B 3 P 7/23 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Pflegeversicherung
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 P 67/19
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 P 35/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 P 7/23 R
Datum
Kategorie
Urteil

 

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. November 2022 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.


G r ü n d e :

I

1
Im Streit steht Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2 ab 1.8.2018.

2
Bei der 2017 geborenen und bei der Beklagten pflegeversicherten minderjährigen Klägerin besteht eine angeborene Mukoviszidose. Auf ihren Antrag auf ambulante Leistungen der Pflegeversicherung bewilligte ihr die Beklagte auf der Grundlage eines von ihr eingeholten Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) zunächst Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2 bis zum 31.7.2018. Zwar lägen nur die Voraussetzungen des Pflegegrads 1 vor, doch würden Kinder bis zum vollendeten 18. Lebensmonat pauschal einen Pflegegrad höher eingestuft als Kinder nach dem 18. Lebensmonat. Anknüpfend hieran bewilligte die Beklagte der Klägerin Leistungen der Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 1 ab 1.8.2018 (Bescheid vom 19.6.2018). Ihren Widerspruch hiergegen mit dem Begehren, dass es mindestens bei Pflegegrad 2 verbleiben müsse, wies die Beklagte nach Einholung eines weiteren MDK-Gutachtens zurück, weil die Summe der gewichteten Punkte dem Pflegegrad 1 entspreche (Widerspruchsbescheid vom 15.5.2019).

3
Das SG hat nach Einholung eines Gutachtens einer Pflegesachverständigen die auf Leistungen nach dem Pflegegrad 2 gerichtete Klage abgewiesen. In allen Gutachten sei übereinstimmend für die Klägerin die Höchstzahl von 20 gewichteten Punkten allein im Modul 5 (Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) vergeben worden, womit die für den Pflegegrad 2 erforderliche Punktzahl von 27 nicht erreicht werde. Weitere Punkte im Modul 4 (Selbstversorgung) wegen der notwendigen Verabreichung hochkalorischer Ernährung seien nicht zu vergeben, da die Klägerin beim Essen altersentsprechend entwickelt sei (Gerichtsbescheid vom 6.5.2020). Das LSG hat nach Einholung eines fachärztlichen Gutachtens von Amts wegen und eines fachärztlichen Gutachtens auf Antrag der Klägerin ihre auf Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2 gerichtete Berufung zurückgewiesen. Für die Zeit bis zum 14.7.2019 seien zuletzt sämtliche Gutachten davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für den Pflegegrad 2 nicht erfüllt seien. Diese lägen auch danach nicht vor, weil entgegen dem auf Antrag der Klägerin eingeholten Gutachten im Modul 4 beim Essen und Trinken kein Hilfebedarf zu berücksichtigen sei. Ihr Hilfebedarf beim Essen und Trinken sei allein unter dem Gesichtspunkt des Einhaltens einer durch die Mukoviszidose bedingten Diät im Modul 5 zu berücksichtigen (Urteil vom 17.11.2022).

4
Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin der Sache nach eine Verletzung insbesondere von §§ 14 und 15 SGB XI. Das Anhalten zum Essen und Trinken sei in Modul 4 und Modul 5 zu berücksichtigen.

5
Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. November 2022 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 6. Mai 2020 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 19. Juni 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Mai 2019 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. August 2018 Pflegegeld nach Pflegegrad 2 zu zahlen.

6
Die Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung und beantragt,

die Revision zurückzuweisen.


II

7
Die Revision der Klägerin ist zulässig; insbesondere genügt die Revisionsbegründung den Anforderungen des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG. Danach muss die Begründung einen bestimmten Antrag enthalten, die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen bezeichnen, die den Mangel ergeben. Darüber hinaus sind bei Sachrügen die Gründe aufzuzeigen, die nach Auffassung der Revisionsklägerin aufgrund einer rechtlichen Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung diese als unrichtig erscheinen lassen (stRspr; vgl nur BSG GrS vom 13.6.2018  GS 1/17  BSGE 127, 133 = SozR 41500 § 164 Nr 9, RdNr 33 ff). Dem trägt die Revisionsbegründung Rechnung. Anders als die Beklagte meint, steht die Auslegung der von der Klägerin konkret bezeichneten Merkmale der Kriterien in den Begutachtungs-Richtlinien in so engem Zusammenhang mit den revisiblen Rechtsvorschriften des § 14 Abs 2 Nr 4 und 5 SGB XI, § 15 SGB XI und § 17 Abs 1 SGB XI, dass sich die als verletzt gerügten Rechtsnormen in der vorliegenden Konstellation aus dem Inhalt und Zusammenhang der Darlegungen auch ohne ausdrückliche Bezeichnung ergeben (vgl Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 164 RdNr 11).

