Anschluss: BSG, Urteile vom 18. April 2024 – B 3 KR 14/23 R, B 3 KR 7/23 und B 3 KR 13/22
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Für das erstinstanzliche Verfahren verbleibt es bei der Kostenentscheidung des Sozialgerichts.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Kosten für ein durch den Kläger selbst beschafftes Neodrive 20 Zoll Handbike mit Motorunterstützung zur Anbringung an einem Rollstuhl (sog. Vorspannfahrrad).
Der am 19 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er erlitt im Juni 2016 einen schweren Motorradunfall in Spanien. Folge der Unfallverletzungen bei ihm war u.a. ein komplettes Querschnittsyndrom unterhalb des Thorakalwirbelkörpers 8 (Grad ASIA A, d.h. komplette Lähmung). Bei multiplen Frakturen der Brustwirbelsäule, einer inkompletten Berstungsfraktur des Lendenwirbelkörpers 1, eines Ausrisses der Längsstäbe Höhe Lendenwirbelkörper 2/3 alles im Rahmen eines Polytraumas mit Schädelhirntrauma ersten Grades, distaler Tibiafraktur und Fraktur der dritten Rippe rechts. Bei ihm trat zudem eine Harnblasenlähmung bei Schädigung des oberen motorischen Neurons mit einer Harninkontinenz und einer neurogenen Darmstörung mit Obstipation ein.
Er wurde durch die Beklagte mit einem Aktivrollstuhl sowie einem Arm- und Beintrainer versorgt. Daneben erfolgte eine Hilfsmittelversorgung für den häuslichen Bereich.
Während eines Rehabilitationsaufenthaltes in den Kliniken Beelitz verordnete der dortige Chefarzt Dr. Nam 1. Februar 2017 zum Ausgleich der bestehenden körperlichen Behinderung und zur Sicherung des Effektes der Rehabilitationsmaßnahme auch für die weitere Versorgung ein motorunterstütztes Rollstuhlzuggerät zur Sicherstellung der eigenen Mobilität.
Diese Verordnung wurde der Beklagten gemeinsam mit einem Kostenvoranschlag durch die Firma s (im Folgenden auch Sanitätshaus) vom 24. April 2017 übermittelt. Die Versorgung umfasste das Rollstuhlbike Neodrive 20 Zoll 24 Gänge, Gewichte inkl. Halter komplett je 5,25 Kilogramm, eine Off-Road-Bereifung, einen Gepäckträger sowie eine Pauschale für Montage, Anpassung und Einstellung am vorhandenen Rollstuhl. Insgesamt belief sich der Kostenvoranschlag auf 6.341,74 Euro.
Am 18. Mai 2017 erkundigte sich der Kläger nach dem Sachstand. Am 12. August 2017 übersandte die Beklagte dem MDK eine Anfrage per Fax, an die sie am 24. und 28. August 2017 erinnerte. Der MDK erstellte am 12. September 2017 (Gutachterin Dr. V) ein sozialmedizinisches Gutachten, wonach es sich bei dem begehrten Hilfsmittel um ein sogenanntes Handbike bzw. Vorspannfahrrad handele, welches an einen vorhandenen Rollstuhl angekoppelt werde. Durch die Nutzung eines Handbikes werde der Rollwiderstand des Rollstuhls vermindert, da die kleinen Lenkräder angehoben werden könnten. Somit werde auch das Zurücklegen größerer Entfernungen in höherer Geschwindigkeit möglich. Es gebe rein manuell anzutreibende Handbikes, Modelle mit elektrisch unterstütztem manuellen Antrieb und rein elektrische Modelle. Bei dem beantragten Gerät handele es sich um ein Handbike mit Motorunterstützung, das nach Herstellerangaben Geschwindigkeiten bis zu 25 km/h erreichen könne. Das Produkt sei nicht im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt. Unter Auswertung des ihm vorliegenden Rehabilitationsberichtes des Klinikum Beelitz sowie eines Pflegegutachtens vom 24. März 2017 gelangte die Gutachterin unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu dem Ergebnis, dass nicht erkennbar sei, warum der Kläger sich nicht mehr per vorhandenem Aktiv-/Adaptivrollstuhl abgesehen von der Fortbewegung innerhalb von Gebäuden auch außer Haus im Nahbereich per Greifreifen eigenständig fortbewegen könne. Dass für ihn ein Handbikeantrieb bei der Fortbewegung außerhalb des Nahbereichs einen höheren Bewegungsradius bedeute und seine gesellschaftliche Teilhabe erhöhen könne, sei nicht in Zweifel zu ziehen. Hierfür scheine nicht die Versicherungsgemeinschaft zuständig, vielmehr sei die Antragstellung über alternative Leistungsträger gemäß § 55 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) angezeigt. Bezüglich der im Reha-Bericht erwähnten Schulterbeschwerden durch Überlastung wäre eine Ausweitung der ambulanten Heilmittelangebote zu empfehlen.
Am 4. Oktober 2017 unterzeichnete der Kläger eine Kostenübernahmeerklärung des Sanitätshauses zur Übernahme der Kosten von insgesamt 6.847,26 Euro. Diese Kostenübernahmeerklärung unterschied sich von dem der Beklagten übermittelten Kostenvoranschlag dahingehend, dass ein für das sogenannte G-Netto im Kostenvoranschlag berücksichtigter Rabatt von 7,5 Prozent nunmehr nicht mehr berücksichtigt wurde. Diese Kostenübernahmeerklärung sandte der Kläger nicht an das Sanitätshaus ab.
