca die Möglichkeit bestehen könnte, den Krankheitsverlauf zumindest zu verlangsamen. Zwar gäbe es offenbar keine Erfahrungen bezüglich einer Behandlung mit Miglustat bei Patienten unter 18, jedoch habe der Antragsteller „nichts zu verlieren“ und vor allem keine Zeit. Das SG hat auch einen Anordnungsgrund bejaht, da es dem Antragsteller angesichts der Höhe der Kosten von 85 Euro pro Tablette nicht zumutbar sei, diese zunächst selbst zu tragen.

Das SG hat wiederholt versucht, den Beschluss gegenüber der Antragsgegnerin zuzustellen. Diese hat kein Empfangsbekenntnis abgegeben. Schließlich hat das SG den Beschluss am 9. Juni 2023 mit Postzustellungsurkunde zugestellt.

Am 12. Juni 2023 hat die Antragsgegnerin Beschwerde bei dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingelegt. Sie habe den Beschluss erst am 9. Juni 2023 erhalten. Der Beschluss sei rechtswidrig und damit aufzuheben. Ein Anordnungsanspruch liege nicht vor. Es bestehe kein Anspruch auf eine Versorgung mit Zavesca. Nach den Gutachten des MD vom 13. Januar 2023, 13. März 2023 und 5. Mai 2023 sei keine ansatzweise irgendwie geartete Wirksamkeit erkennbar. Es werde nicht verkannt, dass eine lebensbedrohliche Erkrankung vorliege. Dies habe auch der MD in seinen Gutachten festgehalten. Eine Behandlungsbedürftigkeit sei aber nicht gleichzusetzen mit einem Anspruch auf jedwede Behandlung. Eine notstandsähnliche Situation mit unmittelbarer Lebensbedrohlichkeit liege nicht vor. Insbesondere würden langsame motorische Fortschritte und keine Entwicklungsrückschritte mitgeteilt. Dies habe das SG bei der Entscheidung nicht beachtet, da ihm die Gutachten des MD nicht vorgelegen hätten. Darüber hinaus seien keine Anhaltspunkte ersichtlich, die eine spürbar positive Einwirkung belegen könnten. Nicht ausreichend seien rein theoretische Überlegungen zu einer Anwendbarkeit der begehrten Therapie. Die beantragte Therapie käme einem Experiment gleich. Es sei deswegen auch nicht ableitbar, dass die Behandlung dem Antragsteller mehr nütze als schade. Das SG könne sich nicht auf den Aspekt fokussieren, dass der Antragsteller nichts zu verlieren habe. Genauso gut könne eine Verkürzung der Lebenserwartung durch die angestrebte experimentelle Behandlung erfolgen. Das Prüfungskriterium solle gerade auch dem Patientenschutz dienen. Außerdem werde außer Acht gelassen, dass der Antragsteller bereits mit einer Off-Label-Therapie versorgt sei. Vielmehr sei der Eindruck entstanden, dass zurzeit gar keine Therapie durchgeführt werde. Die Behandlung mit Tanganil entfalte auch Wirkung, da der Antragsteller keine Entwicklungsrückschritte gemacht habe und sogar langsame motorische Fortschritte zeige. Diesbezüglich lägen auch medizinische Studien vor. Die Ausführungen von Dr I. seien insgesamt spekulativ und trotz positiver Effekte in tierexperimentellen Untersuchung gäbe es weiterhin keine Daten, die einen klinisch positiven Effekt bei der Tay-Sachs Erkrankung eindeutig belegen könnten. Es liege auch kein Anordnungsgrund vor, da die Vermögenslage des Antragstellers nicht glaubhaft gemacht worden sei.

Die Antragsgegnerin beantragt,

       den Beschluss des Sozialgerichts Osnabrück vom 28. April 2023 aufzuheben und

       den Antrag abzulehnen.

Der Antragsteller beantragt,

       die Beschwerde als unzulässig, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.

Es sei bereits zweifelhaft, dass die Antragsgegnerin die Beschwerdefrist gewahrt habe, da sie das elektronische Empfangsbekenntnis trotz der Zustellversuche des SG nicht abgegeben habe. Ihr Verhalten wecke erhebliche Zweifel an der Behauptung, dass sie den Beschluss erstmals am 9. Juni 2023 erhalten habe. Eine Zustellungsvereitelung des Beschlusses sei naheliegend, so dass sie sich nach Treu und Glauben nicht darauf berufen könnte, den Beschluss erstmals am 9. Juni 2023 erhalten zu haben.

