Eine Wiedergutmachung auf andere Weise kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn das Verfahren beispielsweise für den Entschädigungskläger aus Sicht eines verständigen Dritten keine besondere Bedeutung hatte oder dieser durch sein Verhalten erheblich zur Verlängerung des Klageverfahrens beigetragen hat.
Das beklagte Land wird verurteilt, an die Klägerin wegen der überlangen Dauer des vor dem Sozialgericht Braunschweig geführten Klageverfahrens S 37 KR 371/19 eine Entschädigung i.H.v. 1.800,- € nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 6. Juli 2023 zu zahlen.
Die Kosten des Verfahrens hat das beklagte Land zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird auf 1.800.- € festgesetzt.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Entschädigung für 18 Monate unangemessene Dauer eines vor dem Sozialgericht Braunschweig (SG) unter dem Az: S 37 KR 371/19 geführten Klageverfahrens.
Streitgegenstand des Verfahrens war die Frage der Rechtmäßigkeit der rückwirkenden Beendigung der Familienversicherung der Kinder der Klägerin –H. und I. – zum 31. März 2019 (Bescheid vom 30. April 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. November 2019). Gegen diese Entscheidung hatte die Klägerin gegen die beklagte Krankenkasse am 2. Dezember 2019 Klage bei dem Sozialgericht (SG) Braunschweig eingereicht. Mit Urteil vom 17. April 2023, dem Prozessbevollmächtigtem der Klägerin zugestellt am 12. Juni 2023, hatte das SG die Klage abgewiesen.
Mit Schreiben vom 6. Juni 2023 hat die Klägerin das beklagte Land außergerichtlich zur Zahlung einer Entschädigung i.H.v. 1.800.- € wegen der Verzögerung des Verfahrens S 37 KR 371/19 in einem Umfang von 18 Monaten aufgefordert und hierfür eine Frist zum 5. Juli 2023 gesetzt. Das beklagte Land hat die Forderung der Klägerin mit Schreiben vom 4. Juli 2023 zurückgewiesen; zwar sei es zutreffend, dass das Sozialgericht über 30 Monaten inaktiv gewesen sei, so dass sich abzüglich der üblicherweise zu Grunde zu legenden Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit von 12 Monaten eine überlange Verfahrensdauer von 18 Monaten ermitteln lasse. Ein Entschädigungsanspruch der Klägerin bestehe aber deshalb nicht, weil ihr erkennbar kein immaterieller Nachteil entstanden sei. Die Klägerin habe ihre Mitgliedschaft bei der beklagten Krankenkasse im Sommer 2020 mit Wirkung zum 1. Dezember 2020 gekündigt. Mithin habe festgestanden, dass ihre Kinder ab dem 1. Dezember 2020 – und damit vor Eintreten einer überlangen Verfahrensdauer – bei der beklagten Krankenkasse ohnehin nicht mehr familienversichert gewesen wären. Außerdem habe die Klägerin dem Verfahren offensichtlich selbst keine besondere Bedeutung beigemessen, was schon daran erkennbar sei, dass sie sich nicht nach dem Fortgang des Verfahrens erkundigt habe. Sie habe die lange Untätigkeit des Gerichts offensichtlich geduldet.
Am 6. Dezember 2023 hat die Klägerin Klage auf Entschädigung wegen unangemessener Dauer des Verfahrens S 37 KR 371/19 erhoben. Das Klageverfahren habe unstreitig eine ungerechtfertigte Überlänge von 30 Monaten gehabt; unter Berücksichtigung einer pauschalen Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten ergebe sich eine entschädigungspflichtige Verzögerung von 18 Monaten. Ihr sei für jeden Monat der unangemessenen Dauer für die von ihr erlittenen Nachteile eine Entschädigung in Geld in Höhe von EUR 100,00 monatlich zuzusprechen. Mit der Zahlung der Entschädigung befinde sich das beklagte Land seit dem 5. Juli 2023 in Verzug, so dass sie auch Anspruch auf Zinsen ab dem 6. Juli 2023 habe. Sachstandsanfragen würden nach der Erfahrung ihres Prozessbevollmächtigten von den Sozialgerichten in der Regel unergiebig beantwortet werden; letztlich werde mit ihnen zum Ausdruck gebracht, man möge von Sachstandsanfragen absehen.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
das beklagte Land zu verurteilen, an sie infolge unangemessener Dauer des Gerichtsverfahrens S 37 KR 371/19 eine Entschädigung in Höhe von 1.800,- € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 6. Juli 2023 zu zahlen.
