L 4 KR 20/25 B ER

Sozialgericht
SG Hannover (NSB)
1. Instanz
-
Aktenzeichen
S 2 KR 923/24 ER
Datum
-
2. Instanz
-
Aktenzeichen
L 4 KR 20/25 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
 

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 3. Januar 2025 aufgehoben.

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragsteller mit einem weiteren Therapieversuch mit einer IgG-Substitution von 6 Zyklen zu versorgen.

Im Übrigen wird die Beschwerde des Antragstellers zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat 75% der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Instanzen zu erstatten.

Gründe

I.

Der Antragsteller (ASt) begehrt von der Antragsgegnerin (AGin) die Kostenübernahme für eine weitere therapeutische Versorgung mit hochdosierten Immunglobulinen (IgG-Substitution), vorzugsweise bei Dr. H. in Berlin, vorliegend im Wege Einstweiligen Rechtsschutzes. Ein erster Therapieversuch (3 Zyklen) war vom erkennenden Senat zugesprochen worden, ein zweiter (3 Zyklen = insgesamt 6 Zyklen) im Anschluss von der AGin anerkannt worden.

Der im Jahr 1967 geborene ASt ist bei der AGin gesetzlich krankenversichert und leidet seit Jahren unter zahlreichen Erkrankungen, u.a.

  • Zustand nach Nierentransplantation,
  • Chronic Fatique Syndrom (CFS),
  • schwere Gangstörung mit Rollstuhlabhängigkeitsphasen.

 

Es besteht ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 v.H. Der ASt erhält eine teilweise Erwerbsminderungsrente und ergänzend Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) .

Das Erkrankungsbild des ASt ist progredient. Inzwischen ist aufgrund eines Gutachtens vom 12.6.2021 seit dem 1.12.2021 dem ASt der Pflegegrad 3 sowie das Merkzeichen aG zuerkannt, ihm ist ein Leichtkraftrollstuhl vertragsärztlich rezeptiert, bei Angabe der Diagnosen Osteoporose, Gangstörung, Z.n. Nierentransplantation.

Das Erkrankungsbild des CFS gilt bundesweit diagnostisch und therapeutisch nicht als gesichert (siehe etwa die Nachweise in Medizinreport: Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom: Interdisziplinär versorgen. Scheibenbogen, Carmen; Bellmann-Strobl, Judith; Reißhauer, Anett; Maier, Andrea; Veauthier, Christian; Schmidt, Diego; Behrends, Uta.; Deutsches Ärzteblatt online 20/2023).

Vor diesem Hintergrund erkannte der Senat dem Antragsteller mit Beschluss vom 14.2.2024 (L 4 KR 507/23 B ER) einen Anspruch zu auf Versorgung mit einem Therapieversuch in 3 Zyklen mit hochdosierten Immunglobulinen (IgG) unter Anwendung des § 2 Abs. 1a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) mit der Begründung einer für den Therapieversuch vorliegenden ausreichenden Mindest-Evidenz. – Der Beschluss des Senats erging unter den hier Beteiligten und ist deshalb bekannt.

In der Folge des Beschlusses bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller nicht nur die im Beschluss vorgesehene Versorgung mit 3 Zyklen des Therapieversuchs (Genehmigung vom 20.2.2024), sondern die Versorgung mit 3 weiteren Zyklen (Genehmigung vom 10.7.2024, nicht: vom 29.7.2024, so jedoch von Klägerseite benannt). Eine darüber hinaus gehende Versorgung mit erneuten Zyklen hat die Antragsgegnerin abgelehnt (Entscheidung vom 15.11.2024).

Der ASt stellte unter dem 13.12.2024 bei der AGin den Antrag auf erneute Versorgung mit der individuellen Infusionstherapie, nunmehr als „Dauertherapie“. Zur Glaubhaftmachung der medizinischen Sachlage fügte er den Zwischenbericht des behandelnden Arztes Prof. Dr. H. (Berlin) vom 13.12.2024 bei, wonach der bisherige klinische Verlauf (Substitutionstherapie alle 4 bis 6 Wochen) subjektiv und objektiv erfolgreich gewesen sei. Aus ärztlicher Sicht solle die Therapie unverändert fortgeführt werden. Eine Alternativ-Therapie existiere nicht. Ohne die Therapie sei ein Rezidiv nicht vermeidbar und die langfristigen weiteren Komplikationen nicht voraussehbar.