Hilfsweise erachtet er die Beschwerde für unbegründet. Diesbezüglich schließt er sich den Gründen der angefochtenen Entscheidung an und führt aus, dass es ihm durch die Therapie mit Miglustat inzwischen deutlich bessergehe. Ein Abbruch der Behandlung würde zu einer Zustandsverschlechterung führen. Es liege auch ein Anordnungsgrund vor, da sein Vater als Alleinverdiener über ein Nettoeinkommen von 3.070,19 Euro verfüge und er damit die Kosten nicht vorfinanzieren könne.

Der Antragsteller hat verschiedene medizinische Unterlagen vorgelegt, ua den Bericht der Physiotherapeutin K. vom 20. Juni 2023, den Bericht des Kinderhospitals J. vom 21. Juni 2023 und die Stellungnahme von Dr I. vom 19. Juni 2023.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte und den Inhalt der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen, die der Entscheidung zugrunde gelegen haben.

II.

Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist im Ergebnis zulässig. Die Beschwerdefrist ist gewahrt, da eine Zustellung des Beschlusses vom 28. April 2023 erst am 09. Juni 2023 durch Postzustellungsurkunde sicher nachweisbar ist. Trotz verbleibender Zweifel lässt sich für das Gericht nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen, dass seitens der Antragsgegnerin ein Fall der Zustellungsvereitelung vorliegt.

Die Beschwerde ist auch begründet. Der Antragsteller hat weder einen Anordnungsgrund noch einen Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht.

Nach § 86b Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig ist. Das ist immer dann der Fall, wenn ohne den vorläufigen Rechtsschutz schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache im Fall des Obsiegens nicht mehr in der Lage wäre (vgl BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 1977 - 2 BvR 42/76, BVerfGE 46, 166, 179, 184). Steht dem Antragsteller ein von ihm geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu und ist ihm nicht zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten, ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes begründet. Eine aus Gründen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gebotene Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Verfahren ist jedoch nur dann zulässig, wenn dem Antragsteller ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung unzumutbare Nachteile drohen und für die Hauptsache hohe Erfolgsaussichten prognostiziert werden können (Keller, Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl, 2020, § 86 b Rn 29 mwN). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden ein bewegliches System, so dass selbst bei einer offensichtlich begründeten Klage ein Anordnungsgrund gegeben sein muss, da § 86b SGG nicht dazu dient, Ansprüche „auf der Überholspur“ durchzusetzen (st Rechtsprechung des erkennenden Senats, vgl. Beschluss vom 12. Februar 2021 - L 16 KR 24/21 B ER; Keller, aaO, 86b Rn 2). Sowohl der Anordnungsanspruch als auch der Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs 2 Zivilprozessordnung (ZPO) iVm § 86b Abs 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen.

Dies zugrunde gelegt, muss dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung der Erfolg versagt bleiben. Denn der Antragsteller hat weder einen Anordnungsgrund noch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Der Antragsteller hat bereits keinen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht. Er hat lediglich unter Glaubhaftmachung des Nettoeinkommens seines Vaters von 3.070,19 Euro die Auffassung vertreten, dass eine Vorfinanzierung „offenkundig nicht möglich“ sei. Dies liegt jedoch keineswegs offensichtlich auf der Hand, da trotz des entsprechenden Vortrages der Antragsgegnerin keinerlei Angaben zum Vermögen gemacht wurden. Eine Glaubhaftmachung wäre jedoch erforderlich gewesen, da bei rechnerischen monatlichen Therapiekosten von rund 5.090,00 Euro die Möglichkeit zur Vorfinanzierung aus ggf vorhandenem Vermögen jedenfalls für einen kurz- bis mittelfristigen Zeitraum nicht ausgeschlossen erscheint.

