L 8 AL 803/24

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 11 AL 2147/23
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 AL 803/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Zur Verwirkung eines Anspruchs auf (höheres) Insolvenzgeld für das Jahr 2001 im Jahr 2023.
2. Ein aktueller Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X kann wegen der Verfallsfrist in Abs. 4 dieser Vorschrift nicht zur Leistungsgewährung für außerhalb der Verfallsfrist liegende Ansprüche führen.
3. Sofern nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist der Verwaltungsakten wegen der Vernichtung der Akten nicht nachgeprüft werden kann, ob ein damals fristgerecht erhobener Widerspruch oder Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X vorliegt oder ggf. verbeschieden worden ist, kann es nicht allein maßgeblich darauf ankommen, ob ein Kläger noch in der Lage ist, einzelne ihm günstige Dokumente hierzu vorzulegen. In solchen Fällen ist vor allem auch zu prüfen, ob eine Verwirkung des geltend gemachten Anspruchs vorliegt (hier bejaht).

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 05.02.2024 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahrens nicht zu erstatten.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist im Wege des Überprüfungsverfahrens die Nachzahlung zusätzlichen Insolvenzgeldes (Insg) für den Zeitraum vom 01.05.2001 bis zum 31.07.2001 im Streit. Aufgrund des großen zeitlichen Abstands und des Ablaufs der Aufbewahrungsfristen ist die zugrundeliegende Verwaltungsakte nur noch vereinzelt dokumentiert und daher nicht mehr vollständig nachvollziehbar. 

Der 1964 geborene Kläger trat am 02.04.2001 eine Beschäftigung in der Steuerberaterkanzlei F1 in R1 an, welche auf Vermittlung der Beklagten zustande gekommen war. Der Kläger behauptet, die Beklagte habe die Zahlung von Arbeitslosengeld (Alg) an den Kläger mittels Aufhebungsbescheid vom 09.04.2001 eingestellt und stattdessen eine Beschäftigungshilfe gewährt.

In der Akte des Sozialgerichts Karlsruhe (SG) mit dem Aktenzeichen S 7 AL 2742/02 finden sich indes Bescheide der Beklagten vom 07.08.2001 und vom 06.11.2001, mit denen auf die Zahlung von Alg vom 02.04.2001 bis zum 30.06.2001 und vom 10.07.2001 bis zum 31.07.2001 Bezug genommen und die Bewilligung von Alg in diesen Zeiträumen aufgehoben wird, weil der Kläger in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden habe. Gleichzeitig wird in den Bescheiden verfügt, dass die Alg-Überzahlungen von 7.325,10 DM und 1.790,58 DM mit dem Anspruch auf Insg aufgerechnet werden (dort Bl. 41 f.).

Nachdem der Inhaber der Steuerberaterkanzlei verunglückte und der Kläger über einen längeren Zeitraum kein Arbeitsentgelt erhielt, stellte er am 19.07.2001 einen Antrag auf Insg bei der Beklagten. Gleichzeitig stellte der Kläger einen Antrag auf Weiterbewilligung des Alg, welches ab dem 01.08.2001 wiederbewilligt wurde.

Der Kläger erhielt von der Beklagten unstreitig im November 2001 Insg in Höhe von 2.654,07 DM (umgerechnet 1.357 €) ausgezahlt. Dem lag nach dem Vortrag der Beklagten der bereits genannte Bescheid vom 07.11.2001 zugrunde, der nicht vorliegt und dessen Existenz der Kläger bestreitet.

Der Kläger selbst konnte noch eine „Bescheinigung über den Bezug von Insolvenzgeld – Insg – (zur Vorlage beim Finanzamt)“ genanntes Schreiben der Beklagten vom 07.11.2001 (Anlage K 30 der Berufungsschrift mit u.a. folgenden Aussagen vorlegen:
„1. Aufgrund Ihres o.a. Antrages habe ich Ihnen für die Zeit vom 01.05.2001 bis 31.07.2001 Insg bewilligt in Höhe von insgesamt 11.545,77 DM.
2. Der unter 1. bescheinigte Insg-Anspruch wurde um Entgeltersatzleistungen (z.B. Arbeitslosengeld), die im Insg-Zeitraum bezogen wurden und ebenfalls dem Progressionsvorbehalt unterliegen, in Höhe von 9.115,68 DM vermindert.“

In den Jahren 2006 bis 2022 ist in den aktuell noch vorhandenen Verwaltungs- und Gerichtsakten kein Kontakt zwischen dem Kläger und der Beklagten dokumentiert. In den Jahren 2002 bis 2005 führte der Kläger drei Rechtsstreitigkeiten vor dem Sozialgericht Karlsruhe (SG), welche die Höhe und Anspruchsdauer von Arbeitslosengeld und anschließender Arbeitslosenhilfe betrafen, und deren Papierakten noch beigezogen werden konnten (Aktenzeichen S 7 AL 1074/03, S 7 AL 2275/02, S 7 AL 2742/02).

Der Kläger wandte sich am 27.04.2023 – also rund 22 Jahre später – per E-Mail an die Beklagte und reichte diverse Unterlagen als Anlage bei. Er begehrte eine Mitteilung über den Bearbeitungsstand seines Anspruchs auf Insg, da aus seiner Beschäftigung vom 02.04. bis zum 31.07.2001 noch Gehalts- und Zinsansprüche offen seien.