Noch bevor die AGin, die den MD mit einer Stellungnahme beauftragt hatte, über den Antrag entschieden hat, hat der ASt am 23.12.2024 beim Sozialgericht (SG) Hannover beantragt, die AGin (erneut) im Wege einstweiligen Rechtsschutzes zur individuellen Infusionstherapie zu verpflichten, nunmehr als „Dauertherapie“. Die medizinische Notwendigkeit und die sog. Mindest-Evidenz seien in Entscheidungen des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen bereits festgestellt worden, konkret betreffend die IgG-Substitutions-Therapie im Beschluss vom 14.2.2024. – Der ASt beantragte gleichzeitig Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung des Rechtsanwalts (RA) Schröder aus Hamburg.

Die AGin erklärte gegenüber dem SG mit Schriftsatz vom 30.12.2024, dass die Sache noch beim MD vorliege und die Fristen des § 13 Abs. 3a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) noch nicht abgelaufen seien.

Das SG hat den Antrag des ASt auf einstweiligen Rechtsschutz mit Beschluss vom 3.1.2025 abgelehnt und zur Begründung im Einzelnen ausgeführt:

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) seien einstweilige Anordnungen bei der Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheine (Regelungsanordnung). Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setze in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Vorliegens eines materiell-rechtlichen Anspruchs auf die Leistung, zu der der AG im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden solle, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile begründe, voraus. Sowohl der Anordnungsanspruch als auch der Anordnungsgrund seien gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft zu machen. Dabei dürfe die einstweilige Anordnung wegen des summarischen Charakters des Verfahrens im einstweiligen Rechtsschutz grundsätzlich nicht die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen. Im Hinblick darauf, dass einstweilige Anordnungen den Zweck verfolgten, zu verhindern, dass Rechte des Betroffenen durch Zeitablauf vereitelt würden, sei eine Anordnung mit Rücksicht auf die eintretenden wesentlichen Nachteile nur dann erforderlich, wenn es nach den Umständen des Einzelfalls für den ASt unzumutbar sei, ihn auf eine Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren zu verweisen. Dagegen diene eine einstweilige Anordnung nicht dazu, zu Lasten anderer Beteiligter der Hauptsacheverfahren eine schnellere Entscheidung zu erlangen (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28.8.2006, L 6 B 200/06 AS).

 

Vorliegend lägen diese Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht vor. Der ASt habe bereits keinen Anordnungsgrund, d.h. die Eilbedürftigkeit der Sache, glaubhaft gemacht. Es sei nicht ersichtlich und weder dargelegt noch glaubhaft gemacht, weshalb es dem ASt nicht möglich und zumutbar sein sollte, bezüglich der beantragten IVIG-Dauertherapie den Ausgang des Hauptsacheverfahrens oder zumindest die Entscheidung der AGin über seinen Antrag vom 13.12.2024 abzuwarten. Dass ohne den sofortigen Beginn der Dauertherapie akute Lebensgefahr oder schwere irreversible Gesundheitsschäden drohten, sei nicht glaubhaft gemacht. Dabei gehe die Kammer davon aus, dass die AGin innerhalb der Fristen des § 13 Abs. 3a SGB V unter Einschaltung des MD über den Antrag entscheiden werde. Ein Abwarten dieser Entscheidung sei dem ASt zumutbar. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes diene nicht dazu, die Prüfung des medizinischen Sachverhalts durch die AGin zu umgehen und deren Entscheidung vorwegzunehmen, wenn akute Lebensgefahr oder die Gefahr schwerer irreversibler Gesundheitsschäden nicht erkennbar seien.

 Daneben hat das SG mit Beschluss (ebenfalls) vom 3.1.2025 den Antrag auf PKH abgelehnt und zur Begründung auf die nicht hinreichende Erfolgsaussicht ausweislich des Beschlusses vom selben Tage im ER-Verfahren verwiesen.