Gestützt auf die gutachterliche Stellungnahme des MDK lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 5. Oktober 2017 die Bewilligung des begehrten Rollstuhlbikes ab.
Unter dem 9. Oktober 2017 beantragte der Kläger unter Vorlage der von ihm unterzeichneten Kostenübernahmeerklärung gegenüber dem Sanitätshaus und unter Verweis auf § 13 Abs. 3a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) die Erstattung der Kosten.
Unter dem 13. Oktober 2017 legte der Kläger – anwaltlich vertreten – Widerspruch gegen den Bescheid vom 5. Oktober 2017 ein. Er verwies darauf, dass es ohne Bedeutung sei, dass das Hilfsmittel nicht in das Hilfsmittelverzeichnis aufgenommen sei. Er verwies zudem auf die vom Gutachter des MDK festgestellten Schulterschmerzen. Durch das begehrte Hilfsmittel sei er in der Lage, sich schmerzfrei im Nahbereich zu bewegen. Es finde eine Entlastung der Schultern statt.
Der Kläger verpflichtete sich mit Kostenübernahmeerklärung vom 15. Dezember 2017 zur Abnahme des Neodrives gegenüber dem Sanitätshaus. Diese Kostenübernahmeerklärung enthielt wieder den Rabatt in Höhe von 7,5 Prozent und entsprach dem ursprünglichen Kostenvoranschlag. Das Sanitätshaus erstellte unter dem 20. Dezember 2017 eine Rechnung, die der Kläger bezahlte.
Mit Widerspruchsbescheid vom 29. Mai 2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass § 13 Abs. 3a SGB V nicht anwendbar sei. Hilfsmittel, die zur Vorbeugung von Behinderung oder zum Behinderungsausgleich dienten, gehörten zu den Leistungen der medizinischen Rehabilitation. Diese seien von der Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a SGB V ausgeschlossen. Für das Handbike mit Motorunterstützung sei keine Genehmigungsfiktion eingetreten. Ausgehend davon, dass es sich bei dem begehrten Handbike um ein Komplettsystem (Dreirad mit Handkurbelantrieb und alternativ mit Unterstützung durch einen Elektromotor) handele, führte die Beklagte aus, dass eine zusätzliche Versorgung neben dem vorhandenen Rollstuhl mit einem Handbike das Maß des Notwendigen überschreite. Das Rollstuhlbike sei nicht im Hilfsmittelverzeichnis gelistet und damit keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Radfahren mit einem Handbike sei für erwachsene Gehbehinderte kein Grundbedürfnis des täglichen Lebens. Die Kräftigung der Muskulatur der oberen Extremitäten könne zum Beispiel mit einer ambulanten physiotherapeutischen Behandlung erreicht werden.
Mit seiner am 17. Juli 2018 bei dem Sozialgericht Berlin eingegangenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Er hat dem Sozialgericht die Kostenübernahmeerklärung vom 15. Dezember 2017 und die Rechnung des Sanitätshauses vom 20. Dezember 2017 vorgelegt. Bestellt habe er das Hilfsmittel mit der Kostenübernahmeerklärung vom 15. Dezember 2017. Aufgrund von gesundheitlichen Problemen und stationären Aufenthalten sei das Hilfsmittel erst am 18. August 2018 entgegengenommen worden. Er habe einen Anspruch auf das Hilfsmittel aus § 33 Abs. 1 SGB V. Er hat den Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren zu den Auswirkungen der Schulterbeschwerden wiederholt. Zudem könne er keine Steigungen bewältigen. Selbst Rampen, die der DIN 18040 entsprechen, könnten nicht überwunden werden. Auch sei es dem Kläger unmöglich, die Vorderräder des Rollstuhls anzuheben und so über abgeflachte Bordsteinkanten oder sonstige kleinere Hindernisse zu kommen. Insoweit hat er Bezug genommen auf eine Stellungnahme des behandelnden Chefarztes des Unfallkrankenhauses Berlin vom 18. September 2018 zum Gutachten des MDK vom 12. September 2017. Der Kläger hat dem Sozialgericht ferner den vollständigen Reha-Entlassungsbericht vom 15. März 2017 sowie einen Bericht über eine weitere stationäre Rehabilitation im BDH-Klinikum Greifswald vom 17. Mai 2019 vorgelegt.
Die Beklagte hat an ihrer Auffassung festgehalten und darauf verwiesen, dass die Geschwindigkeit eines motorunterstützten Handbikes deutlich über der eines E-Rollstuhls liege (6 km/h). Sie hat eine weitere Stellungnahme des MDK vom 1. März 2019 vorgelegt. Hierin ist dieser zum Ergebnis gelangt, dass der Einsatz eines Handbikes unter Berücksichtigung der weiteren Darstellung des behandelnden Unfallkrankenhauses im vorliegenden Fall durchaus sinnvoll und zweckmäßig sei. Es ergäben sich auch weiterhin keine Hinweise auf die Notwendigkeit eines elektromotorischen Zusatzantriebs. Eine spezielle Off-Road-Bereifung übersteige das Maß des medizinisch Notwendigen, sofern sich die Wohnung nicht beispielsweise in sehr unwegsamer und ländlicher Lage befinde. Ein Gepäckträger falle ganz allgemein als Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens nicht in den Leistungsbereich der GKV. Empfohlen werde die Nutzung eines rein manuell angetriebenen Handbikes. Die Beklagte hat auf gerichtliche Anfrage hin in Auswertung des MDK-Gutachtens einen E-Rollstuhl für kontraindiziert gehalten wegen des hiermit nicht verbundenen Trainings der oberen Extremitäten.
