(1.) Ein rechtsmissbräuchliches Sich-Verschließen vor der Kenntnis des Aufenthaltsorts der Eltern, das der positiven Kenntnis im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 BKGG gleichzustellen ist, ist bei fehlendem direkten Kontakt mit den Eltern über moderne Kommunikationsmittel erst gegeben, wenn das Kind über so viele Informationen verfügt, dass ihm eine einfache weitere Nachfrage die Kenntnis vom aktuellen Aufenthaltsort ohne besondere Kosten und Mühen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verschaffen kann. (Anschluss an BSG v. 14.12.2023 – B 10 KG 1/22 R) (2.) Geht das Kind nicht jedweder Möglichkeit zur Gewinnung weiterer Informationen und Anhaltspunkte zur Ermittlung des aktuellen Aufenthaltsortes der Eltern nach, so ist darin nicht zwangsläufig ein rechtsmissbräuchliches Sich-Verschließen vor der Kenntnis des Aufenthaltsorts der Eltern zu sehen.
GSW Sozialgericht Berlin |
|
|
verkündet am
|
Im Namen des Volkes
Urteil
In dem Rechtsstreit
…,
- Kläger -
Proz.-Bev.:
Rechtsanwalt …
gegen
Bundesagentur für Arbeit,
Familienkasse Baden-Württemberg West
Hermann-Veit-Str. 6, 76135 Karlsruhe,
.
- Beklagte -
hat die 2. Kammer des Sozialgerichts Berlin auf die mündliche Verhandlung am 25. März 2025 durch den Richter am Sozialgericht … sowie die ehrenamtlichen Richterinnen … und … für Recht erkannt:
Der Bescheid vom 13.4.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.6.2021 wird abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Kindergeld nach dem BKGG für die Monate Januar bis April 2021 in gesetzlicher Höhe zu zahlen.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf Kindergeld „für sich selbst" nach § 1 Abs. 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) für den Zeitraum Januar bis April 2021 hat.
Der am ....1999 geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Seine Mutter verstarb am 7.8.2007. In der Folge wurde an seine Großmutter Kindergeld nach dem Einkommenssteuergesetz (EStG) bis einschließlich Februar 2021 gezahlt. Ab September 2017 absolvierte der Kläger eine dreieinhalbjährige Berufsausbildung zum Elektroniker, die im Februar 2021 bis zum neuen Ausbildungsende 30.9.2021 verlängert wurde. Die Großmutter des Klägers verstarb am 28.12.2020; von ihren Erben wurde das gezahlte Kindergeld für die Monate Januar und Februar 2021 zurückgefordert.
Am 5.2.2021 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung von Kindergeld für sich selbst. Im Antragsformular kreuzte er zur Frage nach der Kenntnis vom aktuellen Aufenthalt des Vaters „nein“ an.
Auf weitere Nachfragen des Beklagten zum Aufenthalt des Vaters gab der Kläger an, dass ein Aufgebotsverfahren zum Zwecke der Todeserklärung nicht beantragt worden sei. Seine Mutter sei zum Todeszeitpunkt von seinem Vater geschieden gewesen. Die Vormundschaft habe beim Jugendamt gelegen, aber dort seien keine Unterlagen mehr verfügbar, da die entsprechende Akte geschlossen worden sei. Er habe auch keine Familienangehörigen mehr, die er nach dem Aufenthalt seines Vaters fragen könne, da sowohl seine Mutter als auch seine Oma verstorben seien. Sein Vater sei ihm nur namentlich bekannt, er kenne weder dessen Geburtsdatum noch dessen Aufenthaltsort, so dass eine Melderegisteranfrage nicht möglich sei.
Mit Bescheid vom 13.4.2021 lehnte die Beklagte die Gewährung von Kindergeld nach dem BKGG mit Wirkung ab August 2020 ab, weil keine Bemühungen dargelegt worden seien, den Aufenthalts des Vaters zu ermitteln.
Dagegen erhob der Kläger Widerspruch mit Schreiben vom 22.4.2021 mit der Begründung, dass es keine Möglichkeit für ihn gebe, weitere Auskünfte zu erhalten. Die Akte des Jugendamtes sei unter Verschluss; eine dortige Anfrage sei nichts desto trotz erfolgt. Er frage ferner, welche weiteren Bemühungen denn erfolgen müssten, um als ausreichend angesehen zu werden?