Gegen die beiden ihm am 8.1.2025 zugestellten Beschlüsse richten sich die vom ASt am 13.1.2025 beim LSG eingelegten Beschwerden, mit denen der ASt ergänzend geltend macht:

Die letzte IVIG-lnfusion habe er am 9.10.2024 erhalten, seitdem habe sich sein Gesundheitszustand drastisch verschlechtert. Erschöpfungsbedingt sei er praktisch wieder bettlägerig mit starker Atemnot. Daneben hätten sich die Entzündungen in Gelenken, Rücken und Darm wieder eingestellt, wobei speziell die Darmentzündungen unmittelbar lebensbedrohlich seien, da sie jederzeit auf die TX-Niere (transplantierte Niere, Anm. des Senats) übergreifen und damit zum Tode führen können. Ab Anfang Dezember seien dann wieder Tageslichtempfindlichkeit mit dauerhaft geschwollenen Augen und erhebliche Konzentrationsprobleme aufgetreten. Sämtliche dieser Symptome seien in der Testphase von April bis Oktober 2024 wirksam verhindert worden, insbesondere sei ein Zustand ohne Dauerschmerz und ohne ständiges Erstickungsgefühl erreicht worden. Zur Glaubhaftmachung des medizinischen Kausalverlaufs benennt der ASt als „Zeugen“:

  • I.,
  • J.,
  • K..

Zu den begehrten Fahrkosten bleibe zu ergänzen, dass die Behandlungen in der MHH trotz räumlicher Nähe zum Wohnort des ASt erheblich teurer seien als die Behandlungen bei Prof. Dr. H. in Berlin, da der Behandler keine Behandlungskosten geltend mache.

Der erkennende Senat hat dem ASt im Beschluss vom 16. Januar 2025 PKH zugesprochen unter Beiordnung von RA L. (Hamburg) und zur Begründung ausgeführt, dass sich der Senat angesichts der dem Senat aufgrund etlicher Beschwerde- und Berufungsverfahren und dabei erlassener Entscheidungen bekannten Erkrankungsentwicklung des ASt ausnahmsweise auch im hier anhängigen Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz (wie schon in früheren Verfahren) zur Beweiserhebung gedrängt fühlt.

Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich, betreffend die Anzahl der begehrten Zyklen im Schriftsatz vom 6.3.2025,

  1. den Beschluss des SG Hannover vom 3.1.2025 aufzuheben,
  2. die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für eine Fortsetzung der Therapie mit einer IgG-(Immunglobulin)-Substitution bei Dr. H. in Berlin gemäß ärztlicher Bescheinigung vom 13.12.2024 zzgl. notwendiger Fahrtkosten von Langenhagen nach Berlin zu übernehmen, für die Anzahl von 12 Zyklen.

Die Antragsgegnerin stellt keinen förmlichen Antrag.

                    

Die Antragsgegnerin hat nicht weiter vorgetragen.

Der erkennende Senat hat eine umfangreiche Aufklärungs- und Hinweis-Verfügung erlassen zu Fragen des Streitgegenstandes, der Antragstellung und des § 13 Abs. 3a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V).

Die AGin hat zu § 13 Abs. 3a SGB V ausgeführt,

 
   


dass der vorl. streitige Antrag des ASt 13.12.2024 bei ihr eingegangen sei. Am 23.12.2024 habe die AGin über die Einschaltung des MD informiert, weshalb die Fünfwochenfrist nach § 13 Abs. 3a SGB V heranzuziehen sei. Die Frist ende mithin am 18.1.2025. Zwar sei die ablehnende Entscheidung erst am 8.2.2025 erfolgt, gleichwohl sei jedoch keine Genehmigungsfiktion nach der Rechtsprechung des BSG eingetreten, da diese keinen Sachleistungsanspruch begründe, eine Erstattung nicht geltend gemacht werde und auch kein Nachweis über eine Vorauszahlung erbracht sei. Jedenfalls bestehe spätestens seit dem 8.2.2025 Bösgläubigkeit.

 

Daneben hat sich der erkennende Senat zur Beweiserhebung (Glaubhaftmachung) gedrängt gefühlt und Auskünfte eingeholt bei den den ASt behandelnden Ärzten

  • I.,
  • J.,
  • K.

mit Fragen

  • zum aktuellen Gesundheitszustand des ASt sowie
  • der kausalen Auswirkung bzw. der Beendigung der insgesamt 6 Zyklen IgG-(Immunglobulin)-Substitution auf den Gesundheitszustand des ASt.