Das Sozialgericht hat Befundberichte des Chefarztes der neurologischen Abteilung der Kliniken Beelitz sowie der zuständigen Chefärztin im behandelnden Unfallkrankenhaus Berlin Dr. R beigezogen. Dr. Nhat an seiner Auffassung nach dem letzten Aufenthalt in der Klinik Beelitz im Jahr 2017 unter Berücksichtigung der im Verfahren eingereichten Stellungnahme des Unfallkrankenhauses vom 18. September 2018 festgehalten. Von dem empfohlenen Einsatz eines Restkraftverstärkers rate er ab, da laut Stellungnahme aus dem UKB kein sicheres Handling mit diesem Zusatzantrieb zu erwarten sei. Die Reduzierung der Belastung des Schultergürtels sehe er ebenfalls aus medizinischen Gründen als notwendig an. Dr. R hat in ihrem Befundbericht ausgeführt, dass sie die Nutzung eines manuell betriebenen Handbikes für eine Fehlversorgung halte. Bei einem ausschließlich manuell angetriebenen Handbike werde schon nach wenigen Minuten eine Ermüdung eintreten. Bei ihr würden grundsätzlich keine manuellen Handbikes mehr verordnet, da sich bei fast allen Patienten gezeigt habe, dass der ergänzende elektrische Zusatzantrieb unverzichtbar sei. Sie wies darauf hin, dass der elektrische Zusatzantrieb technisch nicht nachrüstbar sei, so dass bei einer Verordnung eines rein manuell anzutreibenden Handbikes sie sich eine Fehlversorgung vorwerfen lassen müsste. Auf Nachfrage des Sozialgerichts insbesondere zur Vereinbarkeit ihrer Einschätzung mit den Erkenntnissen der Fallstudie des Forschungsdienst der Gruppe Shoulder Health and Mobility der Schweizer Paraplegiker-Forschung hat Dr. Rzunächst den noch fehlenden Bericht des behandelnden Physiotherapeuten übersandt sowie einen Entlassungsbericht aus einer ambulanten kardiologischen Rehabilitation übermittelt. Sie hat mitgeteilt, dass der Kläger am 31. März 2021 einen Vorderwandinfarkt erlitten hat. Den Widerspruch zu der vom Sozialgericht genannten Studie könne sie nicht erkennen.
Die Beklagte hat ein weiteres sozialmedizinische Gutachten des MD (zuvor MDK) vom 7. Februar 2022 eingeholt und vorgelegt. Auch anhand der neu eingereichten Befunde könne für den Begutachtungszeitpunkt im März 2019 nicht erkannt werden, aus welchen medizinischen Gründen eine elektromotorische Unterstützung zum damaligen Zeitpunkt erforderlich geworden wäre. Er hat ergänzend zu den zum Zeitpunkt der jetzigen Gutachtenerstellung vorliegenden Befunde ausgeführt und nunmehr einen Elektrorollstuhl mit elektrischer Verstellmöglichkeit der Sitzeinheit für notwendig und zweckmäßig angesehen.
Das Sozialgericht hat sodann ein Gutachten des Facharztes für Neurochirurgie Dr. Hvom 12. Oktober 2022 eingeholt, welches dieser aufgrund persönlicher Untersuchung des Klägers am selben Tag erstattet hat. Der Sachverständige hat bei dem Kläger als Folge des Verkehrsunfalls von Mai 2016 im Jahr 2017 folgende Gesundheitsbeeinträchtigungen als bestehend festgestellt:
- Rückenmarksschädigung ab der Höhe des 8. Brustwirbels
- Multiple Frakturen der Brustwirbelsäule (Deckplattenimpressionsfraktur BWK 9 inkompletter Berstungsbruch BWK 11
- Inkompletter Berstungsbruch LWK 1
- Schädel-Hirn-Trauma
- Schienbeinbruch links
- Bruch der 3. Rippe rechtsseitig
Als Folge des erlittenen Unfalls könnten folgende Funktionsstörungen festgestellt werden:
- Komplette Lähmung beider Beine
- Neurogene Blasenfunktionsstörungen
- Neurogene Mastdarmstörungen
- Ausgeprägte Spastiken der Muskulatur des Beckenbodens und der Beine (spastische Paraplegie)
- Lähmung der Bauchmuskulatur ab Th 8
- Lähmung der lumbalen Rückenmuskulatur
- Mehrfach operierte und revidierte Wirbelsäule von dorsal sowie von ventral unter Einsatz von Schrauben und Stabsystemen
- Schwere Skoliose von Brust- und Lendenwirbelsäule
- vermehrte Krümmung der Brustwirbelsäule durch Lähmung und Atrophien der Rückenmuskulatur
- schmerzhafte Bewegungseinschränkung beider Schultergelenke, insbesondere in der Seitwärtsbewegung auf zirka hundert Grad.
