§ 8 SGB 7, § 215 Abs 1 SGB 7, § 1150 Abs 2 S 1 Nr 1 RVO, § 539 Abs 1 Nr 1 RVO
Gesetzliche Unfallversicherung - Übergangsrecht - ehemalige DDR - Feststellung eines in der DDR abgelaufenen Unfallereignisses als Arbeitsunfall nach Bundesrecht
1. Nach § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO gelten Unfälle und Krankheiten, die vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind und die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der Sozialversicherung waren, als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten im Sinne des Dritten Buches der RVO. Nach § 1150 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 RVO gilt dies jedoch nicht für Krankheiten, die einem ab 1. Januar 1991 für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der Unfallversicherung erst nach dem 31. Dezember 1993 bekannt geworden sind und die nach dem Dritten Buch der RVO nicht zu entschädigen wären.
2. Bestand nach DDR-Recht Versicherungsschutz nach § 1 Abs. 1 der VO über die Erweiterung des Versicherungsschutzes (ErwVO) bei Unfällen in Ausübung gesellschaftlicher, kultureller oder sportlicher Tätigkeiten vom 11. April 1973, so ist dies rechtlich unbeachtlich, wenn es einen vergleichbaren Versicherungstatbestand im 3. Buch der RVO nicht gegeben hat.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichtes Altenburg vom 31. Juli 2023 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung eines Unfalls beim Fußballspiel im April 1983 als Arbeitsunfall nach Bundesrecht.
Der 1960 geborene Kläger war von 1980 bis 1983 als Elektromonteur beim VEB S1 L1 beschäftigt und anschließend Student an der Technischen Hochschule L2.
Im Juli 2020 teilte der Kläger telefonisch der Beklagten mit, dass er während eines Fußballspiels zu DDR-Zeiten gefoult worden sei. Deshalb habe er sich das Knie verrenkt. Weitere Ermittlungen ergaben, dass es sich um ein Geschehen auf dem Fußballplatz in S2 im Rahmen eines Vereinsspiels für den SV M S2 gehandelt hat. Rückfragen bei der für den Kläger zuständigen Berufsgenossenschaft ergaben, dass dieser Unfall nicht vor dem 1. Januar 1995 angezeigt worden war. Ausweislich des beigezogenen Sozialversicherungsausweises des Klägers wurde dieser im Zeitraum 11. bis 22. April 1983 im Kreiskrankenhaus S3 wegen einer Knieverletzung behandelt. In einem am 13. Oktober 2020 ausgefüllten Fragebogen gab der Kläger an, dass er sich an das genaue Unfalldatum nicht erinnern könne. Er gehe davon aus, dass aufgrund des Unfallereignisses die Behandlung im Kreiskrankenhaus S3 im April 1983 erforderlich geworden sei. Er habe sich damals auf dem Fußballplatz des SV M S2 verletzt. Später sei er deshalb in der orthopädischen Klinik der P1 Stiftungen im Jahre 1986 behandelt worden.
Durch Bescheid vom 16. Februar 2021 lehnte die Beklagte die Anerkennung eines Arbeitsunfalles und die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab. Erstmals sei ihr das Unfallereignis am 20. Juli 2020 gemeldet worden. Bis zum 31. Dezember 1994 seien in der DDR gemeldete Altfälle per Verteilerschlüssel auf die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung verteilt worden. Eine Anfrage bei der daher zuständigen Berufsgenossenschaft Rohstoffe und Chemische Industrie habe ergeben, dass dort der Unfall nicht gemeldet worden sei. Zwar habe nach dem Recht der ehemaligen DDR bei der Ausübung von sportlichen Tätigkeiten unter Umständen Versicherungsschutz bestehen können. Derartige Möglichkeiten seien nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland jedoch nicht gegeben gewesen. Insbesondere sei kein Nachweis geführt, dass sich infolge einer versicherten Tätigkeit ein Unfall ereignet habe. Hiergegen legte der Kläger fristgerecht Widerspruch ein und trug vor, dass er für den SV M S2 regelmäßig auf Veranlassung des VEB S1 L1 Fußball gespielt habe. Durch Widerspruchsbescheid vom 12. Mai 2021 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen. Ansatzpunkte dafür, dass es sich um einen Unfall im Rahmen des Betriebssports gehandelt habe, hätten sich nicht ergeben. Nach den geltenden Übergangsvorschriften müsse aufgrund der erst 2020 erfolgten Meldung des Arbeitsunfalles sowohl Versicherungsschutz nach dem Recht der DDR als auch nach demjenigen der Reichsversicherungsordnung (RVO) bestanden haben. Letzteres sei hier nicht der Fall.