Nach Prüfung der noch vorhandenen Unterlagen und in der EDV vorhandenen Informationen verfasste der/die Mitarbeiter(in) H1 der Beklagten am 30.05.2023 folgenden Aktenvermerk:
„Eine Prüfung des Sachverhaltes in Zerberus ergab, dass der Fall F1 in Zerberus noch unter P2568083 vorhanden ist. Insolvenzereignis war eine Abweisung mangels Masse vom 16.10.2001. P1 hat für den Zeitraum 01.05. bis 31.07.2001 Insg in Höhe von 6.017,78 € erhalten, welches jedoch durch Verrechnung mit erhaltenem Alg um 4.660,- € gemindert wurde.
Nach interner Besprechung wird dieser Vorgang als Antrag nach § 44 SGB X gewertet. Da der Kunde für den höchstmöglichen Insg-Zeitraum von 3 Monaten Insg erhalten hat und zudem der Vorgang verjährt ist, ergibt sich keine Änderung.“

Mit Bescheid vom 30.05.2023 teilte die Beklagte dem Kläger mit, ihm sei mit Bescheid vom 07.11.2001 Insolvenzgeld für die Zeit vom 01.05. bis 31.07.2001 und somit für den höchstmöglichen Zeitraum von drei Monaten vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses gewährt worden. Da das Arbeitsverhältnis am 31.07.2021 geendet habe, ergebe sich ein Insolvenzgeldzeitraum vom 01.05. bis zum 31.07.2001. Für den Monat April 2001 könne daher kein Insolvenzgeld gewährt werden. Der Bescheid vom 07.11.2001 bleibe unverändert. Die eingehende Überprüfung nach § 44 SGB X habe ergeben, dass weder von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen noch das Recht falsch angewandt worden sei. Außerdem seien weitere Ansprüche zwischenzeitlich auf Grund der langen Dauer auch verjährt.

Hiergegen erhob der Kläger am 14.06.2023 Widerspruch. Einen Bescheid vom 07.11.2001 habe er nicht erhalten. Für seine Tätigkeit in dem streitigen Zeitraum habe er auch bis heute keine Gehaltsabrechnungen und auch kein Gehalt erhalten. Er habe sich im Rahmen eines vor dem Arbeitsgericht geschlossenen Vergleichs mit seinem ehemaligen Arbeitgeber geeinigt, allerdings habe dieser seine hierin geregelte Verpflichtung bis heute nicht erfüllt. Als Insolvenzgeldvorschuss sei ihm im November 2001 von der Beklagten ein Betrag iHv 2.654,07 DM (umgerechnet 1.357 €) ausbezahlt worden. In dem Zeitraum vom 02.04.2001 bis zum 31.07.2001 habe er auch kein Alg bezogen, sondern nur in dem Zeitraum 01.01.2001 bis zum 01.04.2001 und vom 01.08.2001 bis zum 31.08.2001. Die Gesamtforderung inklusive Verzinsung belaufe sich seiner Berechnung nach auf 14.685,32 €, wobei sich die Zinsen für jeden weiteren Tag ab dem 18.07.2023 um 1,50 € erhöhen würden.

Mit Schreiben vom 19.06.2023 – und danach erneut vom 09.08.2023 wies die Beklagte den Kläger darauf hin, dass sie keine Kopie des vom Kläger verlangten Bescheids vom 07.11.2001 vorlegen könne, da die Unterlagen gelöscht seien.

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 01.08.2023 zurück. Selbst wenn der Kläger keinen Bescheid über die Höhe des Insolvenzgeldes erhalten habe, so habe er doch unstreitig die Zahlungen des Insolvenzgeldes im Jahr 2001 erhalten. Er habe also Zahlungen ohne Verwaltungsakt erhalten. Der Sachverhalt dürfe nur unter den Voraussetzungen des § 44 SGB X überprüft werden. Es könne dahingestellt bleiben, ob die Voraussetzungen für den Anspruch vorlagen und wenn, in welcher Höhe, da rückwirkend nur vier Jahre nachgezahlt werden könnten. Die geltend gemachten Ansprüche lägen jedoch weit außerhalb des Vierjahreszeitraums.

Deswegen hat der Kläger am 04.09.2023 Klage beim SG erhoben. Der Kläger hat vor dem SG - wörtlich - beantragt, „an den Kläger Insolvenzgeld i.H.v. 6.785,88 € nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit dem 01.01.2002 für den Zeitraum 01.05.2001 - 31.07.2001 unter der Betriebsnummer des Arbeitgebers F1 # 6xxxxxx zu bezahlen, sowie dem Rentenversicherungsträger - Die Deutsche Rentenversicherung Bund - das sozialversicherungspflichtige Bruttoarbeitsentgelt für den Zeitraum 02.04.2001 - 31.07.2001 i.H.v. 24.790,61 DM (12.675,24 €) unter der Sozialversicherungsnummer des Klägers xxxxx 11 zu melden“. Zur Begründung seiner Klage hat er vorgetragen, dass, wenn der Beklagten der Bescheid vom 07.11.2001 nicht mehr vorliege, sich die Frage stelle, wie die Rechtsbehelfsstelle diesen habe inhaltlich überprüfen können. Im Übrigen hat der Kläger seinen Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt.