Der Sachverständige ist im Rahmen der Beantwortung der Beweisfragen zu dem Ergebnis gelangt, dass die Versorgung des Klägers mit einem elektromotorunterstützten Zuggerät medizinisch notwendig sei, um das mühsam erreichte Behandlungsziel zu sichern und zu stabilisieren. Auch stelle die Nutzung des Handkurbelgerätes eine kontinuierliche Beweglichkeitsübung für die Oberkörpermuskulatur des Klägers dar, die aufgrund der fragilen Ergebnisse vorangegangener multipler Operationen der Wirbelsäule mit hochgradiger Bruchgefahr ebenfalls eine dringende medizinische Notwendigkeit darstelle. Der Kläger benötige die Zughilfe außerdem, um an der üblichen Lebensgestaltung seiner gleichaltrigen Freunde teilnehmen zu können. Dazu sei eine Verbesserung der Mobilität des Klägers erforderlich, um längere Strecken zurücklegen zu können. Der Nahbereich könne ohne das Gerät nicht in zumutbarer Weise erschlossen werden. Zwar könne er sich im nahen Umfeld mit dem Aktivrollstuhl in ausreichender Weise bewegen, aber schon das Erledigen von Einkäufen falle dem Kläger wegen Schulterschmerzen schwer. Daher sei der zuschaltbare Elektromotorantrieb des Zuggeräts für den Kläger sinnvoll. Außerdem sei das Ankannten des Rollstuhls ohne das Zuggerät erheblich erschwert und gefährde im erheblichen Maße die Schultergelenke. Die Unfähigkeit der gelähmten Bauchmuskulatur, durch Spannung Kraft aufzubauen, reduziere das Leistungsvermögen des Schultergürtels und erhöhe die Belastbarkeit der Schultergelenke. Die negative Wechselwirkung von Funktionsbeeinträchtigungen mehrfach operierter Wirbelsäulenabschnitte mit sehr anfälligem Ausgang und der gelähmten Bauchmuskulatur führe ebenfalls zu einer Instabilität im Bereich des Beckens. Beides führe so zu einer vermehrten Beanspruchung des Schultergürtels und deutlich reduzierter Stabilität und Belastbarkeit des Rumpfes. Die Schulterbeschwerden seien unbestritten und spiegelten sich klinisch in reduzierter Mobilität der Schultergelenke beidseits in der Seitwärtsbewegung wieder. Ein bildmorphologisches Korrelat sei nicht zwingend nachzuweisen. Aus den genannten Gründen sei der Einsatz eines elektromotorunterstützten Rollstuhlzuggerätes seinerzeit und immer noch medizinisch notwendig, um einen Behandlungserfolg zu sichern und sei ebenfalls als Teil einer lebenslangen notwendigen therapeutischen Übung der Schultergelenke anzusehen. Das beanspruchte Zuggerät unterstütze die eigene körperliche Betätigung und reduziere offenbar die Frequenz der Behandlungseinheiten, da der Kläger immerhin mit nur 3 physiotherapeutischen Einheiten pro Woche klarkomme.
Im Rahmen der Wiedergabe seiner Untersuchungsergebnisse hat der Sachverständige ausgeführt, dass das Bewegungsausmaß der Schultergelenke in der Seitwärtsbewegung beidseits auf ca. 100 Grad reduziert sei (100-0-30 beidseits). Eine Druckdolenz im Bereich der Schultergelenke sei beidseits provozierbar. Der Muskeltonus der Schulter-Nacken-Muskulatur beidseits sei erhöht. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das schriftliche Gutachten Bezug genommen.
Die Beklagte hat zu dem Gutachten zunächst eine weitere Stellungnahme des MD vom 10. Januar 2023 vorgelegt, in der ausgeführt wurde, dass die Versorgung mit einem elektromotorisch betriebenen Handbike zum Behinderungsausgleich zunächst durchaus nachvollziehbar sei. Im Hinblick auf das vorliegende Behinderungsbild allerdings mit aufgehobener Steh- und Gehfähigkeit, Funktionseinschränkung der oberen Extremitäten, Defiziten der Rumpfstabilität, chronischen Schmerzen und rezidivierenden Decubitalulcera mit erforderlicher Immobilisierung erscheine weiterhin die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl mit elektrischen Verstelloptionen und, sofern keine Kontraindikationen vorlägen, auch integrierter Stehfunktion zweckmäßiger.
Im Termin vor dem Sozialgericht am 25. Mai 2023 haben die Beteiligtenvertreter zu Protokoll erklärt, dass Einigkeit darüber bestehe, dass im Falle einer eventuellen Verurteilung der Beklagten zur Erstattung des Kaufpreises der Kläger verpflichtet sei, Zug um Zug gegen Zahlung das Hilfsmittel an die Beklagte gegen Vereinbarung eines Nutzungsrechts zu übereignen. Der Kläger hat sich verpflichtet, das Hilfsmittel an die Beklagte herauszugeben, wenn es nicht mehr benötigt wird. Insoweit bedürfe es keines entsprechenden Vorbehalts im Urteil.
