L 1 KR 126/22

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 7 KR 758/20
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 126/22
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 63/24 B
Datum
Kategorie
Urteil


Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gießen vom 13. April 2022 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch im Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen. 


Tatbestand

Im Streit steht die Kostenerstattung für Arznei- und Verbandmittel in Höhe von 1.447,74 € (Zeitraum 05.09. bis 27.12.2019).

Der 1939 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Bei ihm liegt ein komplexes chronisches Krankheitsbild vor (u.a. Erschöpfungssyndrom, chronische Herzinsuffizienz, Mitralklappenprolaps, hypotone Kreislaufdysregulation, arterielle Hypotonie, Hypogonadismus, Hypothyreose, exokrine Pankreasinsuffizienz, Niereninsuffizienz, schwere Leberfunktionsstörung mit verminderter Entgiftungskapazität der Leber, chronische Obstipation, Laktoseintoleranz, multiple Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Anämie, Wirbelsäulen-Syndrom, Osteoporose, Polyarthritis, venöse Insuffizienz, Sicca-Syndrom der Augen). Das Versorgungsamt Wiesbaden hat einen GdB von 90 sowie Merkzeichen G und B (Bescheid vom 30.08.2021). 

Der Kläger unterzieht sich vor allem wegen wiederholt auftretender Erschöpfungszustände seit Jahren mehrmals im Jahr stationären Behandlungen in der B.-Klinik von C., einer Privatklinik mit Zulassung nach § 111 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Die Erstattung für stationäre Heilverfahren in dieser Klinik in den Jahren 2006 und 2008 wurde - nach Einholung eines Sachverständigengutachtens von Dr. E. (Facharzt für Innere Medizin und Sozialmedizin) vom 30.04.2010 - rechtskräftig abgelehnt (Hessisches LSG, Beschlüsse vom 19.01.2012, L 1 KR 285/10 und L 1 KR 284/10). In dem wegen des stationären Aufenthalts des Klägers in der B.-Klinik von C. im Sommer 2011 geführten Verfahren (S 7 KR 328/11) hatte das Sozialgericht Gießen eine am 04.01.2012 von Dr. E. erstellte ergänzende Stellungnahme eingeholt. Die Klage wies das Sozialgericht mit Urteil vom 08.01.2016 ab, die Berufung wies das Hessische Landessozialgericht mit Beschluss vom 14.11.2019 zurück (L 1 KR 132/19; NZB erfolglos: B 1 KR 13/19 BH). Eine weitere Klage auf Kostenerstattung für stationäre Maßnahmen in der B.-Klinik im Jahr 2012 wurde ebenfalls rechtskräftig abgewiesen (Beschluss vom 14.11.2019, L 1 KR 133/19; BSG, Beschluss vom 09.03.2020, B 1 KR 14/19 BH). Die Klagen gegen die ablehnenden Bescheide hinsichtlich der Erstattung der Kosten für drei stationäre Aufenthalte in der B.-Klinik von C. in der Zeit vom 05.08.2013 bis zum 21.01.2014 lehnte das Sozialgericht Gießen nach Einholung des Gutachtens von Prof. Dr. D. vom 10.01.2017 mit Urteil vom 15.08.2017 ab (S 7 KR 38/14). Die hiergegen eingelegte Berufung wies das Hessische Landessozialgericht nach einem erfolglos durchgeführten güterichterlichen Verfahren (in diesem sowie zahlreichen weiteren Berufungs- und erstinstanzlichen Verfahren der Beteiligten), einer gerichtlichen Erörterung vor der Berichterstatterin am 28.07.2020 mit den Beteiligten sowie Prof. Dr. S. (Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Heidelberg), Dr. H. (B. Klinik) und Dr. M. (SMD) sowie der Einholung des Gutachtens von Prof. Dr. S. vom 02.02.2021 und der Befragung des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat mit Urteil vom 18.11.2021 zurück (L 1 KR 42/20). Die hiergegen erhobene Nichtzulassungsbeschwerde verwarf das Bundessozialgericht mit Beschluss vom 15.07.2022 (B 1 KR 9/22 B). Die Beschwerden gegen die Urteile des Senats vom 03.03.2022 (L 1 KR 76/20) und 23.03.2023 (L 1 KR 138/22) verwarf das Bundessozialgericht mit Beschlüssen vom 13.07.2022 (B 1 KR 39/22 B) und 13.09.2023 (B 1 KR 58/23 B). Gegen die Urteile des Senats vom 25.01.2024 in den Verfahren L 1 KR 69/21 und L 1 KR 74/20 legte der Kläger ebenfalls Nichtzulassungsbeschwerden ein, die noch beim Bundessozialgericht anhängig sind (B 1 KR 27/24 B und B 1 KR 22/24 B).