Die Beklagte hat dem SG mitgeteilt, dass nur Aktenvorgänge aus dem Jahr 2023 vorgelegt werden könnten. Ältere Aktenvorgänge zum Insg oder Alg lägen der Beklagten nicht mehr vor. Diese dürften schon vor längerer Zeit vernichtet worden sein. Aus dem Computerprogramm „Zerberus" zum Insg ergebe sich, dass am 07.11.2001 ein Insg-Anspruch des Klägers für die Zeit vom 01.05. bis 31.07.2001 in Höhe von 6.017,78 € festgestellt worden sei, auf den bewilligtes und gezahltes Arbeitslosengeld in Höhe von 4.660,00 € angerechnet worden bzw. zum Abzug gebracht worden sei. Damit seien 1.357,78 € als Auszahlungsbetrag des Insg verblieben. In diesem Zusammenhang müsse dann auch ein entsprechender Bewilligungsbescheid zum Insolvenzgeld ergangen sein.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 05.02.2024 als unbegründet abgewiesen. Ein Anspruch auf weiteres bzw. höheres Insg für den Zeitraum vom 01.05.2001 bis zum 31.07.2001 bestehe nicht. Die Beklagte habe der Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund) für den Zeitraum 02.04.2001 - 31.07.2001 auch kein Arbeitsentgelt in Höhe von 24.790,61 DM (12.675,24 €) zu melden. Sinngemäß (§ 123 SGG) beantrage der Kläger mit seinem ersten Antrag, den Bescheid vom 30.05.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.08.2023 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 07.11.2001 zu verpflichten, ihm für den Zeitraum 01.05.2001 bis 31.07.2001 weiteres Insg zu bewilligen und auszuzahlen, und den Nachzahlungsbetrag i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.01.2002 zu verzinsen. Das so ausgelegte Klagebegehren sei unbegründet, da die Beklagte in dem Bescheid vom 30.05.2023 zu Recht festgestellt habe, dass bei Erlass des Bescheides vom 07.11.2001 weder das Recht unrichtig angewandt, noch von einem falschen Sachverhalt ausgegangen worden sei, § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Die Vorschrift sei vorliegend anwendbar, da es sich bei dem Bescheid vom 07.11.2001 um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X handele. Der Bescheid enthalte zwar keine Rechtsfolgenbelehrung, erfülle aber dennoch alle Voraussetzungen des § 31 Satz 1 SGB X. Die Beklagte habe dem Kläger hierin Insg für den Zeitraum 01.05.2001 bis 31.07.2001 i.H.v. 11.545,77 DM bewilligt und damit eine Entscheidung zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts getroffen, die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet sei. Bei Erlass des Bescheides vom 07.11.2001 habe die Beklagte das Recht nicht unrichtig angewandt, und sie sei auch nicht zuungunsten des Klägers von einem falschen Sachverhalt ausgegangen. Anwendbar sei zum Erlasszeitpunkt § 183 SGB III in der ab dem 01.01.2000 geltenden Fassung. Nach Abs. 1 hätten demnach Arbeitnehmer Anspruch auf Insg, wenn sie bei
  1. Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen ihres Arbeitgebers,
  2. Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse oder
  3. vollständiger Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gestellt worden sei und ein Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht komme (Insolvenzereignis), für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt hatten (Satz 1). Zu den Ansprüchen auf Arbeitsentgelt gehörten auch alle Ansprüche auf Bezüge aus dem Arbeitsverhältnis (Satz 2). Nach dem vor dem Arbeitsgericht Karlsruhe am 10.08.2001 geschlossenen Vergleich zwischen dem Kläger und seinem ehemaligen Arbeitgeber seien diese sich ausweislich Ziff. 2 darüber einig, dass dem Kläger als Entgelt für den Zeitraum 01.04.2001 bis Juli 2001 die vertragsgemäße Vergütung von 5.000,00 DM brutto monatlich zustehe. Nach den von dem Kläger eingereichten Abrechnungen und nach seinem eigenen Vortrag habe sich der Anspruch auf Nettogehalt in dem Monat Mai 2001 auf 2.317,20 DM, in dem Monat Juni 2001 auf 2.757,66 DM und im Juli 2001 auf 3.068,80 DM belaufen. Hieraus ergebe sich ein Gesamtbetrag von 8.143,66 DM netto. Dieser Betrag sei geringer sei als der Betrag, den die Beklagte dem Kläger in dem Bescheid vom 07.11.2001 als Insg für den betreffenden Zeitraum bewilligt habe. Dementsprechend weiche der Bescheid vom 07.11.2001 jedenfalls nicht zu Ungunsten des Klägers von der damals geltenden Rechtslage ab.