Mit Urteil vom selben Tag hat das Sozialgericht die Beklagte zur Erstattung von zuletzt noch beantragten Kosten von 6.331,57 Euro nebst Zinsen in Höhe von 4 Prozent aus diesen Betrag seit dem 1. Februar 2018 verurteilt. Der Klageanspruch folge aus § 13 Abs. 3 Satz 1, 2 zweite Alternative SGB V i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 4 zweite Alternative SGB IX in der in 2017 geltenden Fassung. Die Voraussetzungen seien erfüllt. Die Beklagte habe ihre Leistungspflicht zu Unrecht verneint. Der Kläger habe die Leistung erst nach der Ablehnung beschafft. Es sei nicht ersichtlich oder feststellbar, dass er hierbei die Grenzen des Notwendigen nicht gewahrt habe. Das Rollstuhlbike sei im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung zum Behinderungsausgleich i.S. der dritten Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V erforderlich gewesen. Betroffen sei hier das Grundbedürfnis der Mobilität im Nahbereich sowie das Grundbedürfnis des Gehens. Zwar sei zu dessen Erfüllung die Versorgung mit einem Rollstuhlbike grundsätzlich nicht erforderlich, weil dies eher die Funktion eines Fahrrades übernehme und damit mehr als den Nahbereich sichere. Als allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens sei in Bezug auf die Mobilität grundsätzlich nur die Erschließung des Nahbereichs um die Wohnung des Versicherten anerkannt. Maßgebend für den insoweit zu gewährleistenden Basisausgleich sei der Bewegungsradius, den ein Nichtbehinderter üblicherweise noch zu Fuß erreiche. Nach der überzeugenden Rechtsprechung des BSG könne ein Rollstuhlbike jedoch ein geeignetes Hilfsmittel zur Erschließung des sozialen Nahbereichs darstellen, wenn Wegstrecken in diesem Bereich nur unter Schmerzen oder nur unter Inanspruchnahme fremder Hilfe bewältigt werden könnten (Bezugnahme auf Urteil vom 18. Mai 2011 – B 3 KR 7/10 R – Rn. 41 bei juris). Solche besonderen Umstände lägen hier vor, namentlich habe der Kläger unter Schulterschmerzen bei Fortbewegung im Aktivrollstuhl gelitten. Dieser Umstand sei auch vom MD zuletzt nicht mehr in Abrede gestellt worden. Es sei auch nicht ersichtlich oder feststellbar, dass die Versorgung mit dem Rollstuhlbike unwirtschaftlich gewesen wäre. Die Möglichkeit des Erreichens einer Geschwindigkeit von bis zu 25 km/h schließe einen Versorgungsanspruch nur dann aus, wenn eine gleichgeeignete, wirtschaftliche Alternative ersichtlich sei. Dies folge für die Kammer aus der Regelung des § 33 Abs. 1 Satz 6 SGB V. Die Beklagte habe trotz Aufforderung und Fristsetzung keine wirtschaftlichere Alternative vorgeschlagen, die dem Kläger eine ebenso schmerzarme und schultergelenkschonende Bewegung im Nahbereich ermöglicht hätte, wie die von ihm gewählte Versorgung. Ob es im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung tatsächlich ein wirtschaftlicheres Hilfsmittel gegeben habe, das in gleicher Weise für den Ausgleich der eingeschränkten Mobilität des Klägers geeignet gewesen wäre, sei damit von der Beklagten nicht nachgewiesen worden. Die vom MD zuletzt angeregte Versorgung mit einem E-Rollstuhl sei nicht gleich geeignet gewesen. Nicht medizinisch notwendig sei allerdings die vom Kläger gewählte besondere Bereifung des Rollstuhlbikes gewesen. Die hierdurch entstandenen Kosten von 10,17 Euro seien nicht von Erstattungspflicht der Beklagten umfasst. Hingegen vermöge sich die Kammer der Auffassung des MD, beim Gepäckträger handele es sich um ein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, nicht anzuschließen. Der Zinsanspruch folge aus § 44 Abs. 1 SGB I.
Gegen das ihr am 22. Juni 2023 zugestellte Urteil wendet sich die Beklagte mit dem am 11. Juli 2023 bei dem Landessozialgericht eingegangenen Rechtsmittel der Berufung. Sie ist der Auffassung, eine Versorgung mit einem Handbike, welches 25 km/h erreiche, sei auf keinen Fall notwendig. Die Versorgung mit einem von der Geschwindigkeit mit einem Fußgänger vergleichbaren Handbike sei ausreichend gewesen. So lege auch das GKV-Hilfsmittelverzeichnis bei den Anforderungen an Rollstuhlzuggeräte eine maximale Geschwindigkeit von 6 km/h fest. Die Ausgangslage im vom Sozialgericht u.a. zitierten Urteil des BSG vom 10. September 2020 (B 3 KR 15/19 R) sei mit dem vorliegenden Sachverhalt nicht vergleichbar. Im zitierten Urteil habe es sich um einen sehr jungen und mobilen Versicherten gehandelt, dessen Möglichkeit zur freien Fortbewegung an gewählte Orte zu sichern gewesen sei. Bei fahrradähnlichen Ausgleichen sei deren Notwendigkeit vom BSG verneint worden, sofern diese nicht den Bereich der notwendigerweise zurückzulegenden Strecken fielen (Bezugnahme auf Urteil vom 21. November 2002 – B 3 KR 8/02 R). Der Kläger lebe in Berlin, es sei nicht ersichtlich, weswegen hier große Strecken auf einem Fahrrad/fahrradvergleichbaren Handbike zurückgelegt werden müssten. Der MD habe erst am 1. März 2019 die mögliche Notwendigkeit eines Handbikes bejaht, also erst über ein Jahr nach der Vornahme der Selbstbeschaffung. Zur neuen Rechtsprechung des 3. Senats des Bundessozialgerichts mit Urteilen vom 18. April 2024 (u.a. B 3 KR 13/22 R) vertritt die Beklagte die Auffassung, dass das Urteil aktuell von den Kostenträgern nicht umgesetzt und auch nicht angewendet würde. Das Urteil werfe ergänzende Fragen auf, z.B. bei höherer Geschwindigkeit als 6 km/h bräuchte es eine Zulassung, Kennzeichen, Versicherung, so dass sich die Frage stelle, wer diese bezahle. Mehr Geschwindigkeit bedeute mehr Verbrauch. Auch insoweit wirft die Beklagte die Frage der Tragung der Kosten auf. Bei dieser Geschwindigkeit sei auch die Nutzung des Gehweges ausgeschlossen. Es stelle sich die Frage, ob die Versicherten dann einen Führerschein benötigten. Der Kläger habe sich das Handbike 2018 selbst beschafft. Nach Auffassung der Beklagten gelte das Recht von 2018 und nicht das BSG-Urteil von 2024. Im Nahbereich der Wohnung des Klägers gebe es diverse Möglichkeiten, inkl. öffentliche Verkehrsmittel, die mit einem Rollstuhl/Standard-Elektro-Rollstuhl erreicht werden könnten. Die Beklagte bezweifelt, dass nichtmobilitätseingeschränkte Menschen eine „Mehrmobilität“ ohne Unterstützung von öffentlichen Verkehrsmitteln oder einem Fahrrad durchführen.