Jedenfalls ist ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsteller hat nach den geltenden gesetzlichen Vorschriften und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG keinen Anspruch auf Versorgung mit Miglustat (Zavesca®) zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

Fertigarzneimittel ohne arzneimittelrechtliche Zulassung für die vorliegende Indikation sind grundsätzlich nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 iVm § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V umfasst (vgl BSG, Urteil vom 19. März 2002 – B 1 KR 37/90; BSG, Urteil vom 24. Januar 2023 – B 1 KR 7/22 Rn 9 mwN). Die Voraussetzungen einer Gewährung des streitbefangenen Arzneimittels im Rahmen des Off-Label-Use, eines Seltenheitsfalles oder gemäß § 2 Abs 1a SGB V liegen nicht vor.

Zavesca ist für die orale Behandlung der leichten bis mittelschweren Form der Gaucher-Krankheit des Typ 1 bei erwachsenen Personen, bei progressiver neurologischer Manifestation bei erwachsenen und pädiatrischen Patienten mit Niemann-Pick-Krankheit Typ C in Deutschland zugelassen, jedoch nicht für das vorliegende Erkrankungsbild des Antragstellers. Die engen Voraussetzungen für eine über die Zulassung hinausgehende Leistungspflicht (vgl BSG, Urteil vom 19. März 2002 – B 1 KR 37/00 R) der Antragsgegnerin liegen nicht vor. Nach der Rechtsprechung des BSG müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

1. Es handelt sich um eine schwerwiegende (lebensbedrohliche oder die Lebensqualität

auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende) Erkrankung, bei der

2. keine andere Therapie verfügbar ist und

3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden

Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) zu erzielen ist.

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Es fehlt an einer aufgrund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht. Unter dem Gesichtspunkt der fundierten Datenlage müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn

a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder

b) wenn außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (st Rechtsprechung, BSG, Urteil vom 24. Januar 2023 – B 1 KR 7/22 Rn 15 mwN; BSG,  Urteil vom 11. September 2018 – B 1 KR 36/17 R Rn 14 mwN; BSG, Urteil vom 13. Dezember 2016 - B 1 KR 1/16 R, Rn 15; BSG, Urteil vom 3. Juli 2012 - B 1 KR 25/11 R; Urteil vom 19. März 2002 - B 1 KR 37/00 R; Urteil vom  26. September 2006 - B 1 KR 1/06 R und B 1 KR 14/06 R; Urteil vom  28. Februar 2008 - B 1 KR 15/07 R; Nolte, Kasseler Kommentar, 121. EL, Stand: Dezember 2022, § 31 Rn 20).  Maßstab sind dabei jeweils die qualitativen Anforderungen an Phase-III-Studien (insoweit klarstellend: BSG, Urteil vom 8. November 2011 - B 1 KR 19/10 R Rn 17 f; BSG, Urteil vom 11. September 2018 – B 1 KR 36/17 R Rn 14), ein geringerer Grad an Evidenz reicht nicht (Nolte, aaO). Leitlinien und Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften genügen für sich allein grundsätzlich nicht (BSG, aaO). Solche Studien sind hier nach den ausführlichen Stellungnahmen des MD jedoch nicht ersichtlich.

Dass ein Seltenheitsfall vorliegt, ist nicht glaubhaft gemacht. Hierzu darf das festgestellte Krankheitsbild (hier Morbus Tay-Sachs) aufgrund seiner Singularität medizinisch nicht erforschbar sein (BSG, Urteil vom 20. März 2018 – B 1 KR 4/27 R Rn 17 mwN). Allein geringe Patientenzahlen stehen dem nicht entgegen (BSG, aaO). Nach den Ausführungen des MD ist das Krankheitsbild medizinisch erforschbar, was auch durch die genannten Studien und Grundlagenforschung, auf die sich Dr I. bezieht, geschieht.

Auch die Leistungsvoraussetzungen einer grundrechtsorientierten Auslegung nach § 2 Abs 1a SGB V sind vorliegend nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Nach dieser Norm erfordert ein Leistungsanspruch die folgenden Voraussetzungen:

1. Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung oder

zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung vor.

2. Bezüglich dieser Krankheit steht eine allgemein anerkannte, dem medizinischen

Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung.