8
Die Revision ist auch begründet im Sinne der Aufhebung der Berufungsentscheidung und der Zurückverweisung der Sache an das LSG (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

9
1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Entscheidungen die bezeichneten Bescheide der Beklagten, mit denen diese das von der Klägerin begehrte Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2 ab 1.8.2018 ablehnte. In zeitlicher Hinsicht ist Streitgegenstand der zutreffend erhobenen kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG) auf die Ablehnung von Pflegegeld grundsätzlich die gesamte Spanne zwischen der erstmaligen Geltendmachung des Anspruchs bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht (vgl BSG vom 17.2.2022  B 3 P 6/20 R  SozR 43300 § 140 Nr 1 RdNr 10), hier also der Zeitraum vom 1.8.2018 bis 17.11.2022.

10
2. Rechtsgrundlage des Anspruchs auf Pflegegeld ist § 37 Abs 1 SGB XI (idF des PSG II vom 21.12.2015, BGBl I 2424). Danach können Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen (Satz 1). Der Anspruch setzt voraus, dass der Pflegebedürftige mit dem Pflegegeld dessen Umfang entsprechend die erforderlichen körperbezogenen Pflegemaßnahmen und pflegerischen Betreuungsmaßnahmen sowie Hilfen bei der Haushaltsführung in geeigneter Weise selbst sicherstellt (Satz 2).

11
Pflegebedürftig im Sinne des SGB XI sind Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchti-gungen der Selbständigkeit und der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen, weil sie dauerhaft körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können (§ 14 Abs 1 SGB XI idF des PSG II). Maßgeblich für das Vorliegen von gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten sind pflegefachlich begründete Kriterien in verschiedenen Bereichen, die § 14 Abs 2 SGB XI (idF des PSG II) benennt, hier im Bereich Verhaltensweisen und psychische Problemlagen (Nr 3) die Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen und im Bereich Selbstversorgung (Nr 4) das Essen und Trinken. Nach der Schwere dieser Beeinträchtigungen erhalten Pflegebedürftige einen Pflegegrad, der mit Hilfe eines pflegefachlich begründeten Begutachtungsinstruments ermittelt wird (§ 15 Abs 1 SGB XI idF des PSG II) und das nach § 15 Abs 2 SGB XI in Module gegliedert ist, die den Bereichen nach § 14 Abs 2 SGB XI entsprechen (§ 15 Abs 2 Satz 1 SGB XI idF des PSG II), hier Modul 3 und 4. In jedem Modul sind für die in den Bereichen genannten Kriterien in Anlage 1 zu § 15 SGB XI Kategorien vorgesehen, die die Schweregrade der Beeinträchtigungen darstellen und denen pflegefachlich fundierte Einzelpunkte zugeordnet werden. Die in jedem Modul jeweils erreichbaren Summen aus Einzelpunkten werden nach den in Anlage 2 zu § 15 SGB XI festgelegten Punktbereichen gegliedert und sodann gewichtet. Die addierten gewichteten Punkte aller Module bilden die Gesamtpunkte, auf deren Basis Pflegebedürftige einem Pflegegrad zugeordnet werden (§ 15 Abs 3 SGB XI idF des PSG III vom 23.12.2016, BGBl I 3191). Für den hier streitigen Pflegegrad 2, der nach § 37 SGB XI einen Anspruch auf Pflegegeld begründet, sind ab 27 bis unter 47,5 Gesamtpunkte erforderlich. Diese gesetzlichen Maßstäbe gelten auch bei pflegebedürftigen Kindern ab dem 18. Lebensmonat (§ 15 Abs 7 SGB XI idF des PSG II) entsprechend, doch wird bei ihnen der Pflegegrad durch einen Vergleich der Beeinträchtigungen ihrer Selbständigkeit und Fähigkeiten mit altersentsprechend entwickelten Kindern ermittelt (§ 15 Abs 6 SGB XI idF des PSG II).