Nach der Gesamtheit ihres Berufungsvorbringens beantragt die Beklagte sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. Mai 2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt die angefochtene Entscheidung und ist der Auffassung, die Beklagte verkenne den Sachverhalt. Der Gutachter habe erklärt, dass er das Hilfsmittel zum Erschließen des Nahbereichs benötige. Er benötige das Hilfsmittel, um Einkaufen zu können und seine Ärzte zu erreichen und nicht, um mit anderen Personen spazieren zu fahren. Die Beklagte habe kein Hilfsmittel benannt, mit dem er hätte versorgt werden können. Ein elektrisch betriebenes Handbike, welches nur 6 km/h fahre, sei nicht auf dem Markt. Der Gutachter habe erklärt, dass ein anderes geeignetes Hilfsmittel nicht vorhanden sei. Zudem sei festzustellen, dass das Hilfsmittel nicht 25 km/h fahre. Richtig sei, dass der Motor die Kraft unterstütze und diese Unterstützung lediglich bis zu einer Geschwindigkeit von 25 km/h erfolge. Er werde diese Geschwindigkeit aber nie erreichen. Dass sich eine gesetzliche Krankenkasse bewusst über die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hinwegsetze, lasse Bedenken an der Einstellung der Beklagten zum Rechtsstaatsprinzip aufkommen. Dieses insbesondere, da die von der Beklagten zuletzt aufgeworfenen Fragen für dieses Verfahren nicht nachvollziehbar seien. Das Hilfsmittel werde wie ein Pedelec eingestuft. Es benötige demnach keine Zulassung, kein Kennzeichen, keine Versicherung und auch keinen Führerschein. Das Fahrzeug könne, wie ein Pedelec, auf dem Radweg oder der Straße bewegt werden. Bezüglich des geltenden Rechts sei eindeutig das Recht anzuwenden, welches am Tag der letzten mündlichen Verhandlung bestehe. Dieses treffe auch auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu.
Der Senat hat einen das fragliche Hilfsmittel betreffenden Auszug aus dem Katalog der Firma S aus dem Jahr 2016 zur Akte genommen und den Beteiligten übersandt. Der Kläger hat auf gerichtliche Nachfrage erklärt, von keiner der dort genannten optionalen Ausstattungsmöglichkeiten Gebrauch gemacht zu haben. Auf gerichtliche Nachfrage hat der Kläger ergänzend vorgetragen, dass er mehrfach an Decubiti gelitten habe. Laut dem Unfallkrankenhaus Berlin sei bei der Aufnahme des Klägers ein Decubitus festgestellt worden. Dieser sei dort in einer Nebendiagnose aufgeführt und dann auch vermutlich dort behandelt worden.
Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 16. Oktober 2024 (Beklagte) und 4. November 2024 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Mit Schriftsatz vom 25. Januar 2025 hat der Kläger sinngemäß die Klage hinsichtlich des Zinsantrages zurückgenommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Gerichtsakte, die vorgelegen hat und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg
I.
Die Berufung ist statthaft und in zulässiger Weise erhoben worden. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist nach der Rücknahme der Klage hinsichtlich der Zinsen nur noch die Verurteilung der Beklagten zur Erstattung der Kosten für das selbstbeschaffte Neodrive in tenorierter Höhe. Durch die teilweise Rücknahme der Klage ist das Urteil des Sozialgerichts hinsichtlich des zuerkannten Zinsanspruchs kraft Gesetzes wirkungslos geworden (vgl. § 202 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG – i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 Zivilprozessordnung), ohne dass es insoweit einer gerichtlichen Entscheidung bedarf.
Der Senat konnte über die Berufung nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
II.
Die Berufung ist unbegründet.
Das Sozialgericht hat die Beklagte auf die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1, 4 SGG) zu Recht zur Erstattung der Kosten für das von dem Kläger selbstbeschaffte Handbike mit Motorunterstützung mit Ausnahme der Mehrkosten für die Offroad-Bereifung verurteilt. Der Senat macht sich insoweit zunächst die Gründe der nach umfassenden Ermittlungen ergangenen angefochtenen Entscheidung zu Eigen und nimmt auf diese Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).
Zutreffend ist das Sozialgericht insbesondere davon ausgegangen, dass die Selbstbeschaffung durch den Kläger erst nach Erlass des Bescheides vom 5. Oktober 2017 stattgefunden hat. Unwiderlegt hat der Kläger ausgeführt, dass die von ihm der Beklagten vorgelegte – von ihm unterzeichnete – erste Kostenübernahmeerklärung vom 4. Oktober 2017 nicht an das Sanitätshaus abgesandt worden ist, so dass eine vertragliche Bindung nicht eingetreten ist. Dies scheint angesichts der Preisdifferenz zum Kostenvoranschlag auch ohne weiteres schlüssig und nachvollziehbar. Bei einer bewussten Nichtabsendung der Vertragserklärung vermag der Senat auch nicht festzustellen, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheides vom 5. Oktober 2017 wenige Tage später bereits endgültig auf die Beschaffung festgelegt war und sich etwa einer anderweitigen bedarfsgerechten Versorgung durch die Beklagte verschlossen hätte.