3. Es besteht eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.

Ob die erste Voraussetzung im Falle des Antragstellers hinreichend glaubhaft gemacht wurde, lässt der Senat offen. Zwar ist nicht zu verkennen, dass die Tay-Sachs-Erkrankung als neurodegenerative Erkrankung grundsätzlich einen tödlichen Verlauf nimmt. Jedoch ist nicht ersichtlich, dass ganz akut eine notstandsähnliche Lage im Falle des Antragstellers vorliegt. Eine notstandsähnliche Lage ist dann gegeben, wenn die Gefahr besteht, dass eine Krankheit, die mit vom Leistungskatalog der GKV umfassten Mittel nicht behandelt werden kann, in überschaubarer Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben beenden kann (BVerfG, Beschluss vom 11. April 2017 – 1 BvR 452/17 Rn 25). Nach der Rechtsprechung des BSG ist Anknüpfungspunkt des Anspruchs das Vorliegen einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage (BSG, Urteil vom 16. August 2021 – B 1 KR 29/20 R Rn 14; BSG, Urteil vom 24. Januar 2023 – B 1 KR 7/22 Rn 28 mwN; Rn 35).

Die Erkrankung erscheint nach den Ausführungen des MD im Zeitpunkt der Behandlung nicht als unmittelbar lebensbedrohlich und die Gefahr des Todes steht nicht innerhalb eines kürzeren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit bevor. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass ein experimenteller Behandlungsversuch mit Miglustat nach der Empfehlung von Dr I. grundsätzlich innerhalb eines früheren Zeitfensters beginnen soll. Diese Herangehensweise mag unter medizinischen Gesichtspunkten zweifelsohne sinnvoll sein, gleichwohl steht sie der Annahme einer unmittelbaren Gefahr des Todes entgegen. Darüber hinaus ist auch keine akute Zustandsverschlechterung bei dem Antragsteller ersichtlich, denn glücklicherweise werden in dem Bericht des Kinderhospitals Osnabrück aus Oktober 2022 keine Entwicklungsrückschritte bzw sogar langsame motorische Fortschritte mitgeteilt. Der MD hatte insoweit in seiner Stellungnahme vom 13. März 2023 darauf hingewiesen, dass in der zuletzt durchgeführten pädiatrischen Untersuchung bereits unter der bestehenden Off-Label-Therapie mit N-Acetyl-L-leucin eine Besserung eingetreten sei, die Behandlung mit Miglustat ist ausweislich des Berichtes des Kinderhospitals Osnabrück erst am 7. Mai 2023 eingeleitet worden.

Auch das Vorliegen der zweiten Voraussetzung lässt der Senat offen. Zwar ist es zutreffend, dass für die vorliegende Erkrankung des Antragstellers keine Standardtherapie zur Verfügung steht, jedoch wird immerhin eine Off-Label-Behandlung mit Tanganil zum Einsatz gebracht. Jedenfalls zu diesem Behandlungsansatz gibt es eine offene Phase-II-Studie, in der Kinder von 6 bis 12 Jahren in verschiedenen Dosen mit N-Acetyl-L-leucin bei zugrundeliegender GM2 Gangliosidose behandelt werden. An der Studie nehmen die Universität Gießen und die Ludwig-Maximilian-Universität München teil. Obwohl hierzu noch keine abschließenden Ergebnisse vorliegen, wird nach den Ausführungen des MD jedenfalls von positiven Ergebnissen mit statistisch signifikanter und klinisch bedeutsamer Verbesserung der Symptome und Funktionsfähigkeit der Lebensqualität berichtet.

In jedem Falle fehlt es aber an der dritten Voraussetzung. Denn es besteht bei der begehrten Therapie allenfalls eine ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf, die über erste Eindrücke im Mausversuch nicht hinausgeht.