12
Durch § 15 Abs 6 SGB XI ist hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass nicht die kindestypische ("altersentsprechend entwickelten Kindern"), sondern nur eine darüber hinausgehende, gesundheitlich bedingte Pflegebedürftigkeit einen Leistungsanspruch gegen die Pflegeversicherung begründet; insofern sind die Pflegekriterien des § 14 Abs 2 SGB XI (auch) kinderspezifisch zu verstehen (vgl BTDrucks 18/5926 S 114; Meßling/Weiß in jurisPK-SGB XI, 4. Aufl 2024, § 15 RdNr 115 ff, Stand 1.9.2024).

13
3. Ausgehend von den detaillierten gesetzlichen Vorgaben in §§ 14 und 15 SGB XI können bei der Klägerin in Abhängigkeit von ihrem Alter im Modul 4 je nach Schweregrad der Beeinträchtigung Einzelpunkte bei den Ziffern 4.8 und 4.9. der Anlage 1 zu § 15 SGB XI (Essen und Trinken) zu berücksichtigen sein.

14
a) Wenn und soweit bei Kindern mit Mukoviszidose gesundheitlich bedingt eine besondere, nicht mehr altersentsprechende Aufforderung und Motivation zum sowie Überwachung unmittelbar beim Essen und beim Trinken (auch ohne Hungergefühl oder Appetit und ausreichendes Durstgefühl) geboten ist, zumal wenn und soweit das Essen und Trinken krankheitsspezifisch erhöhten Anforderungen unterliegt, löst dies einzelfallabhängig einen eigenständigen pflegerelevanten Hilfebedarf neben einem Hilfebedarf im Modul 5 unter Ziffer 5.16 aus, wenn und soweit ein Kind abweichend von altersentsprechend entwickelten Kindern nicht stets von sich aus seine Nahrung und Flüssigkeit vollständig zeitnah zu sich nimmt (vgl Urteil des Senats vom 12.12.2014  B 3 P 1/24 R, zur Veröffentlichung vorgesehen in SozR).

15
Insofern ist in genereller Hinsicht zugrunde zu legen, dass eine Erkrankung an Mukoviszidose mit spezifischen Anforderungen an die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme einhergeht, deren Nichtbeachtung durch Kinder zwingend zu einer zügigen Intervention der Aufsichtsperson führen muss. Anders als bei gesunden Kindern kann die zeitliche Steuerung der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, also auch die gesundheitlich bedingt individuell erforderliche und therapieabhängige Energiezufuhr, nicht zeit- oder phasenweise dem natürlichen Hunger- oder Durstgefühl der Kinder und deren (noch eingeschränkter) Umsetzungsfähigkeit überlassen bleiben.

16
Der beschriebene Hilfebedarf beim Essen und Trinken neben dem bei der Einhaltung krankheitsbedingter Ess- und Trinkvorschriften erfordert auch nicht, dass das Kind mit Blick auf die Selbständigkeit und Fähigkeiten beim Essen und Trinken insgesamt nicht altersentsprechend entwickelt ist. Entscheidend ist vielmehr, dass das Kind im Zusammenhang mit der Erkrankung an Mukoviszidose diesen erhöhten Anforderungen unterliegt und ob es insoweit einer besonderen, nicht mehr altersentsprechenden Aufforderung, Motivation sowie Beaufsichtigung beim Essen und Trinken bedarf. Ist dem so, tritt dieser Hilfebedarf neben den in Modul 5 bei Ziffer 5.16 (Einhalten einer Diät oder anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften) erfassten Hilfebedarf, der im Kern nicht den unmittelbaren Vorgang der Nahrungs- bzw Flüssigkeitsaufnahme betrifft, sondern in Abgrenzung hierzu die Fähigkeit zur Einhaltung von krankheitsbedingten spezifischen Ess- und Trinkvorschriften berücksichtigt.