Das beklagte Land beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
die Klage abzuweisen.
Es bezieht sich auf seine Ausführungen im vorgerichtlichen Verfahren.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogene Gerichtsakte des Ausgangsverfahrens S 37 KR 371/19 (SG Braunschweig) Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet in Anwendung von § 124 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung.
Die Klage ist zulässig. Sie ist insbesondere fristgerecht innerhalb von sechs Monaten nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils vom 17. April 2023, dem Prozessbevollmächtigtem der Klägerin zugestellt am 12. Juni 2023, am 6. Dezember 2023 erhoben worden (vgl. § 198 Abs. 5 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG).
Die Klage ist auch begründet. Der Klägerin steht wegen der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens S 37 KR 371/19 (SG Braunschweig) eine Entschädigung gemäß § 198 GVG in Höhe von insgesamt 1.800.- € zu.
1. Die Klägerin hat am 13. Dezember 2022 wirksam Verzögerungsrüge i.S. von § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG erhoben.
2. Das Verfahren vor dem Sozialgericht Braunschweig (SG) war von unangemessener Dauer i.S.d. § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG, wobei eine zwischen den Beteiligten unstreitige entschädigungspflichtige Überlänge von 18 Monaten (30 Monate inaktive Zeiten abzgl. einer dem SG zuzugestehenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten) vorliegt. Weil zu diesem Punkt Einigkeit zwischen den Beteiligten besteht, hat der Senat insoweit keinen Anlass für weitere Ausführungen.
3. Der Klägerin ist gemäß § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG für jeden Monat der unangemessenen Verfahrensdauer für die von ihr erlittenen immateriellen Nachteile eine Entschädigung in Geld in Höhe von 100,00 € monatlich zuzusprechen, da weder eine Abweichung von dieser gesetzlichen Pauschale geboten ist (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG) noch die Nachteile auf andere Weise wiedergutgemacht werden können (§ 198 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 GVG). Eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG, insbesondere durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, ist vorliegend nicht ausreichend (§ 198 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Abs. 4 GVG).
Eine Wiedergutmachung auf andere Weise kommt nach der Rechtsprechung des BSG bei festgestellter Überlänge des Gerichtsverfahrens – mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR zu Artikel 6 und Artikel 41 EMRK – allenfalls ausnahmsweise in Betracht, wenn das Verfahren beispielsweise für den Entschädigungskläger aus Sicht eines verständigen Dritten in der Lage des Klägers keine besondere Bedeutung hatte oder dieser durch sein Verhalten erheblich zur Verlängerung des Klageverfahrens beigetragen hat (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 2015, B 10 ÜG 7/14 R, juris, Rdnr.43).
Ein solcher Ausnahmefall liegt nicht vor. Zunächst lässt sich eine so unterdurchschnittliche Bedeutung des Verfahrens S 37 KR 371/19, dass eine Wiedergutmachung auf andere Weise als ausreichend angesehen werden könnte, nicht feststellen. Streitig war über viele Monate der Krankenversichertenstatus der Kinder der Klägerin, nachdem die beklagte Krankenkasse rückwirkend die Familienversicherung der Kinder zum 31. März 2019 beendet hatte; damit einhergehend war die Verpflichtung der Klägerin verknüpft, für ihre Kinder Beiträge für eine freiwillige Krankenversicherung i.H.v. ca. 190,00 € pro Kind/Monat zu bezahlen. Bei diesem Streitgegenstand handelt es sich also schon offensichtlich nicht um eine unterdurchschnittliche Bedeutung für die Beteiligten. Dem kann das beklagte Land auch nicht entgegenhalten, die Klägerin habe im Sommer 2020 ihre Mitgliedschaft und die ihrer Kinder bei der beklagten Krankenkasse mit Wirkung zum 1. Dezember 2020 gekündigt, so dass die Kinder ab dem 1. Dezember 2020 und damit vor Eintreten einer überlangen Verfahrensdauer ohnehin nicht mehr bei der beklagten Krankenkasse versichert gewesen seien. Denn zum einen ist nicht auszuschließen, dass gerade die seelisch belastende Ungewissheit über den Ausgang des Verfahrens der im Dezember 2019 erhobenen Klage auch Motivation für die Klägerin für die Kündigung der Mitgliedschaft bei der beklagten Krankenkasse zum 30. November 2020 gewesen ist; zumindest aber wird doch durch die Kündigung der Mitgliedschaft bei der beklagten Krankenkasse deutlich, dass die Frage des Krankenversichertenstatus ihrer Kinder und die damit eingehenden finanziellen Folgen die Klägerin während der Dauer des Klageverfahrens sehr wohl bewegt haben muss. Zum anderen bestand auch nach dem 30. November 2020 noch eine mehr als nur unwesentliche Bedeutung des Klageverfahrens, weil vom Ausgang dieser Klage auch die Frage abhängig gewesen ist, ob die von der Klägerin ab dem 1. April 2019 bis 30. November 2020 erhobenen Beiträge zur freiwilligen Krankenversicherung ihrer zwei Kinder, die nach Auskunft der Klägerin ca. 190,00 € pro Kind/Monat und damit also insgesamt ca. 7.600.- € betragen haben, an die Klägerin zurück zu erstatten gewesen wären.