Das BSG hat bereits speziell mit Blick auf das Arzneimittelrecht hervorgehoben, dass das allgemein geltende, dem Gesundheitsschutz dienende innerstaatliche arzneimittelrechtliche Zulassungserfordernis auch durch eine vermeintlich großzügige, im Interesse des einzelnen Versicherten erfolgende richterrechtliche Zuerkennung von Ansprüchen auf Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel nicht faktisch systematisch unterlaufen und umgangen werden darf. Ein solches Vorgehen wäre sowohl mit einem inakzeptablen unkalkulierbaren Risiko etwaiger Gesundheitsschäden für den betroffenen Versicherten behaftet als auch mit einer nicht gerechtfertigten Ausweitung der Leistungspflicht zu Lasten der übrigen Versicherten (BSG, Urteil vom 11. September 2018 – B 1 KR 36/17 R Rn 17, 22). Solche Auswirkungen dürften einer Versichertengemeinschaft nicht aufgebürdet werden, die die Behandlung –typischerweise unter Anwendung des Instruments der Versicherungspflicht, also zwangsweise – finanziere (BSG, aaO, Rn 17 mwN). Eine Ausweitung der Ansprüche der Versicherten der GKV auf Arzneimittel, die arzneimittelrechtlichen Zulassungsstandards nicht genügen, muss auf eng umgrenzte Sachverhalte mit notstandsähnlichem Charakter begrenzt bleiben (BSG, aaO). Bei der Auslegung des § 2 Abs 1a SGB V durch das BSG handele es sich nicht um eine Abweichung von den Vorgaben des BVerfG, sondern um deren Konkretisierung (BSG, aaO, Rn 23; BSG, Beschluss vom 28. September 2021 – B 1 KR 7/21 B Rn 10).

Speziell bei der Arzneimittelversorgung müssen die vorhandenen Erkenntnisse abstrakt die Annahme rechtfertigen, dass mit der geplanten Arzneimitteltherapie der angestrebte Erfolg erreicht werden kann in dem Sinne, dass die Anwendung des Arzneimittels eher zu einem therapeutischen Erfolg führt als die Nichtanwendung. Auch wenn die Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsmaßstab mit der Schwere und dem Fortschreiten der Erkrankung sinken, muss eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf eine spürbar positive Beeinflussung des Krankheitsverlaufs vorliegen (BSG, Urteil vom 4. April 2006 – B 1 KR 7/05 R Rn  39, 42ff –Tomudex-).  Das Tatbestandsmerkmal erfordert eine Wirksamkeitsprüfung am Maßstab der vernünftigen ärztlichen Praxis. Als „Beweismittel“ akzeptiert das BSG „Assoziationsbeobachtungen, pathophysiologische Überlegungen, deskriptive Darstellungen, Einzelfallberichte und ähnliche, nicht durch Studien belegte Meinungen anerkannter Experten sowie Berichte von Expertenkomitees“ (BSG, Urteil vom 2. September 2014 - B 1 KR 4/13 R). Die Anforderungen an ernsthafte Hinweise für die nicht ganz fernliegende Aussicht dürfen zwar nicht überspannt werden. Sie sind im Lichte des Nikolausbeschlusses des BVerfG umso geringer, je schwerwiegender die Erkrankung und hoffnungsloser die Situation des Betroffenen im konkreten Fall ist (BR-Drucksache 456/11, Seite 74). Nicht ausreichend ist allerdings nur das subjektive Empfinden des Versicherten, gestützt auf eine entsprechende Empfehlung oder Einschätzung des behandelnden Arztes (BSG, Urteil vom 7. November 2006 - B 1 KR 24/06 Rn 32).  Ausgeschlossen sind auch rein experimentelle Behandlungsmethoden (BSG, Urteil vom 7. Mai 2013 – B 1 KR 26/12 R Rn 21).

In seiner jüngsten Entscheidung vom 29. Juni 2023 hat das BSG seine Rechtsprechung zu § 2 Abs 1a SGB V bestätigt. Es hat auch im Bereich der regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankungen den Vorrang der Arzneimittelsicherheit bestätigt und diesem einen noch stärkeren Stellenwert zugemessen (BSG, Urteil vom 29. Juni 2023, B 1 KR 23/21 R, Terminbericht Nr 26/23 vom 30. Juni 2023). Es hat betont, dass auch durch § 2 Abs 1a SGB V ausdrücklich keine über die bisher vom BSG entwickelten Grundsätze (BSG, Urteil vom 4. April 2006- B 1 KR 7/05 R –Tomodex-) hinausgehenden Leistungen eingeführt werden sollten. Das Arzneimittelrecht trage dem sich aus Art 2 Abs 2 Satz 1 GG ergebenden staatlichen Schutzauftrag Rechnung, in dem es Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Arzneimittel gewährleiste. Das Unterlaufen arzneimittelrechtlicher Vorschriften - gerade auch bei schwerwiegenden Erkrankungen-  könne zu Gefahren von Leib und körperlicher Unversehrtheit führen. Dagegen böten die Institutionalisierung des Zulassungsverfahrens und die hohe fachliche Expertise der Arzneimittelbehörden eine besonders hohe Gewähr für die Wirtschaftlichkeit und die Unabhängigkeit der Prüfung. Ebenso wie die Gesetzliche Krankenversicherung bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sehe auch das Arzneimittelrecht ein eigenes strukturiertes Qualitätssicherungssystem vor. Es erlaube auch erleichterte Zulassungen und in Härtefällen auch Ausnahmeentscheidungen (BSG, aaO).