Hiergegen hat der Kläger fristgerecht Klage erhoben. Im Klageverfahren hat der Kläger ein Studienbuch vorgelegt, aus welchem sich ergibt, dass er im Jahre 1984 zunächst sportbefreit war. Das Sozialgericht hat Befundberichte aus den achtziger Jahren bezüglich einer Kniegelenksbehandlung rechts der P1 Stiftungen und des Kreiskrankenhauses S3 beigezogen. Schriftlich hat das Sozialgericht den Zeugen P2 befragt. Dieser hat am 10. April 2022 ausgeführt, dass der Kläger in den achtziger Jahren öfters am Trainingsbetrieb und teilweise am Spielbetrieb der 2. Mannschaft des SV S2 teilgenommen habe. Der Kläger habe aushelfen müssen, damit eine komplette Mannschaft zustande gekommen sei. Er könne sich daran erinnern, dass bei einem dieser Spiele sich der Kläger eine schwerwiegende Verletzung zugezogen habe.
Durch Urteil vom 31. Juli 2023 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, nach § 1150 Abs. 2 S. 1 RVO gälten vor dem 1. Januar 1992 eingetretene Arbeitsunfälle im Sinne des im Beitrittsgebiet geltenden Rechts ohne weiteres als Arbeitsunfälle nach dem Dritten Buch der RVO. Würden sie dem für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der Unfallversicherung aber erst nach dem 31. Dezember 1993 bekannt, sei nach § 1150 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 RVO zusätzlich zu prüfen, ob sie auch nach der RVO zu entschädigen wären. Dieser Fall liege hier vor, weil der Arbeitsunfall einem Unfallversicherungsträger erst im Juli 2020 bekannt geworden sei. Die Entschädigungsfähigkeit nach der RVO liege hier nicht vor, weil zwischen der Beschäftigung des Klägers und dem Fußballspiel kein Zusammenhang bestanden habe. Die Voraussetzungen des § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO lägen daher nicht vor. Es habe sich weder um Betriebssport noch um eine betriebliche Gemeinschaftsveranstaltung gehandelt. Das angegebene Ereignis könne daher nicht als Arbeitsunfall im Sinne des Dritten Buchs der RVO eingestuft werden.
Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Das Sozialgericht habe zunächst korrekt festgestellt, dass der Kläger im Jahr 1983, ohne dass die Feststellung eines genauen Datums möglich sei, bei einem Spiel der Altherrenmannschaft des SV M S2 eine Knieverletzung erlitten habe. Dieses Ereignis stelle entgegen den Ausführungen des Sozialgerichts auch einen Arbeitsunfall im Sinne der RVO dar. Zu beachten sei, dass nach der Verordnung über die Erweiterung des Versicherungsschutzes bei Unfällen in Ausübung gesellschaftlicher, kultureller oder sportlicher Tätigkeiten vom 11. April 1973 jegliche organisierte sportliche Tätigkeit vom Versicherungsschutz umfasst gewesen sei. Es sei rechtlich unerheblich gewesen, wer diese organisiert habe. Zudem bestehe zumindest darüber hinaus entsprechend § 2 Abs. 10 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) Versicherungsschutz. Denn der Kläger sei ehrenamtlich als Fußballspieler tätig geworden. Zweck der Vorschrift sei die Förderung des Engagements im gesellschaftlichen Bereich, sodass es dem Schutzbereich zuwiderlaufe, wenn die hier in Rede stehende Tätigkeit unversichert bleibe.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Altenburg vom 31. Juli 2023 und den Bescheid der Beklagten vom 16. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Mai 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das Ereignis aus dem Jahre 1983 betreffend das rechte Knie als Arbeitsunfall anzuerkennen und Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen in dem angegriffenen Urteil.
Nach Erteilung eines ausführlichen Hinweises durch den Berichterstatter am 7. August 2024 haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte dieses Verfahrens und den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Im Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.
Die Berufung des Klägers ist gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegt und gemäß §§ 143, 144 SGG statthaft und zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Das SG Altenburg hat in seinem angefochtenen Urteil vom 31. Juli 2023 zu Recht die Klage abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 16. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Mai 2021 ist rechtmäßig und beschwert den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG), denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung eines Arbeitsunfalles. Zur Begründung wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die Ausführungen des Sozialgerichts in dem angegriffenen Urteil Bezug genommen. Ergänzend führt der Senat aus:
Nach § 215 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ist für die Übernahme der vor dem 1. Januar 1992 eingetretenen Unfälle und Krankheiten als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung § 1150 Abs. 2 und 3 RVO in der am Tag vor Inkrafttreten dieses Gesetzes geltenden Fassung weiter anzuwenden. Der Anspruch des Klägers richtet sich daher nach § 1150 Abs. 2 RVO in der am 31. Dezember 1996 geltenden Fassung des Renten-Überleitungsgesetzes vom 25. Juli 1991 (BGBl. I 1606, 1688), denn der geltend gemachte Unfall ist vor dem 1. Januar 1992 im Beitrittsgebiet eingetreten.
Nach § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO sind die vor dem 1. Januar 1992 in der ehemaligen DDR eingetretenen Unfälle und Krankheiten als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten im Sinne des Dritten Buches der RVO anzuerkennen, wenn diese Unfälle oder Krankheiten vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind und nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der Sozialversicherung waren. Dies gilt nach § 1150 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 RVO nicht für Unfälle und Krankheiten, die einem ab 1. Januar 1991 für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der Unfallversicherung erst nach dem 31. Dezember 1993 bekannt geworden sind und die nach dem Dritten Buch der RVO nicht zu entschädigen wären (vgl. BSG, Urteil vom 18. August 2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl. 1 Nr. 2402 Nr. 1).