Dass vorliegend der bewilligte Betrag in Höhe von 11.545,77 DM nicht zur Auszahlung gelangt sei, sondern nur ein Betrag in Höhe von 1.357,78 €, ändere an diesem Ergebnis nichts. Die Beklagte habe einen Betrag i.H.v. 9.115,68 DM einbehalten, was aus den Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden vom 07.08.2001 und vom 06.11.2001 resultiere. Diese Bescheide seien bestandskräftig geworden, und das Gericht und die Beteiligten somit an deren Inhalt gebunden, § 77 SGG. Soweit der Kläger vortrage, die darauf vermerkten Überzahlungen nie erhalten zu haben, sei dem daher nicht weiter nachzugehen. Ob ein Anspruch des Klägers auf Gewährung von weiterem Insg darüber hinaus verjährt sei, könne dahinstehen. Bei Einreden wie der Verjährung sei die Bundesagentur für Arbeit darauf angewiesen, dass sie von dem Insolvenzverwalter oder dem Arbeitgeber geltend gemacht würden (mit Hinweis auf E. Schneider in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 3. Aufl., § 166 SGB III (Stand: 15.01.2023), Rn. 39; Voelzke in: Hauck/Noftz, SGB III, K § 166 SGB III Rn. 38; Peters-Lange in: BeckOGK (Gagel), § 166 SGB III Rn. 25; Schmidt in: Mutschler/Schmidt-De Caluwe/Coseriu, Sozialgesetzbuch III, 6. Auflage 2017, § 165 Rz. 74; Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 06.04.2020 – L 2 AL 33/18 B PKH –, Rn. 23, juris). Ob diese sich vorliegend ebenfalls auf die Einrede der Verjährung berufen haben, sei unbekannt. Jedenfalls aber stehe einem Anspruch des Klägers auf Gewährung von weiterem Insg die Vorschrift des § 44 Abs. 4 SGB X entgegen. Danach gelte: Sei ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, würden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei werde der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres angerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen werde. Erfolge die Rücknahme auf Antrag, trete bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen seien, anstelle der Rücknahme der Antrag. Beim Insg handele es sich um „Sozialleistungen“ im Sinne von § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X. Als Sozialleistungen seien nach der Legaldefinition des § 11 Satz 1 SGB I alle im Sozialgesetzbuch vorgesehenen Dienst-, Sach- und Geldleistungen anzusehen. Dementsprechend könne Insg für einen im Jahr 2001 liegenden Zeitraum nun nicht mehr im Zugunstenverfahren gewährt werden. Nachdem der Hauptanspruch nicht besteht, bestehe auch kein Verzinsungsanspruch gem. § 44 SGB I. Hinsichtlich des Klageantrags Ziff. 2 sei eine Rechtsgrundlage nicht zu erkennen. Soweit der Kläger um gerichtliche Überprüfung gebeten habe, ob die Beklagte verpflichtet sei, die vollstreckbare Ausfertigung des arbeitsgerichtlichen Vergleichs zu erfüllen, bestehe ein dahingehender Anspruch ebenfalls nicht. Der arbeitsgerichtliche Vergleich entfalte Bindungswirkung nur zwischen dem Kläger und seinem früheren Arbeitgeber und stelle insofern auch nur einen vollstreckbaren Titel gegenüber diesem und nicht auch gegenüber der Beklagten dar. Der Gerichtsbescheid ist dem Kläger am 10.02.2024 zugestellt worden.

Der Kläger hat am 11.03.2024 (Montag) Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt und hierzu im Wesentlichen seinen bisherigen Vortrag wiederholt. Danach stehe ihm höheres Insg aufgrund einer falschen Berechnung der Beklagten und zu niedrigen Auszahlung nachweislich zu.

Zur weiteren Begründung seiner Berufung verweist der Kläger insbesondere auf zwei von ihm verfasste Schreiben an die Beklagte vom 13.04.2002 (Anlage K 31 der Berufungsschrift) und vom 23.04.2002 (Anlage K 32 der Berufungsschrift), die sich nicht in den noch vorhandenen Unterlagen der Beklagten befinden, und für die auch kein Nachweis über den Zugang bei der Beklagten vorliegt. In dem Schreiben vom 13.04.2002 kritisiert der Kläger, dass die in dem Schreiben der Beklagten vom 07.11.2001 genannten Aufrechnungen für ihn nicht nachvollziehbar seien, und bittet insoweit um eine nachvollziehbare Berechnung der ausgezahlten Leistungen. Mit dem Schreiben vom 23.04.2002 legt er Widerspruch gegen Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 07.08.2001 und vom 06.11.2001 ein, und erinnert an den Erlass eines rechtsbehelfsfähigen Bescheids zum Insolvenzgeldantrag. Eine Reaktion der Beklagten auf ein Schreiben des Klägers vom 13.04.2002 bzw. auf ein Schreiben des Klägers vom 23.04.2002 ist in den – nur noch unvollständig vorliegenden – Verwaltungsakten der Beklagten nicht enthalten.

Der Kläger beantragt wörtlich:

1. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 05.02.2024 AZ: S 11 AL 2147/23 und der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 30.05.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.08.2023 unter Geschäftszeichen xxxxx01 werden aufgehoben.
2. Die Berufungsbeklagte wird verurteilt, an den Berufungskläger Insolvenzgeld i.H.v. 6.785,88 Euro nebst 5 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz der EZB ab 01.01.2002 auszuzahlen, ersatzweise eine vollstreckbare Ausfertigung des vor dem Arbeitsgericht Karlsruhe AZ: xxxx abgeschlossenen Vergleichs mit dem insolventen Arbeitgeber vom 10.08.2001 – der weder widerrufen noch erfüllt wurde – unter Anrechnung geleistetem Vorschuss i.H.v. 1.357,78 Euro nebst Zinsen zu erstatten.
3. Die Berufungsbeklagte wird verpflichtet, das erzielte sozialversicherungspflichtige Bruttoarbeitsentgelt im Insolvenzzeitraum in Höhe von 24.790,61 DM (12.675,24 Euro) unter der Sozialversicherungsnummer des Berufungsklägers xxxxxx19 an den Rentenversicherungsträger zu melden und die Beiträge hierfür zu berechnen und zu entrichten.

Die Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die angegriffenen Entscheidungen für rechtmäßig und beruft sich auf die Entscheidungsgründe in dem Gerichtsbescheid des SG.

Am 17.04.2024 ist im LSG ein Erörterungstermin durchgeführt worden. Der Kläger ist in dem Termin darauf hingewiesen worden, dass Nachweise für den Zugang der Schreiben vom 13.04.2002 und vom 23.04.2002 bei der Beklagten bisher nicht vorhanden seien. Hierzu hat der Kläger in dem Termin vorgetragen, dass er den Mitarbeiter M1 der Beklagten als Zeugen dafür benenne, dass er das Schreiben vom 13.04.2002 dem Zeugen bei einer persönlichen Vorsprache auf den Tisch gelegt habe.