Dr. M. führt in seinem Befundbericht vom 13.3.2025 im Näheren aus, der ASt habe von den Zyklen mit Privigen-lnfusion in der Gesamt-Symptomatik deutlich profitiert (wird im Einzelnen beschrieben) und sei zur Erhaltung des verbesserten Erkrankungs-zustandes auf die Fortsetzung der Infusionen angewiesen. Prof. Dr. H. erklärt in seinem Befundbericht (ohne Datum, Eingang am 11.3.2025), dass die IgG-Gaben zur Stabilisierung des klinischen Erkrankungsverlaufs geführt habe und diese Stabilisierung auch ausschließlich durch weitere IgG-Gaben aufrecht zu erhalten sei. Der behandelnde Allgemeinarzt Heindorf erklärt in seinem Befundbericht vom 13.3.2025, dass nach den Zyklen neben der Verbesserung der Gesamt-Symptomatik vor allem eine deutliche Besserung der Entzündungs-Symptomatik aufgefallen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der AGin Bezug genommen. Sie haben der Entscheidung zugrunde gelegen.

II.

Die Beschwerde des ASt ist gem. §§ 172 f. Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und zulässig.

Die Beschwerde ist auch zum weit überwiegenden Teil begründet, im Übrigen unbegründet.

Zu den Voraussetzungen der vorliegend allein maßgeblichen verfahrensrechtlichen Norm des § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG (sog. Regelungsanordnung) wird auf die zutreffende Darstellung im angefochtenen Beschluss des SG Hannover verwiesen und von einer weiteren Darstellung abgesehen, § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG.

Abweichend zu der Entscheidung des SG ergibt sich ein nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG erforderlicher Anordnungsanspruch für den ASt jedoch aus § 2 Abs. 1a SGB V (individualbasierte Medizin; alle Rechtsgrundlagen aus evidenzbasierter Medizin scheiden bei CFS-Erkrankungen – bislang noch – aus).

Zu § 2 Abs. 1a SGB V schließt der erkennende Senat - im vorliegenden Verfahren auf fortgesetzte Versorgung mit einer hochdosierten Immunglobulin-Therapie - inhaltlich an seinen vorausgegangenen Beschluss vom 14.2.2024 (L 4 KR 507/23 B ER) an.

Im Beschluss vom 14.2.2024 hat der Senat einen Anspruch auf Versorgung mit einem Therapieversuch in 3 Zyklen mit hochdosierten Immunglobulinen unter Anwendung des § 2 Abs. 1a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) zugesprochen und zur Begründung ausgeführt, dass die erforderliche sog. Mindest-Evidenz für den dort beantragten Therapieversuch von 3 Zyklen nach summarischer Prüfung gegeben sei. Der Senat hat die Mindest-Evidenz mit der Begründung als ausreichend angesehen für den Therapieversuch, weil Studien aus Norwegen und Deutschland eine hinreichende Wirksamkeit für die Rechtfertigung der Durchführung einer placebokontrollierten Prüfung ergaben (nichtplacebokontrollierten Phase-II-Studie vom Januar 2023 in Norwegen; Proof-of-Concept-Studie des Instituts für Medizinische Immunologie an der Universitätsmedizin Berlin – Charité – , Leitung von Frau Prof. Dr. N. aus 2021, als Grundlage einer sich anschließenden RCT-Studie). Wegen der näheren Einzelheiten wird auf S. 13 – 15 des den Beteiligten bekannten Beschluss verwiesen.

Für das vorliegende Verfahren auf fortgesetzte Versorgung mit einer hochdosierten Immunglobulin-Therapie stellt sich die Prüfung der Mindest-Evidenz in erneut summarischer Vorgehensweise wie folgt dar:

Der Senat kann zugunsten der AGin offenlassen, ob sich die im vorausgegangenen Beschluss vom 14.2.2024 (L 4 KR 507/23 B ER) betreffend IgG-Infusionen als Therapieversuch vom Senat bejahte Mindest-Evidenz für den Fall des ASt bereits dadurch bestätigt hat, dass anlässlich des vorliegenden ER-Verfahrens – und damit zeitaktuell - die vom Senat befragten behandelnden Ärzte eindeutig und uneingeschränkt eine positive Wirkung der stattgehabten Infusionen auf das Erkrankungsbild des ASt bestätigt haben:

Dr. M. führt in seinem Befundbericht vom 13.3.2025 aus, der ASt habe insgesamt 6 Zyklen mit Privigen-lnfusion erhalten. Bei regelmäßiger Durchführung der Infusion zeigten sich signifikante Verbesserungen der Symptomatik bis hin zu annähernder Symptomfreiheit an manchen Tagen. Die Infusionen hätten nicht nur die physische und mentale Gesundheit des Patienten verbessert, es habe auch eine Reduzierung der Lichtempfindlichkeit und ein gesteigertes Gehvermögen verzeichnet werden können, Spaziergänge und kurze Wanderungen seien wieder möglich, ebenso leichte sportliche Aktivitäten. Es sei für den Behandler wichtig, zu betonen, dass bei Ausbleiben oder zu großem Abstand der Privigen-Infusionen die Symptome des Patienten wieder vollständig zurückkehren dürften, was ihn u.a. wieder in den Rollstuhl führe. - Im Verlauf der Therapie habe man sich für eine zusätzliche Einnahme von Cystus Sud entschieden, was (ausschließlich) die Gelenkschmerzen des ASt deutlich verbessert habe.

Auch Prof. Dr. H. erklärt in seinem Befundbericht (ohne Datum, Eingang am 11.3.2025), dass die IgG-Gaben zur Stabilisierung des klinischen Erkrankungsverlaufs geführt habe und diese Stabilisierung auch ausschließlich durch weitere IgG-Gaben aufrecht zu erhalten sei.

Der behandelnde Allgemeinarzt O. erklärt in seinem Befundbericht vom 13.3.2025, dass nach den Zyklen neben der Verbesserung der Gesamt-Symptomatik vor allem eine deutliche Besserung der Entzündungs-Symptomatik aufgefallen sei, namentlich betreffend die Darm-Entzündungen, aber auch betreffend die Schmerz-Situation in den gefäßabhängigen Bereichen sowie der Symptomatik der arteriellen Verschlusskrankheit.

Damit sprechen nach Behandler-Angaben betreffend den ASt erhebliche Anhaltspunkte für die positive Wirkung der durchgeführten Zyklen des vom Senat zugesprochenen und von der AGin darüber hinaus bewilligten Therapieversuchs auf den Erkrankungszustand des ASt.

In der Folge dessen ist zum einen die vom Senat in seinem Beschluss vom 14.2.2024 bejahte Mindestevidenz (siehe die Nachweise zu den Anforderungen an die Mindestevidenz im vorangegangenen Beschluss des Senats vom 14.2.2024, S. 12, 13) nicht erschüttert oder auch nur in Zweifel gezogen, sondern tendenziell bestätigt worden.

Zum zweiten und vor allem aber hat eine vom Senat anlässlich des vorliegenden Verfahrens durchgeführte weitere Recherche eine Bestätigung der Mindestevidenz für IVIG-Therapien bei CFS ergeben:

Nach dem vom Bundesministerium für Gesundheit veröffentlichten Abschlussbericht zu einem review der Studienlage bei ME/CFS aus dem Jahr 2023 mit dem Titel „Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) - Aktueller Kenntnisstand“ (Projekt: N21-01 Version: 1.0 Stand: 17.04.2023, IQWiG-Berichte – Nr. 1539, Version 1.0 vom 17.04.2023; www-Zugriff bundesministerium für gesundheit am 19.2.2025) wurden zur medikamentösen Therapie (Gliederungspunkt 4.3.2.3 des abstracts) insgesamt 30 RCTs (randomisierte kontrollierte Studien, Anm. des Senats) in NICE 2021 in das Evidenzreview der Wirksamkeit medikamentöser Interventionen eingeschlossen. Dabei wurden insgesamt 6 Studien gefunden für immunmodulatorische Medikamente, nämlich Rituximab, Rintatolimod (Ampligen) sowie – vorliegend einschlägig - intravenöses Immunglobulin G (Immunglobulin G = kurz IgG).

