S 19 AS 44/22

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
SG Lüneburg (NSB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Lüneburg (NSB)
Aktenzeichen
S 19 AS 44/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
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Kategorie
 
Leitsätze

Die Kosten der Unterkunft wähernd des Aufenthalts in einer Einrichtung für Mütter/Väter und deren Kinder (§ 19 SGB VIII) trägt der Sozialhilfeträger nach §§ 67, 68 Abs. 1 SGB XII.

  1. Die Klage gegen die Beklagte wird abgewiesen.
  2. Der Beigeladene zu 2. (Sozialhilfeträger) wird verurteilt, die für den streitigen Zeitraum 01.02.2022 bis 14.10.2022 angefallenen Kosten der Unterkunft und Heizung, zu übernehmen.
  3. Der Beigeladene zu 2. (Sozialhilfeträger) trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Kosten der Unterkunft und Heizung ab Februar 2022 bis 14. Oktober 2022. Seit dem 15. Oktober 2022 steht die Klägerin wieder im Leistungsbezug bei der Beklagten. Im Parallelverfahren (S 19 AS 73/22) ist eine Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung über Leistungen für die Zeit vom 18. November 2021 bis Januar 2022 streitig.

Die J. geborene Klägerin, die damals und heute rechtlich nach § 1814 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) betreut wird, bezog bis einschließlich 17. November 2021 Leistungen nach dem SGB II von der Beklagten. Bei der Leistungsbewilligung erkannte die Beklagte diese die hälftigen der tatsächlich anfallenden Kosten der Unterkunft und Heizung als Bedarf an und bewilligte; der Lebenspartner bewohnte die Wohnung zusammen mit der Klägerin. Am 12. November 2021 wurde die gemeinsame Tochter als das zweite Kind der Klägerin geboren. Das erste Kind wuchs in einer Pflegefamilie auf. Ab dem 18. November 2021 nahm die Klägerin an einer Maßnahme der Jugendhilfe zur Förderung der Erziehung in der Familie teil und besuchte hierfür bis 15. Oktober 2022 eine gemeinsame Wohnform für Mütter/Väter und Kinder, die im Nachbarlandkreis ihre Räumlichkeiten hatte, nach § 19 SGB VIII. Die Klägerin und ihr Kind besuchten den Lebensgefährten bzw. Vater an den Wochenenden und zogen nach Beendigung der Maßnahme wieder in die gemeinsame Wohnung ein.

Zum 18. November 2021 zog die Klägerin in die Mutter-Vater-Kind-Einrichtung des Beigeladenen zu 1).

Mit Bescheid vom 27. November 2021 änderte die Beklagte die Leistungsgewährung für die Zeit ab 1. Januar 2022 bis einschließlich August 2022 wegen der Regelsatzerhöhung zum Jahresbeginn ab. Die Höhe der bewilligten Kosten der Unterkunft und Heizung änderte sich nicht.

Mit Schreiben vom 15. Dezember 2021 teilte die zuständige Sozialarbeiterin des Beigeladenen zu 1) (dem Jugendhilfeträger) der Beklagten mit, dass sich die Klägerin seit dem 18. November 2021 mit ihrer Tochter in einer Einrichtung der Jugendhilfe gemäß § 19 SGB VIII aufhalte. Die Jugendhilfemaßnahme sei zur Sicherung des Kindeswohls notwendig. Die Mitteilung enthielt auch die Information, dass die Klägerin perspektivisch wieder in ihren eigenen Wohnraum zurückziehen solle, es aber schwer abzuschätzen sei, wie lange die Maßnahme dauern werde.

Mit am 24. Januar 2022 erlassenen – hier streitigen – Bescheid hob die Beklagte den „Bewilligungsbescheid vom 29. Juli 2020“ für die Zeit ab 1. Februar 2022 vollständig auf.

Daneben hob sie mit dem im Parallelverfahren (S 19 AS 73/22) streitgegenständlichen Bescheid vom 8. Februar 2022 die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II für die Zeit ab 18. November 2021 bis einschließlich 31. Januar 2022 auf und forderte die bis dahin bewilligten Leistungen für den Monat November teilweise und für die Monate Dezember 2021 und Januar 2022 vollständig zurück, betreffend die Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 717,11 €.

Die Klägerin legte hiergegen, vertreten durch ihren rechtlichen Betreuer, jeweils Widersprüche ein. Sie begründete dies damit, dass sie nur vorübergehend an der Maßnahme teilnehmen werde und nach Abschluss in ihre Wohnung zurückkehren müsse, weshalb sie sich gegen die Aufhebung der bewilligten Kosten der Unterkunft wende.

Den Widerspruch gegen die Aufhebungsentscheidung für die Zeit ab 1. Februar 2022 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1. Februar 2022 zurück. Sie begründete dies damit, dass Bedarfe für Unterkunft und Heizung nur für eine tatsächlich bewohnte Wohnung gewährt werden könnten. Für eine nicht genutzte Wohnung erfolge keine Kostenübernahme.