Nach dem Termin hat der Kläger als weitere Zeugin die Sachbearbeiterin der Beklagten R2 dafür benannt, dass er die beiden genannten Schreiben bei der Beklagten eingereicht habe.

Der Berichterstatter hat in der Folgezeit die aktuellen Arbeitsplätze der beiden Zeugen ermittelt und – nach der Vorlage von Aussagegenehmigungen – die beiden Zeugen schriftlich zu dem Vortrag des Klägers vernommen.

Die Zeugin W1 hat am 25.12.2024 mitgeteilt, dass sie im Jahr 2002 bei der Agentur für Arbeit R1 als Sachbearbeiterin mit Kundenkontakt beschäftigt gewesen sei. Sie kenne den Kläger nicht und könne sich leider auch nach so langer Zeit weder an ihn noch an Vorgänge im Zusammenhang mit ihm erinnern.

Der Zeuge M1 hat am 03.01.2025 mitgeteilt, dass er im Jahr 2002 als Arbeitsvermittler beim Arbeitsamt R1 tätig gewesen sei. Dadurch habe er regelmäßig Kontakt mit Kunden gehabt. Als Arbeitsvermittler hätte er mehrere hundert Kunden gleichzeitig betreut. Er könne sich weder an den Kläger bzw. einen Herrn P1 noch an damalige Vorgänge erinnern.

Der Kläger hat schließlich die Kopie eines Schreibens der Beklagten vom 03.12.2002 vorgelegt (Anlage K 33 des Berufungsvortrags), worin die Beklagte u.a. auf einen Widerspruch des Klägers vom 13.04.2002 im Hinblick auf die Berechnungen in der Bescheinigung vom 07.11.2001 Bezug nimmt und hierzu ausführt, dass weitergehende Ansprüche des Klägers durch den arbeitsgerichtlichen Vergleich nicht bestätigt worden seien, weswegen eine Berücksichtigung beim Insolvenzgeld nicht möglich sei. Wegen des abgesetzten Betrags in Höhe von 9.115,68 DM für das Alg werde auf die Rückforderungsbescheide vom 07.08.2001 und 06.11.2001 verwiesen. Sofern hierzu bis zum 03.01.2003 keine Äußerung erfolge, werde über den Widerspruch nach dem bisher bekannten Sachverhalt entschieden.

Der Kläger hat hierzu am 16.03.2025 erstmalig vorgetragen, dass er in regelmäßigen Abständen (alle drei Jahre) telefonische Sachstandsanfragen vorgenommen sowie schriftliche Untätigkeitsbeschwerden bei der Berufungsbeklagten eingelegt habe.

Mit Verfügung des Gerichts vom 17.03.2025 ist der Kläger aufgefordert worden, eventuell vorhandene Nachweise über die behaupteten regelmäßigen Sachstandsanfragen und Untätigkeitsbeschwerden vorzulegen. Der Kläger hat hierzu mitgeteilt, dass diese Korrespondenz mit der Berufungsbeklagten nach Antragstellung auf Bewilligung auf Insg ausschließlich per E-Mail-Verkehr erfolgt sei, welcher inzwischen gelöscht worden sei.

Die Beklagte hat auf Anfrage des Gerichts vom 17.03.2025 klargestellt, dass es für die Jahre 2006 bis 2022 keinerlei Vorgänge bezüglich des Klägers in ihren Akten gebe.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten und die Akten des SG und des LSG Bezug genommen.



Entscheidungsgründe

Die nach den §§ 143 f. SGG statthafte und zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.

Die Beklagte ist nicht verpflichtet, dem Kläger für den Zeitraum vom 01.05.2001 bis zum 31.07.2001 weiteres Insg und Zinsen zu zahlen. Auch ein Anspruch auf Meldung weiterer Entgelte an die Rentenversicherung besteht nicht. Die angegriffenen Bescheide der Beklagten und der Gerichtsbescheid des SG sind rechtmäßig.

1. Streitgegenständlich ist ein Anspruch des Klägers auf die Bescheidkorrektur der Beklagten im Hinblick auf die Höhe des dem Kläger ausgezahlten Insg für den Zeitraum vom 01.05.2001 bis zum 31.07.2001 im Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X. Dieser mögliche Anspruch gründet einerseits auf dem Antrag des Klägers vom 27.04.2023 im Hinblick auf den Bescheid vom 07.11.2001, worüber das SG ausdrücklich entschieden hat. Sofern der Kläger erstmalig im Berufungsverfahren sinngemäß geltend gemacht hat, dass aufgrund seiner beiden Schreiben vom 13.04.2002 und vom 23.04.2002 noch ein älterer, bis heute nicht verbeschiedener Überprüfungsantrag bzw. Widerspruch betreffend die Höhe des für die Zeit vom 01.05.2001 bis zum 31.07.2001 auszuzahlenden Insg vorliegt, ist auch dieser Vorgang Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens. Denn es handelt sich insofern nicht um einen anderen Streitgegenstand, sondern lediglich um eine andere rechtliche Begründung für dasselbe geltend gemachte subjektive Recht des Klägers, und dementsprechend auch um dasselbe Prozessziel (vgl. BSG, Beschluss vom 17.12.2024 – B 7 AS 81/24 B –, Rn. 3, juris). Dies folgt auch daraus, dass nur dem Verfügungssatz eines Verwaltungsaktes, nicht jedoch den Begründungselementen und Rechenschritten eine Bindungswirkung zukommt (BSG, Urteil vom 06.03.2024 – B 6 KA 2/23 R –, Rn. 22, juris). Die Beklagte hat hier eine Korrektur des Bescheides vom 07.11.2001 nach „eingehender Überprüfung“ gemäß § 44 SGB X abgelehnt, ohne dies auf den Überprüfungsantrag des Klägers vom 27.04.2023 einzuschränken, wobei der Senat offenlassen kann, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen eine solche Einschränkung zulässig sein könnte. Gegenstand des Verfahrens ist daher, ob in dem hier streitigen Zeitraum insgesamt nach § 44 SGB X ein Anspruch auf die Auszahlung von weiterem Insg bestand, wobei dieser Anspruch unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen ist (BSG, Urteil vom 23.08.2012 – B 4 AS 167/11 R –, Rn. 12, juris). Insoweit ist es unschädlich, dass das SG zu diesem im Berufungsverfahren neu aufgetretenen Begründungsstrang des klägerischen Vorbringens nicht explizit entschieden hat.