Daraus wird deutlich, dass auch bei sehr schweren Erkrankungen Behandlungsversuche, die eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf eine spürbar positive Beeinflussung des Krankheitsverlaufs begründen, ein Mindestmaß an wissenschaftlicher Datengrundlage benötigen, die – angewandt auf den hiesigen Fall - über den Tierversuch hinausgehen. Dr I. hat in seiner Stellungnahme vom 27. Januar 2023 insoweit ausgeführt, dass die Grundlagenforscherin Platt und ihre Arbeitsgruppe bei Mäusen mit GM2-Gangliosidose aufzeigen konnte, dass eine Behandlung mit Miglustat die GM2-Akkumulation senke und damit einhergehend die Mäuse deutlich länger lebten sowie später neurologische Symptome entwickelten. Diese Arbeit aus der Grundlagenforschung sei ein deutliches Indiz, dass Miglustat bei dem Antragsteller einen positiven Effekt zeigen könnte. Der MD hat dazu für den Senat nachvollziehbar mit Gutachten vom 13. März 2023 ausgeführt, dass überhaupt keine Studien vorliegen, die einen positiven klinisch relevanten Effekt von Miglustat auf den Erkrankungsverlauf der infantilen Tay-Sach-Erkrankung nahelegen können. Daten, die bezüglich des Einsatzes von Miglustat bei der infantilen Tay-Sachs-Erkrankung eindeutige Indizien für eine Verbesserung der klinischen Situation zeigten, ließen sich nicht finden, schon gar nicht handele es sich um Daten, die aufgrund zeitlicher Begrenzung der Untersuchung Hinweise für längerfristige Aussagen zuließen. Der MD hat in seinen Gutachten mehrfach darauf hingewiesen, dass trotz positiver Effekte in tierexperimentellen Untersuchungen hier weder Studiendaten noch sonstige Hinweise vorliegen, die eine spürbar positive Einwirkung bei der Tay-Sachs-Erkrankung belegen könnten. Er hat vielmehr in seiner Stellungnahme vom 5. Mai 2023 ausgeführt, dass die Datenlage bisheriger Untersuchungen hinsichtlich positiver Effekte weiterhin ernüchternd sei. Rein theoretische Überlegungen zu einer Anwendbarkeit der beantragten Therapie (vgl BSG Urteil vom 7. Mai 2013 - B 1 KR 26/12 R Rn 21 zu experimentellen Behandlungsmethoden) reichen eben so wenig aus die Einschätzung des behandelnden Arztes (vgl BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 1 KR 24/06 R Rn 32) oder die subjektive Einschätzung des Versicherten bzw hier seiner Eltern.  

Der Senat verkennt nicht, dass der Antragsteller die aktuelle gesundheitliche Stabilisierung seines Zustandes auf die begonnene Therapie des für seine Erkrankung nicht zugelassenen Miglustat zurückführt; gleichwohl ersetzt auch dies nicht ein Mindestmaß an wissenschaftlicher Datenlage zu den Erfolgsaussichten des Therapieansatzes. Die bloße Möglichkeit einer Verbesserung bei einer ansonsten dürftigen Datenlage ist nicht ausreichend. Der Senat verkennt auch nicht die Hoffnungen des Antragstellers, die er mit der streitbefangenen Behandlung verbindet. Es erscheint jedoch auch nicht angemessen, den Antragsteller durch allzu großzügige Prüfungsmaßstäbe im Eilverfahren mit einer absehbaren Rückforderung im Hauptsacheverfahren zu belasten. Mithin ist der Beschwerde antragsgemäß zu entsprechen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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