S 20 SO 182/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Münster (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 182/20
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Der Bescheid vom 28.08.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.02.2018 wird aufgehoben.

Der Beklagte wird verurteilt, Kosten für die Fahrten der Klägerin zur und von der Schule im Schuljahr 2017/2018 in Höhe von 2.179,58 € zu erstatten.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

 

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch auf Eingliederungshilfe für behinderte Menschen in Form der Kostenerstattung für Fahrten zur und von der Schule im Schuljahr 2017/18 im Streit.

Die Klägerin ist 2006 geboren und ist auf Grund der bei ihr bestehenden Arthrogryposis mulitplex congenita erheblich körperlich behindert. Sie ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 100 und den Merkzeichen B, G und H anerkannt und erhält.aus der Pflegeversicherung Pflegegeld nach Pflegegrad 3. In einer Stellungnahme des Gesundheitsamtes des Beklagten vom 31.03.2017 wurde ausgeführt, dass die Fußgelenke der Klägerin fast steif seien, das Treppensteigen für sie nur sehr langsam und mühsam möglich sei und sie für längere Strecken auf den Rollstuhl angewiesen sei; auch die Beweglichkeit der Hände sei erheblich eingeschränkt.

In den Schuljahren 2013/14 bis 2016/17 besuchte die Klägerin die N.N. Grundschule, eine Schule in privater Trägerschaft, in D.. Der Weg vom Wohnhaus, das die Klägerin zusammen mit den Eltern und einer Schwester bewohnt, zur Grundschule beläuft sich auf etwa 1,1 Kilometer. Die Klägerin legte den Weg mit dem Taxi zurück, die hierfür anfallenden Kosten wurden vom Schulträger übernommen.

Seit dem Schuljahr 2017/18 besucht die Klägerin das I.-Gymnasium in D., dessen Trägerin die Stadt D. ist und das ebenfalls etwa 1,1 Kilometer vom Wohnhaus der Klägerin, entfernt liegt. Der Beklagte bewilligte der Klägerin für das Schuljahr 2017/18 Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII) in Form der Kostenübernahme für eine Schulbegleitung (Bescheid vom 27.04.2017). Die Stadt D. als Schulträgerin bewilligte Wegstreckenentschädigung für das Schuljahr 2017/18 in Höhe von 0,13 € je Fahrwegkilometer unter Ablehnung einer darüber hinausgehenden Übernahme von Taxikosten (Bescheid vom 17.08.2017) und zahlte an die Eltern einen Erstattungsbetrag in Höhe von 60,42 € aus (Bescheid vom 25.04.2019). Die Eltern der Klägerin sind und waren auch während des Schuljahres 2017/18 berufstätig. Die Mutter übte eine Teilzeittätigkeit in N. aus, wo sie in der Regel montags und freitags arbeitete. Der Vater hielt sich beruflich regelmäßig von Dienstag bis Donnerstag in Basel und am Montag und Freitag in Neuss auf, außerdem unternahm er mehrfach Dienstreisen in die USA oder nach Japan.

Die Eltern beantragten für die Klägerin am 23.08.2017 - das Schuljahr begann am 30.08.2017 - Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der nicht von der Schulträgerin gedeckten Taxikosten. Der Beklagte lehnte den Antrag unter Hinweis auf den sozialhilferechtlichen Nachranggrundsatz ab. Zuständig für die Gewährung von Schülerfahrtkosten sei die Stadt D. als Schulträgerin (Bescheid vom 28.08.2017). Die Klägerin erhob hiergegen Widerspruch. Auf Anfrage des Beklagten teilten die Eltern mit, es werde nicht geltend gemacht, dass eine Beförderung mit dem eigenen Pkw unmöglich sei. Aus rechtlichen Gründen komme es hierauf nicht an. Insbesondere schließe der Nachranggrundsatz einen Sozialhilfeanspruch nur dann aus, wenn der Bedarf tatsächlich anderweitig gedeckt werde. Der Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 28.02.2018).