Dabei sind die Beklagte und das SG zutreffend davon ausgegangen, dass im Hinblick auf das Schreiben vom 07.11.2001 vom Vorliegen eines Verwaltungsakts im Sinne von § 31 Satz 1 SGB X auszugehen ist. Denn selbst, wenn der Kläger am 07.11.2001 keinen expliziten Bescheid über die Höhe des Insolvenzgeldes erhalten hätte, hat er doch unstreitig – aus seiner Sicht zu niedrige – Zahlungen von Insg im Jahr 2001 erhalten, wobei die Zahlung an sich bereits als sogenannter Schalter-Verwaltungsakt auszulegen sein könnte, und jedenfalls in der Zusammenschau mit dem Schreiben vom 07.11.2001 nicht anders ausgelegt werden könnte (hierzu BSG, Urteil vom 06.05.1999 – B 10 LW 13/98 R –, Rn. 31, juris m.w.N.).

Streitgegenständlich sind zudem die vom Kläger aus dem erhobenen Hauptanspruch abgeleitete Zinsforderung und der bereits vor dem SG erhobene Leistungsanspruch auf die Meldung von Entgelten an den Träger der Rentenversicherung.

2. Dem Kläger steht aufgrund seines im Jahr 2023 gestellten Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X für den Zeitraum vom 01.05. bis zum 31.07.2001 kein Anspruch auf die Zahlung von weiterem Insg zu, was das SG zutreffend in der angegriffenen Entscheidung ausführt. Der Kläger wird daher durch den angegriffenen Bescheid der Beklagten vom 30.05.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.08.2023 nicht in seinen Rechten verletzt.

Zur Vermeidung von Wiederholungen wird nach § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden und ausführlichen Entscheidungsgründe in dem angegriffenen Gerichtsbescheid des SG Bezug genommen, denen der Senat sich ausdrücklich anschließt.

Nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X werden, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist, Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hat die Behörde eine Rücknahmeentscheidung nach § 44 Abs. 1 SGB X nicht mehr zu treffen, wenn die rechtsverbindliche, grundsätzlich zurückzunehmende Entscheidung ausschließlich Leistungen für Zeiten betrifft, die außerhalb der durch den Rücknahmeantrag bestimmten Verfallfrist liegen (vgl. BSG, Urteile vom 06.03.1991 - 9b RAr 7/90 - juris, Rn. 12, vom 13.02.2014 - B 4 AS 19/13 R - juris, Rn. 16 und vom 12.10.2016 - B 4 AS 37/15 R - juris, Rn.16). Danach steht der Erfolg des Zugunstenantrags auch bei Rechtswidrigkeit des zur Überprüfung gestellten Verwaltungsakts unter dem Vorbehalt, dass Sozialleistungen nach § 44 Abs. 1 SGB X noch zu erbringen sind (BSG, Urteil vom 13.07.2022 - B 7/14 AS 57/21 R - juris, Rn. 31).

Vorliegend wäre dem Kläger auch bei einem grundsätzlich berechtigt gestellten Antrag nach § 44 SGB X zu keinem Zeitpunkt innerhalb der vierjährigen Verfallfrist des Absatzes 4 der Vorschrift Insg zu erbringen, da der geltend gemachte Insg-Zeitraum mehr als 20 Jahre vor der Antragstellung auf Überprüfung im Jahr 2023 liegt. Mit der oben angeführten Rechtsprechung konnte daher offengelassen werden, ob insoweit von einer rechtswidrig zu niedrig festgesetzten Bewilligung von Insg auszugehen ist. Denn dem Überprüfungsbegehren aus dem Jahr 2023 steht die Verfallfrist des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X entgegen (vgl. hierzu LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.03.2024 – L 9 R 2591/23 –, Rn. 26, juris).

3. Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus den vom Kläger erstmals im Berufungsverfahren vorgelegten Schreiben vom 13.04.2002 und vom 23.04.2002. Diese Schreiben wären, falls von ihrem Zugang bei der Beklagten auszugehen wäre, jedenfalls im Sinne des Meistbegünstigungsprinzips so auszulegen, dass der Kläger bereits im Jahr 2002 – und damit noch innerhalb der oben angeführten Verfallsfrist des § 44 Abs. 4 SGB X – Überprüfungsanträge hinsichtlich der Höhe des Insg gestellt hätte.