17
Der Einbeziehung von Einzelpunkten im Modul 4 bei den Ziffern 4.8 und 4.9 steht es nicht im Grundsätzlichen entgegen, wenn zugleich auch im Modul 5 bei Ziffer 5.16 Einzelpunkte zu berücksichtigen sind. Dieser mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff erfasste eigenständige Hilfebedarf beim Einhalten krankheitsbedingter Ess- und Trinkvorschriften unterscheidet sich von der Aufsicht über Kinder mit Mukoviszidose beim Essen und Trinken jedenfalls dann, wenn und soweit ein Kind nicht stets von sich aus seine Nahrung und Getränke vollständig zeitnah zu sich nimmt und dies gesundheitlich bedingt einen eigenständigen Hilfebedarf im Bereich der Selbstversorgung begründet (vgl zur gesetzlichen Konzeption dieses Pflegebereichs BTDrucks 18/5926 S 110; vgl insbesondere zur Berücksichtigung des Lebens- und Versorgungsalltags von pflegebedürftigen Kindern und ihren Eltern Bericht des Expertenbeirats zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, 2013, S 12).

18
b) Nichts anderes gegenüber diesen gesetzlichen Vorgaben ergibt sich aus den auf § 17 Abs 1 SGB XI gestützten Begutachtungs-Richtlinien des Spitzenverbands Bund der Pflegekassen in sämtlichen im streitigen Zeitraum geltenden Fassungen.

19
Nach § 17 Abs 1 SGB XI (idF des PSG II bis 31.12.2019) erlässt der Spitzenverband Bund der Pflegekassen mit dem Ziel, eine einheitliche Rechtsanwendung zu fördern, unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen Richtlinien zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach § 15 SGB XI sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI (Begutachtungs-Richtlinien). Mit Wirkung zum 1.1.2020 ist diese Aufgabe dem Medizinischen Dienst (MD) Bund übertragen, der im Benehmen mit dem Spitzenverband Bund der Pflegekassen handelt (§ 17 Abs 1 SGB XI idF des MDK-Reformgesetzes vom 14.12.2019, BGBl I 2789; vgl § 53c Abs 3 Satz 4 SGB XI zur Fortgeltung der Richtlinien bis zu deren Änderung bzw Aufhebung durch den MD Bund, der mit Wirkung zum 1.1.2022 neu konstituiert wurde und erstmals am 29.9.2023 Begutachtungs-Richtlinien erlassen hat). Im streitigen Zeitraum vom 1.8.2018 bis 17.11.2022 finden die Begutachtungs-Richtlinien des GKV-Spitzenverbands in der Fassung vom 15.4.2016, geändert durch die Beschlüsse vom 31.3.2017 und 22.3.2021, Anwendung.

20
Diese Begutachtungs-Richtlinien entfalten nach der Rechtsprechung des Senats Bindungswir-kung im Verwaltungsbereich und in diesem Rahmen über den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG auch im Außenverhältnis zu den Versicherten, wenn die Konkretisierung des Gesetzes durch die Richtlinien verfassungsrechtlich zulässig ist und die Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung durch die streitigen Richtlinienbestimmungen gewahrt sind (vgl BSG vom 22.2.2024  B 3 P 1/22 R  vorgesehen für BSGE und SozR 43300 § 15 Nr 8, RdNr 18 ff mwN). Bezogen auf die gesetzliche Ermächtigung hat der Gesetzgeber des PSG II wesentliche Inhalte des Begriffs der Pflegebedürftigkeit für die in § 14 Abs 2 SGB XI bezeichneten sechs Bereiche hinsichtlich relevanter pflegefachlich begründeter Kriterien detailliert und unmittelbar im Gesetz festgelegt und auch das Begutachtungsinstrument im Einzelnen gesetzlich bestimmt.