Der Unfall des Klägers ist vor dem 1. Januar 1992 im April 1983 eingetreten. Unerheblich ist hier zunächst, ob der Arbeitsunfall nach § 1 Abs. 1 Erweiterungs-VO 1973 einem Unfall nach dem Recht der ehemaligen DDR (§ 220 Abs. 1 und 3 des Arbeitsgesetzbuches der DDR) gleichgestellt war (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 30. Juni 2009 - B 2 U 19/08 R - SozR 4-2700 § 2 Nr. 13 Rn. 31). Denn das Unfallereignis aus dem April 1983 ist einem für das Beitrittsgebiet zuständigen Unfallversicherungsträger erst im Juli 2020 bekannt geworden. Anhaltspunkte für ein Bekanntwerden vor dem 1. Januar 1994 im Sinne des § 1150 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 RVO bestehen nicht.
Das Ereignis aus dem April 1983 kann nicht als Arbeitsunfall im Sinne des Dritten Buches der RVO eingestuft werden. Arbeitsunfall im Sinne des § 548 Abs. 1 Satz 1 RVO war ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten und danach versicherten Tätigkeiten erlitt. In Betracht zu ziehen für einen Versicherungsschutz des Klägers ist zunächst die Vorschrift des § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO. Dessen Voraussetzungen können nicht bejaht werden. Nach der Vorschrift waren gesetzlich unfallversichert die auf Grund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses Beschäftigten. Erforderlich war, dass zwischen dem Verhalten zum Unfallzeitpunkt und dem Beschäftigungsverhältnis eine sachliche Verbindung, der sog. innere Zusammenhang, bestand. Dafür ist nichts ersichtlich. Dann müsste das Schaden bringende Fußballspiel als Ausübung der Beschäftigung aus dem Arbeitsverhältnis des Klägers angesehen werden. Dies setzt voraus, dass der Arbeitsvertrag oder Normen des Arbeitsrechts der DDR eine Pflicht zum Fußballspiel für den Kläger begründeten (vgl. Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 29. September 2011 - L 6 U 85/10, juris). Dafür ist nichts ersichtlich. Soweit die Berufung auf § 2 Abs. 10 SGB VII abstellt, enthielt § 539 Nr. 13 RVO eine im Ansatz vergleichbare Regelung. Danach waren die für den Bund, ein Land, eine Gemeinde, einen Gemeindeverband oder eine andere Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts ehrenamtlich Tätigen, wenn ihnen nicht durch Gesetz eine laufende Entschädigung zur Sicherstellung ihres Lebensunterhalts gewährt wird, und die von einem Gericht, einem Staatsanwalt oder einer sonst dazu berechtigten Stelle zur Beweiserhebung herangezogenen Zeugen, versichert. Ehrenamtliche Tätigkeiten für Privatrechtssubjekte werden aber selbst dann nicht erfasst, wenn diese öffentlich-rechtliche Aufgaben wahrnahmen. Insoweit kann Fußballspielen für einen Verein hierunter nicht subsumiert werden. Dass dies nach dem Recht der DDR möglicherweise anders zu bewerten ist, steht dem nicht entgegen. Nach § 220 Abs. 1 Satz 1 des Arbeitsgesetzbuches der DDR [AGB-DDR] vom 16. Juni 1977 (DDR-GBl. I, Nr. 18, S. 185) war der Arbeitsunfall als Verletzung eines Werktätigen im Zusammenhang mit dem Arbeitsprozess definiert und nach § 220 Abs. 3 Satz 1 AGB-DDR waren den Arbeitsunfällen Unfälle bei organisierten gesellschaftlichen, kulturellen und sportlichen Tätigkeiten gleichgestellt. Einzelheiten dazu wurden nach § 220 Abs. 3 Satz 2 AGB-DDR in Rechtsvorschriften festgelegt. Im Zeitpunkt des Ereignisses 1983 galt diesbezüglich die „Verordnung über die Erweiterung des Versicherungsschutzes bei Unfällen in Ausübung gesellschaftlicher, kultureller oder sportlicher Tätigkeiten“ [der DDR – nachfolgend: Erweiterungs-VO 1973] vom 11. April 1973 (DDR-GBl. I, Nr. 22, S. 199). Nach § 1 der Erweiterungs-VO 1973 erhielten Bürger, die bei organisierten gesellschaftlichen, kulturellen oder sportlichen Tätigkeiten einen Unfall erlitten, Leistungen der Sozialversicherung (und betriebliche Lohnausgleichszahlungen) wie bei einem Arbeitsunfall. Aufgrund der Gleichstellung durch § 220 Abs. 3 S. 1 AGB waren die Fälle der Erweiterungs-VO im Hinblick auf ihren gelösten Zusammenhang mit dem "Arbeitsprozess" nur wie Arbeitsunfälle zu behandeln. Vorstehendes ändert aber nichts an der Rechtslage nach dem Dritten Buch der RVO.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).