Auch unter Berücksichtigung der für den Kläger ungünstigen Zeugenaussagen, aus denen sich hierzu keine konkrete Aussage ergab, geht der Senat davon aus, dass jedenfalls das Schreiben vom 13.04.2002 damals zeitnah der Beklagten zugegangen und daher vom Kläger im Jahr 2002 ein Widerspruch betreffend die Höhe des Insg eingegangen ist. Denn der Kläger konnte im Berufungsverfahren die Kopie eines Schreibens der Beklagten vom 03.12.2002 vorlegen (Anlage K 33 der Berufungsbegründung), in welchem die Beklagte auf einen Widerspruch des Klägers vom 13.04.2002 Bezug nimmt, und die Umstände der Erstellung der Bescheinigung vom 07.11.2001 erläutert. Dieser Widerspruch war offensichtlich nach Ablauf der Monatsfrist des § 84 SGG erhoben worden und daher verfristet, so dass auch nach damaliger Rechtsprechung gemäß dem Meistbegünstigungsprinzip von einem Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X auszugehen gewesen wäre (umstritten; wie hier VG Köln, Urteil vom 23.09.2020 – 26 K 756/18 –, Rn. 26, juris; anders etwa SG Koblenz, Urteil vom 21. März 2018 – S 2 AS 688/17 –, Rn. 14, juris). Die Beklagte hat indes in dem Schreiben vom 03.12.2002 dem Kläger die Gelegenheit zur erneuten Stellungnahme gegeben und mitgeteilt, dass sie beim Ausbleiben einer Stellungnahme über den Widerspruch nach dem bisher bekannten Sachverhalt entscheiden werde.

Ob ein solcher Widerspruchsbescheid – oder ein Bescheid über den Abschluss eines Überprüfungsverfahrens – danach ergangen ist, ist wegen der lückenhaften Aktenlage unbekannt. Die Behauptung des Klägers, dass dies nicht der Fall sei, lässt sich jetzt nicht mehr zuverlässig überprüfen. Die Akten der Beklagten, soweit diese rekonstruiert werden konnten, enthalten hierzu nichts mehr. Gegenüber der Beklagten kann wegen der jetzt bestehenden Unvollständigkeit der Akten der Jahre 2001 und 2002 allerdings auch kein Vorwurf erhoben werden, weil die Vernichtung von Verwaltungsakten nach mehr als 20 Jahren in Leistungsfällen die Regel darstellen dürfte.

Auf dieser unklaren Tatsachenbasis alleine aufgrund vom Kläger vereinzelt – und auch zeitlich gestaffelt – vorgelegter ihm günstiger Dokumente davon auszugehen, dass der angekündigte Widerspruchs- bzw. Überprüfungsbescheid nicht ergangen ist, hält der Senat aus mehreren Gründen für unzulässig.

Bei einem offenen Verwaltungs- bzw. Überprüfungsverfahren wäre es unzulässig gewesen, die Verwaltungsakten zu vernichten. Der Senat wertet die Vernichtung der über 20 Jahre alten Papierakten daher als ein erstes Indiz dafür, dass bei der Vernichtung der Akten keine Verwaltungsverfahren mehr offen waren. Es dürfte auch nahegelegen haben, dass der Kläger sich zu einem früheren Zeitpunkt bei der Beklagten gemeldet hätte, wenn die von ihm behaupteten Ansprüche tatsächlich noch streitig geblieben wären und hierüber mehr als 20 Jahre lang nicht entschieden
worden wäre. Sofern der Kläger erstmals wenige Tage vor der mündlichen Verhandlung des Senats behauptet hat, sich alle drei Jahre schriftlich und telefonisch bei der Beklagten wegen des jetzt wieder streitigen Insg gemeldet zu haben, wertet der Senat dies als Schutzbehauptung des Klägers. Denn Nachweise für diesen späten Tatsachenvortrag konnte der Kläger nicht vorlegen, wobei es zudem verwundert, dass der Kläger in einer für ihn finanziell so bedeutenden Angelegenheit allen diesbezüglichen E-Mai-Verkehr gelöscht haben will. Da auch die Beklagte keinerlei Verwaltungsvorgang betreffend den Kläger für den Zeitraum 2006 bis 2022 bestätigen konnte, stellt der Senat fest, dass ein Kontakt zwischen den Beteiligten in den Jahren 2006 bis 2022 nicht stattgefunden hat.

Der Umstand, dass der Kläger sich erst nach so langer Zeit wieder um diesen Vorgang bemüht, ist ein weiteres Indiz dafür, dass hier keine Anträge bzw. Ansprüche mehr unverbeschieden waren. Dem Kläger als – nach eigener Aussage – Steuerfachwirt, Bundeswirtschaftsprüfer a.D. und Bilanzbuchhalter musste auch klar sein, dass die zuverlässige Rekonstruktion der Verwaltungsvorgänge wegen der begrenzten Aufbewahrungsfristen nach vielen Jahren nicht mehr möglich sein würde.

Aus dem Umstand, dass der Kläger sich erst nach mehr als 20 Jahren um die Sache kümmert, erwachsen auch Zweifel an der Zuverlässigkeit des Klägers und der Zuverlässigkeit seiner Einlassungen. Denn ein so spätes Kümmern um eine finanziell so bedeutsame Angelegenheit ist ein Hinweis darauf, dass der Kläger bei der Wahrung seiner eigenen Angelegenheiten nicht mit der erforderlichen Sorgfalt vorgeht. Daraus folgt aber auch aus Sicht des Senats, dass seine Behauptung, über seinen Widerspruch bzw. Überprüfungsantrag sei nie entschieden worden, nicht ohne Weiteres als zutreffend unterstellt werden kann. Dem gewöhnlichen Geschäftsgang bei der Beklagten hätte es entsprochen, dass mittels dem bereits konkret mit einer Äußerungsfrist angekündigten Widerspruchsbescheid über die offenen Fragen entschieden worden ist. Dass ein solcher Widerspruchsbescheid nicht mehr vorliegt, lässt sich ohne Weiteres mit der begrenzten Aufbewahrungsfrist für die Verwaltungsakten erklären.