Schließlich lässt sich dem Entschädigungsanspruch nicht mit Erfolg vom beklagten Land entgegenhalten, die Klägerin habe sich vor der Erhebung der Verzögerungsrüge nicht mit Sachstandsanfragen an das Gericht gewandt. Bei der Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG zu Lasten eines Verfahrensbeteiligten grundsätzlich nur ein Verhalten zu berücksichtigen, durch das eine Verzögerung herbeigeführt wird. Die Verfahrensbeteiligten sind, abgesehen insbesondere von der Obliegenheit zur Erhebung der Verzögerungsrüge, grundsätzlich nicht verpflichtet, aktiv darauf hinzuarbeiten, dass das Gericht das Verfahren in angemessener Zeit zum Abschluss bringt. Passivität kann ihnen daher bei der Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer nicht angelastet werden. Die Verpflichtung des Gerichts, das Verfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, ergibt sich unmittelbar aus der dem Staat obliegenden Justizgewährleistungspflicht, aus dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes und aus Art. 6 Abs. 1 EMRK. Auch der Umstand, dass die Klägerin die Verzögerungsrüge schon früher hätte erheben können, wirkt sich nicht zu ihrem Nachteil aus. Geregelt ist im Gesetz lediglich der Zeitpunkt, zu dem die Verzögerungsrüge frühestens wirksam erhoben werden kann. Ein Endtermin und damit eine Frist für die Rüge ist nicht festgelegt. Da nach dem Willen des Gesetzgebers die Geduld eines Verfahrensbeteiligten nicht bestraft werden soll, ist es nach § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG grundsätzlich unerheblich, wann die Rüge nach dem in § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG bestimmten Zeitpunkt eingelegt wird. Dadurch soll das gesetzgeberische Ziel, keinen Anreiz für verfrühte Rügen zu schaffen, verwirklicht werden (vgl. Bundesgerichtshof – BGH – Urteil vom 10. April 2014, III ZR 335/13, juris, RdNr. 31). Auch der Senat hat Entsprechendes bereits entschieden (vgl. Gerichtsbescheid des Senats vom 13. Oktober 2023, Az. L 10 SF 62/22 EK AS).
4. Der Klägerin steht gemäß § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG für jeden Monat der unangemessenen Verfahrensdauer für die von ihr erlittenen immateriellen Nachteile eine Entschädigung in Geld in Höhe von jeweils 100,00 € monatlich zu, da eine Abweichung von dieser gesetzlichen Pauschale nicht geboten ist (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG). § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG eröffnet die Möglichkeit, von der Pauschale des § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG nach oben oder unten abzuweichen. Dabei kann es stets nur um atypische Einzelfälle gehen (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 9/13 R, juris, Rn. 51). Derartige besondere Umstände sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
5. Der zuerkannte Entschädigungsbetrag ist ab Eintritt des von der Klägerin dargelegten und unbestritten gebliebenen Zahlungsverzuges des beklagten Landes – hier am 6. Juli 2023 –, in entsprechender Anwendung der § 288 Abs. 1 BGB mit 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu verzinsen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Die Festsetzung des Streitwertes ergibt sich aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 52 Abse. 1 und 3 GKG und entspricht der von der Klägerin begehrten Entschädigung.