Auch den zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung bestehenden Sachleistungsanspruch auf das streitige Hilfsmittel als ein solches zum Ausgleich einer Behinderung nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V hat das Sozialgericht zutreffend festgestellt. Überzeugend hat das Sozialgericht - unter Darlegung der Rechtsgrundlagen und der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Zeitpunkt seiner Entscheidung - gestützt auf das eingeholte Sachverständigengutachten festgestellt, dass der Kläger das selbstbeschaffte Handbike mit Motorunterstützung bereits für die Bewältigung von alltäglichen Geschäften im Nahbereich benötigt und hierfür ein Aktivrollstuhl nicht ausreichend ist. Dies ergibt sich auch für den Senat aus den Feststellungen des Sachverständigen zur Unfähigkeit zum Anwinkeln des Rollstuhls ohne vorgesetztes Handbike bei gleichzeitig durch die Schulterbeschwerden gegebener Erforderlichkeit der Motorunterstützung.
Ergänzend ist nach neuerer Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteile vom 18. April 2024 – B 3 KR 14/23 R, B 3 KR 7/23 R und B 3 KR 13/22 R) zu beachten, dass sich die Frage, ob der Nahbereich der Wohnung nur mit einer motorunterstützten Mobilitätshilfe zumutbar mit eigener Körperkraft erschlossen werden kann, sich auch dann regelhaft nach den örtlichen Gegebenheiten der wesentlichen Versorgungs- und Gesunderhaltungswege bestimmt, wenn diese über die von nicht mobilitätsbeeinträchtigten Menschen üblicherweise zu Fuß zurückgelegten Entfernungen hinausgehen. Die entgegenstehende frühere Rechtsprechung hat der allein zuständige 3. Senat des BSG ausdrücklich aufgegeben (B 3 KR 14/23 R - Rn. 25 bei Juris). Das BSG hat auch nach Ansicht des Senats hierbei zutreffend auf die auch im Rahmen des Behinderungsausgleichs zu berücksichtigende veränderte Einstellung zur Bedeutung von Bewegung in der Gesundheitsprävention (BSG aaO. Rn. 23 bei Juris) und das Wahlrecht nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB IX (aaO. Rn. 30) abgestellt. Erfasst werden dementsprechend vom Behinderungsausgleich auch solche Wege, die zuvor als sog. Freizeitwege beschrieben zur Aufrechterhaltung der körperlichen Vitalfunktionen und der Erschließung des für die seelische Gesundheit elementaren geistigen Freiraums dienten, sofern Versicherte den anzuerkennen Nahbereich der Wohnung in Ausübung ihres Wunsch- und Wahlrechts unter Einsatz ihrer Körperkraft erschließen möchten (BSG aaO. Rn. 30).
Soweit die Beklagte die Auffassung vertritt, die geänderte Rechtsprechung könne auf die Selbstbeschaffung im Jahr 2017 keine Anwendung finden, verkennt sie die allein rechtserkennende und nicht rechtsetzende Funktion der Gerichte im deutschen Rechtssystem. Der letztlich von ihr geforderte Vertrauensschutz zu Gunsten einer Behörde in zwischenzeitlich für objektiv rechtswidrig erkanntes Handeln hat keine Rechtsgrundlage.
Unter Berücksichtigung des Wunsches des Klägers zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung im Dezember 2017, unter Einsatz seiner Restkörperkraft Wege des täglichen Lebens zu bestreiten, die in Berlin gerichtsbekannterweise übrigens über den engsten Nahbereich hinaus auch durch nicht mobilitätseingeschränkte Personen mit dem Fahrrad durchgeführt werden, kommt eine Verweisung auf einen Elektrorollstuhl nicht in Betracht. Auf die von der Beklagten aufgeworfene Frage, ob solche Wege in Berlin mit dem Fahrrad zurückgelegt werden müssen, kommt es nicht an. Auch der allein technisch möglichen Höchstgeschwindigkeit kommt keine einschränkende Bedeutung zu, zumal unter Berücksichtigung des klägerischen Hinweises darauf, dass es sich bei einer Motorunterstützung um die Geschwindigkeit handelt, bis zu der eine Unterstützung des manuellen Betriebs durch den Motor erfolgt. Auch das BSG hat keine Gründe zur Versagung einer Versorgung mit einem vergleichbaren Hilfsmittel mit selber Maximalgeschwindigkeit gesehen (B 3 KR 14/23 R). Bei einer – ärztlich im Hinblick auf das Training der Schultermuskulatur auch unterstützten – Entscheidung des Klägers für einen Einsatz seiner Körperkraft scheidet auch ein Verweis auf den öffentlichen Nahverkehr aus. Soweit die Beklagte unter Verweis auf die Gutachten des MDK bzw. nunmehr MD auf andere Möglichkeiten zur Therapie des Schulterleidens verweist, verkennt sie, dass rechtlich nicht der Einsatz des Hilfsmittels als Teil einer Behandlungsmethode oder zur Sicherung des Behandlungserfolges im Raum steht, wie das Sozialgericht bereits zutreffend dargelegt hat, sondern die Berücksichtigung des Wunsches des Klägers, das Grundbedürfnis der Mobilität mit dem Einsatz der vorhandenen Restkörperkraft zu kombinieren. Es handelt sich insoweit genau um die Entscheidung, mit dem Bestreiten des Weges eine körperliche Tätigkeit zu verbinden, wie sie auch nicht mobilitätseingeschränkte Personen aus Gesundheitsgründen treffen. Diese ist – wie vom BSG zuletzt entschieden – im Rahmen des Behinderungsausgleichs durch die gesetzlichen Krankenkassen zu berücksichtigen. Auch wenn ärztliche Äußerungen im Verfahren die Bedeutung der Verwendung des Handbikes auch für das Schulterleiden betont haben, ist die ursprüngliche Verordnung auch gerade „zur Sicherstellung der eigenen Mobilität“ erfolgt.