21
Die hier einschlägigen Konkretisierungen im Modul 4 zu den pflegefachlich begründeten Kriterien "Essen" und "Trinken" halten sich in den Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung zum Erlass der Begutachtungs-Richtlinien. Heranzuziehen ist jeweils die Fassung der Richtlinien als nicht selbst normative Konkretisierung des unverändert gebliebenen Gesetzes, die im streitigen Zeitraum jeweils aktuell war.

22
Nach den Richtlinien in ihren im streitigen Zeitraum geltenden Fassungen ist im Modul 4 zu bewerten, ob das Kind die jeweilige Aktivität der Selbstversorgung praktisch und ohne Anleitung durchführen kann oder ob es der Unterstützung, etwa durch Impulsgabe und Aufsicht, bedarf. Unter Punkt KF 4.4.8 (Essen) wird konkretisiert, dass auch zu berücksichtigen ist, inwieweit die Notwendigkeit der ausreichenden Nahrungsaufnahme (auch ohne Hungergefühl oder Appetit) erkannt und die empfohlene, gewohnte Menge tatsächlich gegessen wird. Muss das Kind beispielsweise aufgefordert werden, mit dem Essen zu beginnen oder weiterzuessen, ist dies als überwiegend selbständig zu werten (bei nach den Richtlinien altersentsprechender Selbständigkeit insoweit ab zwei Jahren und sechs Monaten). Unter Punkt KF 4.4.9 (Trinken) wird auch berücksichtigt, inwieweit die Notwendigkeit der Flüssigkeitsaufnahme (auch ohne ausreichendes Durstgefühl) erkannt und die empfohlene Menge tatsächlich getrunken wird. Muss etwa über das Bereitstellen hinaus ein Glas, eine Tasse oder Trinkflasche unmittelbar im Aktionsradius des Kindes positioniert oder an das Trinken erinnert werden, ist dies als überwiegend selbständig zu werten (bei nach den Richtlinien altersentsprechender Selbständigkeit insoweit ab zwei Jahren). Auch hiernach begründet die Aufsicht über die vollständige zeitnahe Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme einen anzuerkennenden Pflegebedarf. Zum Ausdruck kommt hiermit, dass auch die Notwendigkeit eines Anhaltens zum Essen und Trinken eine Beeinträchtigung der Selbständigkeit (im Rahmen der jeweils vierstufigen Beurteilungsskala der Selbständigkeit in den Kriterien KF 4.4.8 und KF 4.4.9) mit sich bringt, soweit krankheitsbedingt das natürliche Hunger- und Durstgefühl das pflegebedürftige Kind nicht hinreichend zur Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme motiviert und daher nicht als Maßstab für den Umfang der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme herangezogen werden kann.

23
Soweit die Beklagte davon ausgeht, dass in Bezug auf das Essen und Trinken von einer nicht altersentsprechenden, gesundheitlich bedingten Beeinträchtigung der Selbständigkeit bei an Mukoviszidose erkrankten Kindern nur dann auszugehen ist, wenn diese zur selbständigen und ausreichenden Nahrungsaufnahme motorisch (wegen einer Störung der Mundmotorik oder einer Schluckstörung) oder wegen einer psychisch bedingten Essstörung nicht altersentsprechend in der Lage sind, liegt dem ein zu enges Verständnis der Kriterien KF 4.4.8 und KF 4.4.9 zugrunde. Je nach Grunderkrankung werden hiervon ausweislich der Konkretisierungen unter KF 4.4.8 und KF 4.4.9 nicht nur kompensatorische Hilfemaßnahmen beim Essen und Trinken in Form der unmittelbaren Überwindung motorischer oder anderer spezifischer Einschränkungen, sondern auch weitere Unterstützungen im Sinne einer Anleitung oder Beaufsichtigung erfasst, soweit diese durch die Erkrankung bedingt sind (Aufforderung, mit dem Essen zu beginnen oder weiter zu essen und Erinnerung an das Trinken).