Am 26.03.2018 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie ihr Rechtsschutzbegehren weiterverfolgt.

Sie hat klargestellt, dass die vorliegende Klage die Erstattung der im Schuljahr 2017/18 angefallenen Taxikosten betrifft, und hat diese Kosten unter Vorlage von Belegen auf 2.179,58 € beziffert.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 28.08.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.02.2018 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, Kosten für die Fahrten zur und von der Schule im Schuljahr 2017/18 in Höhe von 2179,58 €  zu erstatten.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Ge­richtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen.

 

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig.

Sie ist statthaft als Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1, 4 SGG. Die An­fechtungsklage ist auf Aufhebung des Bescheides vom 28.08.2017 in der Gestalt des Wi­derspruchsbescheides vom 28.02.2018 (§ 95 SGG) gerichtet, die Leistungsklage auf die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung von 2.179,58 €. Streitgegenstand ist ein Anspruch auf Erstattung der Taxikosten für die Fahrten der Klägerin zur und von der Schule im Schuljahr 2017/18. Der streitbefangene Zeitraum ist durch die entsprechende Prozesserklärung auf das Schuljahr 2017/18 begrenzt worden. Daher ist es unerheblich, dass der Beklagte, soweit ersichtlich, noch keine Entscheidung für die Folgeschuljahre getroffen hat (zur Begrenzung des streitbefangenen Zeitraums durch einen während des Klageverfahrens ergangenen Bescheid: BSG, Urteil vom 02.02.2010 - B 8 SO 21/08 R - juris Rn. 9).

Die Klage ist begründet. Der Bescheid vom 28.08.2017 in der Gestalt des Widerspruchs­bescheides vom 28.02.2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

In formeller Hinsicht sind die angefochtenen Bescheide allerdings nicht zu beanstanden. Insbesondere ist der Beklagte als örtlicher Träger der Sozialhilfe (§ 3 Abs. 2 Satz 1 SGBXII i.V.m. § 1 Abs. 1 AG-SGBXII NRW) für die Entscheidung über die Gewährung von Eingliederungshilfe zuständig. Die sachliche Zuständigkeit ergibt sich aus der fehlenden Zuständigkeit des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe (§ 97 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 2a AG-SGB XII NRW in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung), die örtliche Zuständigkeit beruht auf dem tatsächlichen Aufenthalt der Klägerin im Kreisgebiet des Beklagten (§ 98 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Im Übrigen ist der Beklagte auch deswegen zuständig, weil der Antrag der Klägerin auf eine Teilhabeleistung (§ 4 SGB IX) gerichtet gewesen ist und der Beklagte als erstangegangener Träger den Antrag nicht gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX an einen anderen Rehabilitationsträger weitergeleitet hat (zur Zuständigkeit im Außenverhältnis: BSG, Urteil vom 04.04.2019 - B 8 SO 12/17 R – juris Rn. 23).

 

Die Ablehnungsentscheidung des Beklagten ist materiell rechtswidrig. Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Erstattung der für die Fahrten zur und von der Schule im Schuljahr 2017/18 angefallenen Taxikosten in Höhe von 2.179,58 €.

Rechtsgrundlage für den Kostenerstattungsanspruch ist für die im Jahr 2017 angefallenen Kosten § 15 Abs. 1 Satz 4 Alt. 2 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung (§15 SGB IX a.F.) und für die im Jahr 2018 angefallenen Kosten § 18 Abs. 6 Satz 1 Alt. 2 SGB IX. Nach § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX a.F. besteht die Erstattungspflicht auch, wenn der Rehabilitationsträger eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen kann oder er eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat. Die Vorschrift gilt auch für Träger der Sozialhilfe (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 5 SGB IX a.F.; BSG, Urteil vom 28.11.2019 - B 8 SO 8/18 R - juris Rn. 13). § 18 Abs. 6 Satz 1 SGB IX enthält für die Zeit ab dem 01.01.2018 eine inhaltsgleiche Regelung.

Der Beklagte hat die Übernahme von Taxikosten zu Unrecht abgelehnt.