Zur Überzeugung des Senats konnte der Kläger zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung nur mit dem Handbikezuggerät mit Motorunterstützung eine unter Einsatz der eigenen Restkörperkraft aktive und damit eigenständige und selbstbestimmte Fortbewegung sowie eine Erschließung des Nahbereichs seiner Wohnung in zumutbarer und angemessener Weise erreichen. Über die vom Sozialgericht getroffenen Feststellungen hinaus, ist dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen nachvollziehbar zu entnehmen, dass der Kläger des Hilfsmittels nicht nur für die Erschließung des Nahbereichs, insbesondere für das Einkaufen bedarf, sondern auch um das nötige Maß an Selbstbestimmung im Bereich der Mobilität zu erhalten. Das Gutachten ist insgesamt und auch insoweit nachvollziehbar und schlüssig. Insbesondere hat der Sachverständige den Einzelfall des Klägers gewürdigt und ist der Auffassung der behandelnden Ärzte entgegengetreten, bei jedem Querschnittsgelähmten sei ein entsprechendes Hilfsmittel erforderlich. Auch eine Restkraftverstärkung für den Greifreifen stellte für den Kläger wegen der auch dann fortbestehenden Notwendigkeit, den Rollstuhl etwa an Bordsteinkanten anzukanten, keine ausreichende Versorgung dar. Auch die Beklagte behauptet nicht, dass der Kläger alle Geschäfte des täglichen Lebens im Nahbereich ohne Queren einer Straße und damit von Bordsteinkanten bewältigen könne. Nur ergänzend und außerhalb der tragenden Gründe sei insoweit angemerkt, dass nach öffentlich zugänglichen digitalen Karten der Lebensmitteleinkauf dann auf einen „Spätkauf“ und ein japanisches Lebensmittelgeschäft beschränkt wäre. Insoweit dürfte der Nahbereich grundsätzlich nicht auf die ersterreichbare Versorgungsmöglichkeit zu beschränken sein, sondern der Behinderungsausgleich im Sinne des Grundbedürfnisses „Gehen“ jedenfalls nach der neuen Rechtsprechung des BSG auch eine Gleichstellung hinsichtlich der Ausnutzung jedenfalls einer angemessenen Anbietervielfalt von örtlichen Geschäften umfassen.
Das beschaffte Hilfsmittel war für den Kläger auch geeignet. Er war und ist unter Berücksichtigung seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit in der Lage, das Handbike mit Motorunterstützung einzusetzen und es war mit einer regelmäßigen Nutzung zu rechnen (vgl. zu den Anforderungen BSG aaO. Rn. 32). Diesbezüglich hat der Sachverständige keinerlei Feststellungen getroffen, die der Nutzung entgegenstehen. Der Kläger benutzt das Hilfsmittel offenkundig. Ein zeitweiser Ausschluss von der Nutzung durch Schwankungen im Gesundheitszustand, was auch zu einer verspäteten Inbetriebnahme 2018 geführt hatte, steht der regelmäßigen Nutzung nicht entgegen. Dasselbe gilt für Dekubituserscheinungen mit den insoweit erforderlich gewordenen Entlastungsphasen, wie sie im Befundbericht des behandelnden Physiotherapeuten vom 4. August 2021 erwähnt sind. Diese betreffen im Übrigen die Nutzung eines Rollstuhls in sitzender Haltung an sich und nicht speziell die Nutzung des Zuggeräts. Aus demselben Bericht ergibt sich der Einsatz des Handbikes mit Motorunterstützung in den Phasen, in denen ein Sitzen möglich war, auch für das Eigentraining des Klägers, mithin seiner sportlichen Betätigung im Rahmen des ihm Möglichen.
Die Motorisierung mit der Unterstützung einer Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h führt nicht zu einem Wegfall der Eignung für den Kläger aus rechtlichen Gründen. Unabhängig von der Einordnung als Pedelec handelt es sich um einen Antriebszusatz für einen Rollstuhl und damit bei dem gesamten Fahrzeug um „andere als die in Absatz 1 genannten Rollstühle“ im Sinne des § 24 Abs. 2 der Straßenverkehrsordnung (vgl. Rogler in Freymann/Wellner in jurisPK-Straßenverkehrsrecht, Stand 21. April 2023 – Rn. 51 zu § 24 StVO), so dass bei Einhaltung der Schrittgeschwindigkeit auch die Gehwegnutzung möglich ist.
Die Möglichkeit einer anderweitigen, kostengünstigeren Versorgung, insbesondere mit einem Handbike mit Motorunterstützung mit geringerer Höchstgeschwindigkeit, hat die Beklagte nicht dargelegt, obwohl die Nichtverfügbarkeit auf dem Markt von solchen Hilfsmitteln mit einer Geschwindigkeit im Bereich von elektrischen Rollstühlen bereits Gegenstand der Äußerungen des Unfallkrankenhauses Berlin gewesen ist. Die hier streitige Versorgung stellt sich wirtschaftlich nach der Einigung der Beteiligten vor dem Sozialgericht über einen Eigentumsübergang auf die Beklagte als leihweise Versorgung dar und damit um die günstigste Form der Versorgung mit dem konkreten Hilfsmittel.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG. Bei der pflichtgemäßen Ermessensausübung hat der Senat das Unterliegen des Klägers hinsichtlich der Zinsen als Nebenforderung wegen Geringfügigkeit nicht berücksichtigt.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.