In einer Diplomarbeit (des Facharztes für Neurologie Dr. P.) mit dem Titel: Evaluierung des Zusammenhangs zwischen myalgischer Enzephalomyelitis/chronischem Erschöpfungssyndrom und Immunveränderungen anhand einer österreichischen PatientInnenkohorte, vom 27.3.2022, ergab sich in der Diskussion, dass - wie bereits in vorangegangen Studien ersichtlich gewesen sei - es bei einigen ME/CFS-PatientInnen zu verminderten Werten der Serum-IgG-Spiegel und der einzelnen IgG-Subklassen-Spiegel gekommen sei (wird im Einzelnen ausgeführt). Resümierend belegten die Studienergebnisse die Wichtigkeit von Immunstörungen bei ME/CFS-PatientInnen und verdeutlichten die Rolle einer dysfunktionalen Immunantwort bei der Erkrankung. Immunparameter könnten daher als wichtige Biomarker bei ME/CFS fungieren. Damit könnten maßgeschneiderte Therapiemöglichkeiten entstehen und die ME/CFS-PatientInnen identifiziert werden, die auf eine immunmodulierende Behandlung ansprechen würden.

Der erkennende Senat hält daher auch im vorliegenden Verfahren an der Annahme der Mindestevidenz für die begehrte Versorgung wie bereits im Beschluss vom 14.2.2024 – erst recht – fest.

Wie ebenfalls bereits im Beschluss vom 14.2.2024 im Einzelnen ausgeführt, ist diese Mindestevidenz jedoch allein als ausreichend anzusehen für die Durchführung eines (weiteren) Therapieversuchs, nicht aber für die Durchführung einer Dauertherapie. Denn sämtliche vom Senat im Beschluss vom 14.2.2024 sowie obenstehend recherchierten Untersuchungen kommen allein zu dem Ergebnis einer wissenschaftlich begründeten Rechtfertigung von zukünftig durchführbaren weiteren, breiter angelegten Studien, nicht aber zum hinreichend evidenzbasierten Beleg der Therapie-Wirksamkeit wie etwa nach einer erfolgreichen Phase III-Studie (aus dem Beschluss vom 14.2.204: Ludwig et al., Myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom: eine Übersicht zur aktuellen Evidenz, Published: 25 January 2023 , volume 94, pages 725–733 (2023), www.link.springer.com: „Ob diese Ergebnisse einer placebokontrollierten Prüfung standhalten werden oder wie bei Rituximab und IVIg am Placebovergleich scheitern, wird sich zeigen“; "Proof-of-Concept"-Studie der Prof. Dr. N., Charitè Berlin: „….erste Beweise für die Wirksamkeit einer mittleren Dosis s.c. IgG-Behandlung und potenzielle Biomarker für das Ansprechen. Dies rechtfertigt eine RCT-Studie.“).

Der Senat spricht deshalb im vorliegenden Verfahren allein einen – weiteren – Therapieversuch zu.

Bezüglich der Anzahl der zuzusprechenden Zyklen des Therapieversuchs orientiert sich der Senat am bisherigen Geschehensablauf. Da die insgesamt 3 + 3 = 6 Behandlungszyklen nach Behandler-Angaben beim ASt positiv zu bewerten sind, sieht sich der Senat veranlasst, erneut insgesamt 6 Zyklen als Therapieversuch zuzusprechen.

Ein weitergehender Anspruch auf Versorgung kann nach den vorstehenden Ausführungen – zum jetzigen Zeitpunkt (noch) – nicht rechtlich begründet werden.

Auf einen Anspruch aus § 13 Abs. 3a SGB V kommt es nicht an.

Abzulehnen ist der weitergehende Antrag des ASt auf Übernahme der Fahrkosten zu den Zyklen (Therapieversuch). Die Voraussetzungen des maßgeblichen § 60 SGB V sind nicht glaubhaft gemacht, wozu der Senat bereits im Beschluss L 4 KR 507/23 B ER vom 14.2.2024 (zwischen den hier Beteiligten ergangen) entschieden hat. Die vorliegend geltendgemachte „Kosten-Günstigkeit“ (Behandlung in Berlin) findet in § 60 SGB V keine rechtliche Entsprechung.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG in entsprechender Anwendung. Die Kostenquote berücksichtigt im Hinblick auf den ASt nicht allein das prozentuale Teil-Obsiegen betreffend die Anzahl der Behandlungszyklen (6 statt 12; „der Höhe nach“) und das Unterliegen betreffend die Fahrkosten, sondern gewichtet den Umstand, dass die AGin jedwede weitere Versorgung mit dem beantragten Therapie-Versuch in der massiv schweren Erkrankungssituation des ASt ablehnt, der ASt also insoweit „dem Grunde nach“ obsiegt.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

E.                                                                     Dr. F.                                                              Dr. G.

 

Rechtskraft
Aus
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