Die Klägerin erfüllte im streitbefangenen Zeitraum wegen der bei ihr bestehenden körperlichen wesentlichen Behinderung (§ 1 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung in der bis zum 31.12.2019) die personenbezogenen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Ein­gliederungshilfe für behinderte Menschen nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in der bis zum

  1.  geltenden Fassung (ab dem 01.01.2020: §99 SGB IX). Zu den Leistungen der Eingliederungshilfe gehört die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in der bis zum geltenden Fassung - §54 SGB XII a.F.; ab dem 01.01.2020: § 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB IX). Die Hilfe zur angemessenen Schulbildung kann auch die Übernah­me notwendiger Fahrkosten umfassen (zum Kindergartenbesuch: BSG, Urteil vom  - B 8 SO 18/18 R - juris Rn. 12). Der Leistungsanspruch nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII besteht abweichend von § 19 Abs. 3 SGB XII unabhängig von den Einkommens- und Vermögensverhältnissen des behinderten Menschen und der Eltern, weil es sich um eine nach 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 SGB XII in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung (§ 92 SGB XII a.F.) privilegierte Leistung handelt und die

Fahrkosten nicht zu den Kosten des Lebensunterhalts gemäß § 92 Abs. 2 Satz 1 SGB XII a.F. gehören (BSG, Urteil vom 27.02.2020 - B 8 SO 18/18 R - juris Rn. 14).

Die Beförderung der Klägerin mit dem Taxi war notwendig.

Ein Anspruch auf eine Eingliederungshilfeleistung setzt stets deren Notwendigkeit (§4 Abs. 1 SGB IX) voraus (BSG, Urteil vom 08.03.2017 - B 8 SO 2/16 R - juris Rn. 20). Die Beurteilung der Notwendigkeit richtet sich nach einem individuellen und personenzentrierten Maßstab, der regelmäßig einer pauschalierenden Betrachtung des Hilfefalls entgegensteht (BSG, Urteil vom 23.08.2018 - B 8 SO 24/11 R - juris Rn. 16). Dies gilt auch für die Hilfe zur angemessenen Schulbildung nach §54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII a.F. (BSG, Urteil vom 06.12.2018 - B 8 SO 7/17 R - juris Rn. 17).

Die Klägerin konnte den Schulweg behinderungsbedingt nicht - jedenfalls nicht in ange­messener Zeit und ohne fremde Hilfe - zu Fuß zurücklegen, worüber zwischen den Beteiligten kein Streit besteht. Sie musste sich auch nicht darauf verweisen lassen, dass ihre Eltern sie mit dem Pkw zur Schule bringen und abholen konnten.

An der Erforderlichkeit von Fahrkosten kann es fehlen, wenn es dem behinderten Menschen möglich und zumutbar ist, den Weg kostengünstiger zurückzulegen. Im Falle eines behinderten Kindes ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass die Entscheidung über das Beförderungsmittel regelmäßig von den Eltern als gesetzlichen Vertretern getroffen wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.09.1992 - 5 C 7/87 - juris Rn. 10). Dies entspricht, worauf die Klägerin zutreffend hinweist, dem sozialhilferechtlichen Nachranggrundsatz nach § 2 Abs. 1 SGB XII. Ein Sozialhilfeanspruch ist danach erst ausgeschlossen, wenn der sozialhilferechtlich anerkannte Bedarf tatsächlich von anderen gedeckt wird; der Nachranggrundsatz stellt aber keine eigenständige Ausschlussnorm dar, wenn andere Leistungen tatsächlich nicht erbracht werden (BSG, Beschluss vom 21.09.2017 - B 8 SO 32/17 B - juris Rn. 12; vgl. BSG, Terminbericht Nr. 13/21 zum Urteil vom 23.03.2021 - B 8 SO 2/20 R -). Nur wenn sich die elterliche Ablehnung einer kostengünstigeren Beförderungsmöglichkeit als rechtsmissbräuchlich darstellt, sind die höheren Kosten nicht erforderlich (BSG, Urteil vom 27.02.2020 - B 8 SO 18/18 R - juris Rn. 16). Das Verbot rechtsmissbräuchlichen Verhaltens ist eine Ausprägung des die gesamte Rechtsordnung beherrschenden und in §242 BGB normierten Grundsatzes von Treu und Glauben (BSG, Beschluss vom 21.01.2021 - B 10 ÜG 2/20 BH - juris Rn. 6). Ein Rechtsmissbrauch kann insbesondere anzunehmen sein, wenn eine formale Rechtsposition ohne schutzwürdige Eigeninteressen und damit zweckwidrig ausgenutzt wird (BGH, Urteil vom 10.02.2021 - IV ZR 32/20-juris Rn. 17).