Am 23.05.2020 beantragte der Kläger bei der Beklagten Rückzahlung von 1.447,74 € für im Jahr 2019 selbst beschaffte Arznei- und Verbandmittel. Für Wundversorgung und Verbände seien ihm Kosten in Höhe von 2.081,86 € entstanden. Er stelle den Antrag, „um zu erreichen, dass die Aufwendungen für Behinderungen, die chronische Krankheiten sind, als maximale Zuzahlung höchstens 2 % des Bruttoeinkommens dem Versicherten entstehen dürften, so dass mir der überschießende Betrag von 1447,74 € zurückzuerstatten ist.“

Er fügte dem Antrag eine handschriftliche Aufstellung von Aufwendungen für Verbandmittel in Höhe von 2.091,86 € sowie Rechnungen der Kurapotheke G. OHG vom 05.11.2019 in Höhe von 530,79 € (Zeitraum 04.10.-28.10.2019 für diverse Artikel) und vom 02.01.2020 in Höhe von 513,50 € (Zeitraum 06.11.-28.11.2019) jeweils für diverse Artikel bei. Zudem legte er von Dr. med. P. ausgestellte Privatrezepte für Verband-, Wund-/Haut- und Schmerzmittel vor:
- Topper 8 Kompressen steril 10 x 20 cm 50 x 2 Stück (Rezept vom 31.07.2019: 47,50 €; Rezept vom 19.09.2019: 47,50 €)
- Cetuvit steril Saugkompresse 10 x 10, 25 Stück (Rezept vom 31.07.2019:
31,84 €) 
- Vliwasorb 10 x 10 cm 6 Pack (Rezept vom 15.09.2019: 58,20 €) 
- Zemuko gerollt Btl. Vliesauflage 10m x 10cm Lohmann Kom 1 Stück
(Rezept vom 18.10.2019: 16,98 €) 
- Aquacel Ag 1 OP Verband (Rezept vom 02.10.2019: 225,05 €) 
- Octenisept Lösung 50 ml (Rezept vom 31.07.2019: 14,36 €; Rezept vom
23.09.2019: 14,36 €)
- 8 x Medihoney Antibakt. Med. Honig Apofit Arznei 50 mg (Rezept vom 24.09.2019: geltend gemacht: 101,48 €, aber nur Quittungen vom 06. und 18.09.2019) 
- Prednicarbat Acis Creme N2 50g (Rezept vom 28.10.2019: 19,11 €) 
- Novalgin Tropfen N3 100 ml (Rezept vom 28.10.2019: 22,96 €)

Mit Bescheid vom 05.06.2020 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung führte sie aus, dass eine Leistungspflicht der Krankenkasse aufgrund des Sachleistungsprinzips nur bei einer Verordnung auf Kassenrezept bestehe. Durch die Verordnung auf Privatrezept habe der behandelnde Arzt dokumentiert, dass die Voraussetzungen für eine Verordnung auf Kassenrezept nicht erfüllt seien. 

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Es handele sich um notwendige Verbandmittel zur Wundversorgung bei Ulcus cruris (Unterschenkelgeschwür). 

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 02.12.2020 zurück. Ergänzend verwies sie darauf, dass es sich bei Frau Dr. med. K. in A-Stadt um eine Ärztin ohne Kassenzulassung handele, sodass eine Ausstellung von Rezepten zur Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ohnehin nicht möglich sei.

Am 17.12.2020 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Gießen erhoben. Die Beiziehung der Behandlungsakte des Pflegedienstes und eine Befragung eines Arztes über die Behandlungserfordernisse bei Vorliegen einer mitochondrialen Stoffwechselstörung seien erforderlich. Die Abheilung des Ulcus cruris habe sich nach zunächst positivem Verlauf während eines Aufenthaltes in der C.-Klinik unter kassenärztlicher Behandlung wieder verschlechtert, bis der Pflegedienst Aquacel vorgeschlagen habe. Die bei ihm vorliegende Mitochondriopathie wirke sich auf alle Zellen bzw. Gewebe aus. Ein Ulcus cruris sei damit ebenfalls Ausdruck dieser Stoffwechselstörung. Deshalb sei eine umfassende (internistische) Beweiserhebung erforderlich.