Jedenfalls kann der Kläger nach der Auffassung des Senats unter Berücksichtigung dieser gesamten Umstände heute keinen Vorteil mehr daraus ziehen, dass er seine angeblichen Ansprüche erst 22 Jahre später verfolgt und hierzu – anders als die Beklagte – noch in der Lage ist, einzelne ihm günstige Dokumente vorzulegen. Eine Vollständigkeitsgewähr besteht insoweit bereits aufgrund des Zeitablaufs nicht mehr. Der Kläger muss sich auch vorhalten lassen, dass er die von ihm vorgelegten Anlagen zu großen Teilen erst im Berufungsverfahren eingereicht hat, was beispielsweise die Vorlage der Anlage K 33 erst mit Schriftsatz vom 08.05.2024 ergibt

Der Senat stellt fest, dass die Beklagte nach dem gesamten Verlauf der den Kläger betreffenden Verwaltungsverfahren im Jahr 2023 nicht mehr damit rechnen musste, dass der Kläger noch einmal einen Anspruch auf die Zahlung von Insg für das Jahr 2001 erheben würde. Ein etwaiger bestehender Anspruch wäre daher jedenfalls verwirkt.

Die Verwirkung setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebiets die verspätete Geltendmachung des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden „besonderen Umstände“ liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (st. Rspr.; vgl. BSG vom 01.07.2010 - B 13 R 67/09 R - SozR 4-2400 § 24 Nr. 5, Rn. 33). Zeit-, Umstands- und Vertrauensmoment sind nicht präzise voneinander zu trennen. Maßgeblich ist eine Gesamtbewertung aller zeitlichen und sonstigen Umstände (BVerwG, Urteil vom 30.08.2018 – 2 C 10.17BVerwGE 163, 36, Rn. 16 ff. m.w.N.).

Allein, dass der Kläger mit der Geltendmachung des übergegangenen Anspruchs mehr als 20 Jahre gewartet hat, führt danach trotz dieses sehr langen Zeitraums noch nicht zu einer Verwirkung des Anspruchs (BSG, Urteil vom 05.09.2019 – B 8 SO 20/18 R –, SozR 4-3500 § 18 Nr. 5, SozR 4-1300 § 8 Nr 1, Rn. 20). Das entscheidende Verwirkungsverhalten des Klägers ergibt sich jedoch daraus, dass er jedenfalls noch bis in das Jahr 2005 regelmäßigen Kontakt mit der Beklagten hatte, was in den beigezogenen Akten des SG S 7 AL 1074/03, S 7 AL 2275/02 und S 7 AL 2742/02 dokumentiert ist. In diesen Klageverfahren ging es um Ansprüche auf Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe, die im Jahr 2002 begannen und damit einen Zeitraum kurz nach dem hier streitigen Insg betrafen. Diese gemeinsam terminierten Klageverfahren endeten in einem Erörterungstermin vor dem SG am 23.05.2005 mit einem Gesamtvergleich, nach dem die Beklagte sich (lediglich) dazu verpflichtete, dem Kläger für die Zeit vom 03.05.2002 bis zum 31.12.2003 die Beiträge für eine private Versicherung gegen Krankheit oder Pflegebedürftigkeit zu zahlen. Dabei ist festzustellen, dass der damals – bis zum 25.07.2003 auch anwaltlich vertretene – Kläger in diesen Streitigkeiten an keiner Stelle und zu keinem Zeitpunkt auch nur eine Andeutung gegenüber der Beklagten oder dem SG gemacht hat, dass er von einem noch offenen, älteren Anspruch auf Insg ausging. Dies wäre jedoch – zumal von einem Buchprüfer und Steuerfachwirt – zu erwarten gewesen, weil der vor dem SG geschlossene Vergleich erkennbar darauf abzielte, eine Gesamtbefriedung zwischen den Beteiligten zu erreichen. 

Da die Beklagte nach dem weiteren Zeitablauf – soweit dies aus den vorhandenen Unterlagen noch ersichtlich ist – somit davon ausgehen konnte, dass es keine offenen Ansprüche mehr gab, konnte sie auch nach dem Ablauf der Aufbewahrungsfrist die Leistungsakten des Klägers vernichten. Für diese Vernichtung war es auch ursächlich, dass der Kläger es unterlassen hat, der Beklagten im Zeitintervall zwischen dem Gesamtvergleich aus dem Jahr 2005 und dem Überprüfungsantrag aus dem Jahr 2023 auch nur einen einzigen Hinweis zu geben, dass er von offenen Leistungsansprüchen aus dem Jahr 2002 ausgeht.


Der Kläger hat somit durch sein aktives (Verwirkungs-)Verhalten eine Vertrauensgrundlage geschaffen, die zu einem Vertrauenstatbestand bei der Beklagten und letztlich zur Vernichtung der Verwaltungsakte geführt hat. Danach sind die Voraussetzungen der Verwirkung und der unzulässigen Rechtsausübung gegeben.

4. Sofern der Kläger einen Anspruch auf die Meldung von sozialversicherungspflichtigem Bruttoarbeitsentgelt an die Deutsche Rentenversicherung begehrt, richtet sich dieser Anspruch an seinen Arbeitgeber bzw. an dessen Insolvenzverwalter.

5. Das SG hat im Übrigen auch zutreffend darauf hingewiesen, dass der vom Kläger geltend gemachte Zinsanspruch bereits wegen Fehlens eines Hauptanspruchs nicht besteht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
 

 

Rechtskraft
Aus
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