Gegen den Bescheid vom 24. Januar 2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Februar 2022 erhob die Klägerin am 9. Februar 2022 Klage.

Mit Bescheid vom 13. April 2022 lehnte der Beigeladene zu 2) – der Sozialhilfeträger – die Übernahme der Mietkosten ab. Er begründete dies damit, dass Leistungen nach dem SGB VIII gemäß § 10 Abs. 4 Satz eins SGB VIII vorrangig sein. Leistungen nach § 67 ff SGB XII könnten nicht gewährt werden, da auch diese Leistungen nach dem SGB VIII in der aktuellen Lebenslage durch die Jugendhilfe gesichert würden und die Klägerin darin unterstützt werde, dass besondere Lebensverhältnisse verbunden mit sozialen Schwierigkeiten in der bei Entlassung aus der Mutter-Kind-Einrichtung zu erwartenden Situation vermieden würden.

Am 1. Juni 2022 fand ein Hilfeplangespräch statt, in dem die Weiterbewilligung der Maßnahme nach § 19 SGB VIII bis 30. November 2022 vereinbart wurde.

Mit Beschluss vom 20. Juni 2022 hat das Gericht den Landkreis K. als Träger der Leistungen nach dem SGB VIII [Beigeladener zu 1)] und dem SGB XII [Beigeladener zu 2)] beigeladen.

Mit Schreiben vom 28. Juni 2022 teilte die zuständige Sozialarbeiterin des Beigeladenen zu 1) dem rechtlichen Betreuer der Klägerin erneut mit, dass es notwendig sei, dass die Übernahme der Mietkosten weiterhin gesichert sei.

Die Klägerin beantragt,

wie erkannt.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beigeladenen stellen keinen Antrag.

Die Beklagte wiederholt und vertieft ihre Verteidigungshaltung. Ihrer Auffassung nach sei die Klägerin wegen stationärer Unterbringung vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen. Im Übrigen könnten keine Kosten für eine nicht bewohnte Unterkunft übernommen werden.

Der Beigeladene zu 1) lehnt eine Leistungsbewilligung ab, weil nach dortiger Auffassung gemäß der einschlägigen Kommentarliteratur und Rechtsprechung die Übernahme von Mietkosten während eines Aufenthalts in einer Einrichtung nach § 19 SGB VIII nicht möglich sei.

Der Beigeladene zu 2) ist der Auffassung, dass neben den Leistungen nach dem SGB VIII kein Raum für die Anwendung von Leistungen nach dem SGB XII bestünde.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage hat im tenorierten Umfang Erfolg. Der Beigeladene zu 2) war zur Leistung zu verurteilen.

Nach § 67 ff SGB XII sind Personen, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, Leistungen zur Überwindung dieser Schwierigkeiten zu erbringen, wenn sie aus eigener Kraft hierzu nicht fähig sind.

Der Gesetzgeber hat dabei die Arten und Weisen der Hilfen sowie der Problemlagen bewusst offen gelassen, um den Sozialhilfebehörden die Möglichkeit zu geben, auf gesetzlicher Grundlage Hilfeleistungen im Einzelfall zu gewähren, wenn dies notwendig ist und den Einsatz von Steuermitteln rechtfertigt. Auch präventive Maßnahmen gehören insoweit zu den möglichen Hilfen, § 68 Abs. 1 SGB XII.

Hintergrund ist, dass der Gesetzgeber die Schwierigkeit gesehen hat, dass sich sowohl in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen wie Erziehungswesen, Wohnungsversorgung, Krankenversorgung auf der einen Seite als auch im gegliederten Sozialleistungsystem auf der anderen Seite Verzahnungsproblematiken ergeben können. Diese können nur durch die Zurverfügungstellung von Hilfen sachgerecht aufgefangen werden, die die fehlende Koordinierung des gegliederten Sozialleistungssystems ausgleichen (vgl. hierzu Ernst-Wilhelm Luthe in: Hauck/Noftz SGB XII, 5. Ergänzungslieferung 2024, § 67 SGB 12, Rz 2).

Die vorliegende Situation ist zur Überzeugung der Kammer eine solche, in der aus der Gliederung des Sozialleistungssystems ein Koordinationsdefizit entsteht, dass nicht zu Lasten der Hilfebedürftigen aufgelöst werden darf. Ein Anspruch der Klägerin auf Übernahme Kosten der Unterkunft während des Aufenthaltes in der Mutter-Vater-Kind-Einrichtung besteht nach §§ 67, 68 Abs. 1 SGB XII. Die Klägerin befand sich in einer besonderen Lebenssituation, die sich dadurch auszeichnete, dass ihr erstgeborenes Kind bereits bei einer Pflegefamilie aufwuchs und sie kurz vor der Geburt des zweiten Kindes um Hilfe zur Erlangung von Fähigkeiten in der Sorge und Erziehung eines Kindes bat bzw. angeboten bekam, um nicht auch das zweite Kind in eine Pflegefamilie abgeben zu müssen. Den Vorschlag, für zunächst geplante sechs Monate in eine Vater-Mutter-Kind-Einrichtung zu ziehen, nahm sie daher an. Dies war auch zur Sicherung des Kindewohls notwendig. Die Verlängerung der Maßnahme wurde erst nach Ablauf der Zeit beschlossen. Hieraus resultierte die Schwierigkeit, die Familienwohnung weiterzufinanzieren. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin betont, sie hätte an der Maßnahme nicht teilgenommen, wenn niemand die Miete ihrer Wohnung übernommen hätte.