Auf Nachfrage des Sozialgerichts hat das „Fachzentrum Allgemeine Leistungen“ der Beklagten unter dem 01.04.2021 mitgeteilt, es handele sich – mit Ausnahme von Octenisept – um Kassenleistungen, die auf Kassenrezept verordnet werden könnten. Octenisept sei gemäß Arzneimittel-Richtlinie (Anlage I Nr. 8) eingeschränkt auf Kassenrezept verordnungsfähig und zwar nur zur Selbstbehandlung schwerwiegender generalisierter Hauterkrankungen (z.B. Epidermylosis bullosa, hereditaria; Pemphigus). Eine eindeutige entsprechende Diagnose sei den vorliegenden Unterlagen nicht zu entnehmen. In der Vergangenheit sei teils „Zoster ohne Komplikation“ diagnostiziert worden. Die Anwendung von Octenisept dafür sei eher unüblich.

Das Sozialgericht hat zudem Befundberichte bei Dr. med. P. eingeholt. Dieser hat unter dem 08.08.2021 ausgeführt, dass die verordneten Mittel zur Behandlung von Ulcera cruris eingesetzt worden seien. Sie seien sinnvoll, aber nicht wirtschaftlich im Sinne des § 12 SGB V, denn es gebe preiswertere Alternativen (Generica u.ä.). So habe keine Verordnung zulasten der Krankenkasse erfolgen können. Unter dem 11.03.2022 hat Dr. med. P. mitgeteilt, dass der Kläger am 02.10.2019 ein Privatrezept für Aquacel gewünscht habe ohne Vorstellung in der Praxis. Am 18.10.2019 sei er in die Praxis gekommen. Zur Behandlung der Wunden sei ein begrenzte Menge Aquacel auf Kassenrezept verordnet worden. Privat verordnete Verbandsmittel seien möglich gewesen, aber teilweise nicht notwendig oder wirtschaftlich. Zu einzelnen Binden/Kompressen könne er nach über 2 Jahren keine weiteren Angaben machen.

Mit Gerichtsbescheid vom 13.04.2022 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Als Anspruchsgrundlage für die Erstattung von Kosten für Arznei- und Verbandmitteln komme § 13 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 31 Abs. 1 SGB V in Betracht. Habe die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen können oder habe sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und seien dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, seien diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig gewesen sei (§ 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V). Versicherte hätten Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit sie nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen seien, und auf Versorgung mit Verbandmitteln, Harn- und Blutteststreifen (§ 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Die Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) konkretisiere den Inhalt und Umfang der im SGB V festgelegten Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 AM-RL). Die an sich ausgeschlossene Verordnung nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel für Versicherte, die das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben (§ 34 Abs. 1 Satz 1 und 5 SGB V), sei ausnahmsweise zulässig, wenn sie bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten (§ 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V, § 12 Abs. 2 AM-RL). Schwerwiegende Erkrankungen und Standardtherapeutika zu deren Behandlung seien in Anlage I aufgeführt (§ 12 Abs. 5 AM-RL). Für die in der Anlage I zur AM-RL aufgeführten Indikationsgebiete könne der behandelnde Arzt bei schwerwiegenden Erkrankungen auch Arzneimittel der Anthroposophie und Homöopathie verordnen, sofern ihre Anwendung für diese Indikationsgebiete und Anwendungsvoraussetzungen nach dem Erkenntnisstand als Therapiestandard in der jeweiligen Therapierichtung angezeigt sei (§ 12 Abs. 6 Satz 1 AM-RL). Die Leistungen der GKV müssten ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürften das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich seien, dürften die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 Satz 2 SGB V).

Für die folgenden Arznei- und Verbandmittel lägen ausschließlich privatärztliche Verordnungen von Dr. med. P. vor: Topper 8 Kompressen (31.07.2019 und 19.09.2019), Cetuvit steril Saugkompresse (31.07.2019), Vliwasorb (15.09.2019), Zemuko gerollt (18.10.2019), Aquacel Verband (02.10.2019), 8x Medihoney Antibakt. Med. Honig Apofit, Arznei 50 mg (24.09.2019), Octenisept Lösung 50 ml (31.07.2019 und 23.09.2019), Prednicarbat Acis Creme N2 50g (28.10.2019) Novalgin Tropfen N3 100 ml (28.10.2019).