24
Dem steht auch nach den Richtlinien nicht entgegen, dass das Einhalten von Diäten nicht unter Punkt KF 4.4.8, sondern unter Punkt KF 4.5.16 (Einhalten einer Diät oder anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften) zu bewerten ist. Auch nach den Richtlinien ist das Einhalten einer Diät nicht allein unter Punkt KF 4.5.16 zu bewerten, sondern kann insoweit sowohl unter Punkt KF 4.4.8 als auch KF 4.4.9 zu bewerten sein, als dort zu berücksichtigen ist, inwieweit die Notwendigkeit der ausreichenden Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme (auch ohne Hungergefühl oder Appetit und Durstgefühl) erkannt und die empfohlene, gewohnte Menge tatsächlich gegessen und getrunken wird. Die Aufforderung des Kindes, die durch eine Erkrankung an Mukoviszidose bedingte hochkalorische Nahrung und Flüssigkeitsmenge vollständig zeitnah auch ohne Hungergefühl, Appetit oder Durstgefühl aufzunehmen, unterscheidet sich insoweit vom Einhalten einer Diät oder anderer Essvorschriften, soweit diese sich nicht in der bloßen Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme erschöpfen, sondern etwa die Einhaltung einer gerade an die Erkrankung angepassten Ernährung und Flüssigkeitsaufnahme beinhalten.

25
Im Modul 5 ist nach den Richtlinien zu bewerten, ob das Kind die jeweilige Aktivität praktisch durchführen kann. Ob ein Kind im Sinne der jeweiligen Konkretisierung in den Richtlinien unter Punkt KF 4.5.16 die Einsichtsfähigkeit hat, krankheitsbedingte Ess- und Trinkvorschriften selbständig einzuhalten oder ob es insoweit der Erinnerung, Anleitung oder Beaufsichtigung bedarf, ist noch etwas anderes als die Frage danach, ob es der Aufsicht über die durch die Mukoviszidose geforderte spezifische Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme nach Art, Menge und Zeit und der Aufforderung bedarf, weiterzuessen und weiterzutrinken, weil die Notwendigkeit der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme auch ohne Hungergefühl, Appetit oder Durstgefühl ungeachtet der (generellen) Einsicht in krankheitsbedingte Ess- und Trinkvorschriften nicht erkannt wird. Liegen gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen und hieraus resultierende, je eigenständige Hilfebedarfe sowohl beim Essen und Trinken als auch beim Einhalten spezifischer Ess- und Trinkvorschriften vor, stehen auch die Richtlinien nicht einer Berücksichtigung dieser Bedarfe sowohl unter KF 4.4.8 und KF 4.4.9 als auch unter KF 4.5.16 entgegen.

26
4. Das engere Verständnis der Begutachtungs-Richtlinien durch die Beklagte lässt sich zwar mit dem Wortlaut und der Systematik von deren hier maßgeblichen Aussagen noch vereinbaren, es stimmt aber nicht mit den weiter gefassten gesetzlichen Vorgaben überein, denen der Vorrang gebührt und aus denen das hier dargelegte gesetzeskonforme Verständnis der Begutachtungs-Richtlinien folgt.

27
5. Ausgehend von den dargelegten rechtlichen Maßstäben, von denen das LSG nicht ausgegangen ist, kommt es nach den eingeholten Gutachten und vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen zunächst in Betracht, dass für die Klägerin zumindest für Teilzeiträume Hilfebedarfe auch im Modul 4 zu berücksichtigen sind und sie insoweit im streitigen Zeitraum Anspruch auf Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2 hat. Auch im Modul 3 können pflegerelevante Hilfebedarfe einzubeziehen sein, wenn die Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen (hier Abwehr der Inhalation) gesundheitlich bedingt laufend überwunden werden muss, wenn und weil die Abwehr mangels Einsichtsfähigkeit und Impulskontrollfähigkeit des Kindes nicht ohne Weiteres überwindbar ist (vgl hierzu im Einzelnen Urteil des Senats vom 12.12.2024  B 3 P 9/23 R  RdNr 12 ff, zur Veröffentlichung vorgesehen in BSGE und SozR).

28
Eine Entscheidung hierüber erfordert eine erneute Würdigung des Tatsachengerichts auf der Grundlage der vom Senat aufgestellten Maßstäbe, weshalb das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen ist.

29
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Rechtskraft
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