Zur Überzeugung der Kammer steht fest, dass die Klägerin an der Erziehungshilfe nicht teilgenommen hätte, wenn sich daraus eine Erschwernis im Hinblick auf die Sicherung der Familienunterkunft ergeben hätte. Gleichzeitig war die Maßnahme nach Aktenlage für das Kindeswohl notwendig. Gerade in einem solchen Fall zeigt sich das Dilemma, dass aus der Aufsplitterung der Sozialleistungssysteme entsteht. Gesellschaftlich gewollt und gefördert werden Hilfen zur Erziehung mit dem Ziel, Erziehungsfertigkeiten zu erlangen und ein Leben selbstständig und ohne bzw. mit weniger Hilfe führen zu können (LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert/Sandra Dlugosch, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 19 Rn. 7-9). Die Hilfen sollen möglichst früh – wie hier bereits vor der Geburt – angeboten werden und greifen. Die hieraus ebenfalls erwachsenden Schwierigkeiten im Hinblick auf den Erhalt einer Familienwohnung können dabei nicht unberücksichtigt bleiben. Vorliegend waren diese ausweislich der vom Beigeladenen zu 1) herangezogenen Unterlagen auch zur Sicherung des Kindeswohls notwendig. Dementsprechend war es auch vom helfenden Jugendamt für notwendig erachtet worden, dass die Unterkunft beibehalten werden kann und finanziert wird. Entsprechende Anträge wurden von dort unterstützt, wie sich aus den Schreiben der zuständigen Sachbearbeiterin ergibt.

Die Unterkunftskosten waren daher zu übernehmen. Andernfalls wäre die Erziehungshilfe abgelehnt worden und die Ausgrenzung der Klägerin aus der Gesellschaft fortgeschritten. Dies zu verhindern ist Aufgabe und Ziel der §§ 67 ff SGB XII (vgl. hierzu Ernst-Wilhelm Luthe in: Hauck/Noftz SGB XII, 5. Ergänzungslieferung 2024, § 67 SGB 12, Rz 2).

Gestützt wird diese Entscheidung durch die Rechtsprechung zur Übernahme von Kosten der Unterkunft während einer Haft bzw. im Hinblick auf eine bevorstehende Haftentlassung (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 24. Juni 2021 – L 8 SO 50/18 –; BSG, Urteil vom 12. Dezember 2013 – B 8 SO 24/12 R –, juris). Auch dabei besteht die besondere Situation, dass eine Unterkunft bezahlt wird, die vorübergehend nicht oder noch nicht bewohnt wird. Die Gerichte sehen es in einer solchen Situation als erforderliche vorbeugende Maßnahme nach §§ 67, 68 Abs. 1 SGB XII an, dass im Hinblick auf die bei Haftentlassung entstehende besondere Lebenssituation und die damit verbundenen Schwierigkeiten in tatsächlicher und finanzieller Hinsicht, eine Unterkunft im nahtlosen Übergang zu erlangen, Mietkosten für die Dauer kurzer Haft bzw. im Hinblick auf eine bevorstehende Haftentlassung übernommen werden. Die Rechtsprechung geht dabei von einem Zeitraum von bis zu einem Jahr aus.

Die Entscheidung ist auch vor dem Hintergrund der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung in diesem Kontext sachgerecht. Nach dieser Rechtsprechung hat der Träger der Jungendhilfe im Rahmen seines Hilfeangebots nur unmittelbar mit seinem Angebot zusammenhängende Kosten zu übernehmen (Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. Januar 2020 – 12 E 23/19 –; VG Aachen, Urteil vom 23. November 2010 – 2 K 1767/09 –, juris). Die Betroffenen können weitere Kosten, die im Gesamtzusammenhang notwendig sind, daher nur über die Hilfen nach §§ 67 ff SGB XII erlangen.

Die Klage gegen die Beklagte hatte keinen Erfolg, weil die Klägerin im streitigen Zeitraum in einem anderen Zuständigkeitsbezirk ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte und ihr notwendiger Lebensunterhalt bereits durch den Beigeladenen zu 2) gesichert wurde. Daneben bestand kein Raum für die Anwendung des SGB II.

Die Entscheidung zu den Kosten ergibt sich aus §§ 193 Abs. 1, 183 SGG. Der Beigeladene zu 2) war im Rahmen seiner Verurteilung auch zur Kostentragung heranzuziehen, § 75 Abs. 5 SGG.

Rechtskraft
Aus
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