Mit der Verordnung auf Privatrezept habe Dr. med. P. zum Ausdruck gebracht, dass die Voraussetzungen für eine Verordnung zulasten der Krankenkasse nicht vorlägen. Dies halte auch einer inhaltlichen Prüfung stand. Nach den eingeholten Befundberichten von Dr. med. P. vom August 2021 und März 2022 handele es sich um Verordnungen, die zwar sinnvoll, aber nicht notwendig bzw. wirtschaftlich gewesen seien. Die beklagte Krankenkasse dürfe diese Leistungen mithin nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Dies gelte zur Überzeugung der Kammer auch für den mit Privatrezept vom 02.10.2019 verordneten Aquacel Verband. Denn zu diesem Zeitpunkt sei die Verordnung lediglich auf Wunsch des Klägers ohne Vorstellung in der Praxis erfolgt. Erst am 18.10.2019 habe sich der Kläger zur Untersuchung bei Dr. med. P. vorgestellt, worauf eine begrenzte Menge Aquacel als notwendig, hinreichend und wirtschaftlich erachtet und dementsprechend auf Kassenrezept verordnet worden sei. Eine Verordnung von Octenisept auf Kassenrezept wäre gemäß Anlage I Nr. 8 der AM-RL zwar zur Selbstbehandlung schwerwiegender generalisierender blasenbildender Hauterkrankungen möglich. Allerdings hätte hierzu eine entsprechende Diagnose in der Verordnung angegeben werden müssen, woran es hier fehle. Auch sei nicht ersichtlich, dass eine entsprechende Diagnose vorläge. Die auf Privatrezept ausgestellte Verordnung von Dr. med. P. vom 24.09.2019 (8 x Medihoney) sei bereits Gegenstand des Verfahrens S 7 KR 1983/19 gewesen. Dr. med. P. sei dort irrtümlich davon ausgegangen, dass eine Verordnung von Medihoney zulasten der Krankenkasse prinzipiell nicht möglich sei, weshalb er ein Privatrezept ausgestellt habe. Dies habe sich als unrichtig und die konkrete Verordnung als notwendig und wirtschaftlich erwiesen. Die Kosten seien daher von der Beklagten getragen worden. Eine nochmalige Kostenerstattung könne der Kläger nicht verlangen. Soweit der Kläger auf die mit Quittungen vom 06. und 18.09.2019 belegte Selbstbeschaffung von Medihoney verweise, fehle es hierzu an der Vorlage der erforderlichen ärztlichen Verordnung. Im Übrigen sei weder ersichtlich noch dargetan, weshalb ein Ulcus cruris – selbst wenn man hypothetisch den Nachweis einer Mitochondriopathie unterstellen würde – nur mit den begehrten Verbandmitteln habe behandelt werden können.

Soweit dem streitigen Erstattungsbetrag von 1.447,74 € ansonsten lediglich Rechnungen bzw. Quittungen zugrunde lägen, scheitere eine Kostenerstattung schon am Fehlen einer ärztlichen Verordnung. Im Übrigen scheide eine reguläre Verordnung von Arzneimitteln der Anthroposophie und Homöopathie aufgrund von Mitochondriopathie ohnehin aus, weil in der Anlage I zur Arzneimittel-Richtlinie mitochondriale Stoffwechselerkrankungen nicht als Indikationsgebiete aufgeführt seien. Als Anspruchsgrundlage für die Verschreibung von Arzneimitteln zur Behandlung einer Mitochondriopathie kämen damit nur § 2 Abs. 1a SGB V sowie die Grundsätze für einen Off-Label-Use (vgl. BSG, Urteil vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R – juris, Rn. 16 ff.) in Betracht. Auf ein Systemversagen oder vergleichbare Fallgestaltungen (§ 2 Abs. 1a SGB V, Grundsätze für einen Off-Label-Use) könne sich der Kläger allerdings nicht mit Erfolg berufen. Denn schon das Vorliegen einer mitochondrialen Stoffwechselstörung, welche aus Klägersicht die Notwendigkeit der fraglichen Arznei- und Verbandmittel begründe, sei nicht im erforderlichen Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen.

Das Sozialgericht hat unter Verweis auf das neurologische Gutachten von Prof. Dr. med. D. vom 10.01.2017 ausgeführt, dass mangels abgeschlossener Diagnostik in Bezug auf die mitochondriale Erkrankung die Notwendigkeit diesbezüglicher Verordnungen nicht hergeleitet werden könne. Dies gehe zu Lasten des Klägers, dem im Zweifel der Nachweis der Notwendigkeit der streitigen Behandlung obliege. Es sei seine Sache, die nach allgemein anerkanntem Stand der Wissenschaft erforderlichen Untersuchungen zur Feststellung einer Mitochondriopathie durchführen zu lassen. Im Verfahren L 1 KR 42/20 habe er indessen den erforderlichen Untersuchungen zum Nachweis einer mitochondrialen Erkrankung nicht zugestimmt, sondern sich nur mit einer Blutentnahme einverstanden erklärt.