Vorliegend wäre es den Eltern möglich gewesen, die Klägerin mit dem Pkw zur Schule zu bringen und abzuholen. Es kann offen bleiben, ob dies für die Klägerin und die Eltern auch zumutbar gewesen wäre. Die Entscheidung der Eltern, dass die Klägerin den Schulweg mit dem Taxi zurücklegt, kann jedenfalls nicht als rechtsmissbräuchlich angesehen werden. Dies beruht vor allem darauf, dass die Taxikosten während der Grundschulzeit der Klägerin vom damaligen Schulträger übernommen worden sind, ohne dass sich der Schulweg und die behinderungsbedingten Einschränkungen der Klägerin seither wesentlich geändert hätten. Zudem ist der Wunsch zu respektieren (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB XII), den Schulweg ohne Begleitung eines Elternteils - und insoweit wie nicht behinderte Kinder - zurückzulegen.

Für den Sozialhilfeanspruch der Klägerin ist es unerheblich, ob die Stadt D. als Schulträgerin die Übernahme der Taxikosten zu Recht abgelehnt hat. Maßgeblich ist nach dem sozialhilferechtlichen Nachranggrundsatz allein, dass die Schulträgerin den Bedarf tatsächlich nicht gedeckt hat (vgl. BSG, Urteil vom 18.07.2019 - B 8 SO 2/18 R - juris Rn. 16).

Wegen der rechtswidrigen Leistungsablehnung sind der Klägerin Kosten in Höhe von

  1. € entstanden. Die angefallenen Kosten sind durch die eingereichten Rechnungen nachgewiesen.

Dem Kostenerstattungsanspruch der Klägerin steht nicht entgegen, dass die Eltern die Kosten getragen haben,, denn dies ist gerade wegen der rechtswidrigen Leistungsablehnung erfolgt (vgl. BSG, Urteil vom 27.02.2020 - B 8 SO 18/18 R - juris Rn. 14). Den Ermessensspielraum, den der Beklagte bei der Entscheidung über Art und Umfang der Leistung ein Auswahlermessen gehabt hätte (§17 Abs. 2 Satz 1 SGB XII), hat er mit der rechtswidrigen Leistungsablehnung verloren (BSG, Urteil vom 27.02.2020 - B 8 SO 18/18 R - juris Rn. 14). Der Erstattungsanspruch ist zudem nicht dadurch ausgeschlos­sen, dass das Taxiunternehmen, soweit ersichtlich, keine Vereinbarungen nach § 75 Abs. 3 SGB XII in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung (§ 75 SGB XII a.F.; ab dem 01.01.2020: § 75 Abs. 1 Satz 1 SGB XII) mit dem zuständigen Sozialhilfeträger geschlossen hatte. Abgesehen davon, dass die Gewährung von Sozialhilfe auch bei fehlenden Vereinbarungen mit dem Leistungserbringer in Betracht kommt (§ 75 Abs. 4 SGB XII a.F.; ab dem 01.01.2020: §75 Abs. 5 SGB XII), greift die grundsätzliche Beschränkung auf vereinbarungsgebundene Leistungserbringer nur im Falle der Leistungsbewilligung, nicht aber bei (rechtswidriger) Leistungsablehnung ein.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.‘

 

Rechtskraft
Aus
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