Hinsichtlich der für den Nachweis einer mitochondrialen Erkrankung erforderlichen Untersuchungen hat das Sozialgericht auf die Ausführungen von Prof. Dr. med. S. vom 30.06.2020, auf das Gutachten von Prof. Dr. med. D. sowie auf die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie bzw. der AWMF verwiesen. Soweit der Kläger andere Nachweise für ausreichend erachte, könne dies angesichts der vorliegenden gutachterlichen Ausführungen nicht nachvollzogen werden. Insbesondere greife der Einwand des Klägers nicht, dass es sich bei der Mitochondriopathie um eine Stoffwechselstörung und somit um eine internistische Erkrankung handele, während Prof. Dr. med. D. und Prof. Dr. med. S. die Krankheit nur vom nicht einschlägigen neurologischen Standpunkt betrachtet hätten. Die Sachverständigen hätten sich bei ihren Ausführungen auf die AWMF-S1-Leitlinie „Mitochondriale Erkrankungen“ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie bezogen. Dort würden die biologischen, histologischen und genetischen Grundlagen (Kap. 2.2) und der multisystemische Charakter der Erkrankungen (Kap. 1) erläutert. Gemeinsames Kennzeichen der Erkrankungen seien demnach Störungen im Bereich mitochondrial lokalisierter Stoffwechselwege, die sich häufig mit einer neurologischen Symptomatik präsentierten (Kap. 2.1). Dies sei genau das Krankheitsbild, das der Kläger beschreibe. Es bestehe daher zur Überzeugung der Kammer keine Notwendigkeit, den Sachverhalt nochmals internistisch zu beurteilen. 

Der Kläger hat gegen den ihm am 21.04.2022 zugestellten Gerichtsbescheid am 11.05.2022 vor dem Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt. Das Sozialgericht hätte ein internistisches Gutachten zur Klärung des Zusammenhangs der Mitochondriopathie mit dem Ulcus cruris einholen müssen. Der streitige Bescheid berücksichtige seine besondere Situation mit Pflegebedürftigkeit und Mobilitätseinschränkungen nicht. Ein Betrag von 48 € befinde sich nicht in den von ihm eingereichten Unterlagen. Es könne vorkommen, dass Apotheken auch anderes quittierten. Für homöopathische Arzneimittel habe er keine Erstattung beantragt. Im Übrigen habe er nur beantragt, was durch ärztliche Verordnung unterlegt sei. Die Beklagte habe ihm 4,5 % des im Berufungsantrag genannten Betrages zu erstatten, da der Eigenanteil eines Versicherten mit 1 % des verfügbaren Einkommens gesetzlich festgelegt sei. Ein Ausschluss seltener Krankheiten aus der kassenärztlichen Versorgung sei gesetzlich nicht geregelt. 

Es sei ein internistisches Sachverständigengutachten einzuholen dazu, ob bei ihm infolge genetischer Defekte ein alle Gewebe- und Organfunktionen betreffendes dauerbehandlungsbedürftiges Erschöpfungssyndrom sowie eine Pharmasensibilität bestehen und bestimmte Nahrungsergänzungsmittel zur Krankheitslinderung erforderlich sind (Bl. 158 f). Es gehe bekannterweise nicht nur um die internistische Mitochondriopathie, sondern auch um die Auswirkungen des Chronischen Erschöpfungssyndroms (Chronisches Fatigue-Syndrom - CFS), wozu es bislang keine Ermittlungen von Amts wegen gebe.

Ferner sei er auf die privatärztliche Behandlung angewiesen, da keine kassenärztliche Behandlungsmöglichkeit seiner schweren alle Zellen im Körper mit Mitochondrien betreffenden mitochondrialen Stoffwechselstörungen mit Pharmasensibilität bei genetisch bedingtem CFS existiere.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gießen vom 13.04.2022 sowie den Bescheid vom 05.06.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2020 aufzuheben und die Beklagte zur Kostenerstattung in Höhe von 1.447,74 € zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend. 

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist unbegründet. 

Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 13.04.2022 abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 05.06.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat insoweit gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Bezug auf die zutreffenden Entscheidungsgründe der erstinstanzlichen Entscheidung. Sie sind überzeugend und würdigen die fallentscheidenden Aspekte vollständig.

Der Vortrag im Berufungsverfahren begründet keine andere Entscheidung.

Auch der Senat sieht sich bei der vorliegenden Sach- und Rechtslage zur Einholung eines internistischen Sachverständigengutachtens nicht veranlasst. Die Voraussetzungen für eine - wie vom Kläger beantragte - Aussetzung des Verfahrens aufgrund der beim Bundesozialgericht anhängige Nichtzulassungsbeschwerde B 1 KR 27/24 B liegen nicht vor (§ 114 SGG). 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
 

Rechtskraft
Aus
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