Die Beklagte teilte daraufhin mit, dass mitzuteilen sei, wann der letzte Kontakt mit dem Vater bestanden habe und warum dieser abgebrochen sei. Es seien – soweit möglich – Bestätigungen anderer Personen, wie Verwandte, Bekannte oder etwa ehemalige Nachbarn, einzureichen, über die versucht worden sei, den Aufenthaltsort des Vaters zu ermitteln. Ferner sei zu erläutern, ob versucht worden sei, über staatliche Stellen (Behörden in Deutschland, im Herkunftsland oder im letztbekannten Aufenthaltsland der Eltern), über die Botschaft oder des Konsulates des Herkunftslandes oder über private Hilfsorganisationen (Suchdienste, Rotes Kreuz, Heilsarmee) den Kontakt herzustellen.
Der Kläger reichte daraufhin eine Meldeauskunft vom 10.5.2021 bei der Beklagten ein, wonach der sein Vater am 1.1.2008 nach unbekannt verzogen sei; aus dieser Auskunft ging als Geburtsdatum des Vaters der … 1963 und die Geburtsstadt M. hervor. Schon nach dem Tod seiner Mutter seien die Bemühungen erfolglos eingestellt und das Sorgerecht auf das Jugendamt übertragen sowie die Kindergeldzahlungen an die einzige lebende Verwandte, die Großmutter geleistet worden.
Mit Teilabhilfebescheid vom 16.6.2021 bewilligte die Beklagte dem Kläger unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 13.4.2021 Kindergeld nach dem BKGG ab Mai 2021 in Höhe von monatlich 219 €.
Sodann wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 18.6.2021 (W 1265/21) für die Monate August 2020 bis April 2021 als unbegründet zurück. Nur wenn das Kind alles ihm Zumutbare getan habe, um den Aufenthalt seiner Eltern zu ermitteln, sei die Unkenntnis des Aufenthaltsortes der im Sinne des § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BKGG mit dem Tod der Eltern gleichzusetzen. Zumutbar sei eine Melderegisteranfrage gewesen, die erst im Mai 2021 erfolgt sei. Ab diesem Zeitpunkt habe der Kläger alles Erforderlich getan, um den Aufenthalt des Vaters zu ermitteln; für die Monate August 2020 bis April 2021 werde daher der Aufenthalt des Vaters als bekannt gewertet.
Mit seiner am 15.7.2021 erhobenen Klage begehrt der Kläger die Gewährung von Kindergeld nach dem BKGG für sich selbst „ab 1.1.2021“. Er kenne den Aufenthaltsort seines Vaters nicht, habe diesen auch im streitigen Zeitraum nicht gekannt und darüber hinaus auch alles Zumutbare getan, um den Aufenthaltsort zu ermitteln. Sein Vater sei ihm nur namentlich bekannt, er kenne nicht einmal dessen Geburtsdatum. Die im Verwaltungsverfahren eingereichte Melderegisterauskunft habe eine Mitarbeiterin seines Ausbildungsbetriebs, die ihn im Rahmen des Verwaltungsverfahrens unterstützt habe, nur durch Kontakte erhalten. Vom Jugendamt habe er keine weiteren Informationen bekommen, da die dortige Vormundschaftsakte im streitigen Zeitraum bereits archiviert gewesen sei und hätte herausgeklagt werden müssen; da letztlich eine Vormundbestellung erfolgt sei, sei aber ohnehin davon auszugehen, dass das Jugendamt keine Informationen zum Aufenthalt des Vaters habe ermitteln können.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 13.4.2021 in der Fassung des Teilabhilfebescheids vom 16.6.2021 wiederum in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.6.2021 abzuändern und die Beklagte zu verpflichten, ihm Kindergeld nach dem BKGG ab Januar 2021 bis April 2021 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid, wonach der Kläger keinen Anspruch auf sozialrechtliches Kindergeld für sich selbst für die Zeit vor Mai 2021 habe, weil er zuvor nicht hinreichende Eigenermittlungen hinsichtlich des Aufenthaltsorts des Vaters betrieben habe. Der Kläger sei insoweit darlegungs- und beweispflichtig. Er habe lediglich pauschal vorgetragen habe, dass er die ihm bekannten Auskunftspersonen zum Aufenthalt seines Vaters befragt habe bzw. alle verstorben seien; nach Aktenlage habe er noch einen Onkel, von dem er keine schriftliche Bestätigung über dessen Unkenntnis vom Aufenthaltsort des Vaters eingeholt habe. Auch die Antwort auf die Anfrage an das Jugendamt habe er nicht vorgelegt. Eine naheliegende Anfrage an die türkischen Behörden und/oder eine Meldeanfrage über den Aufenthalt des Vaters in Deutschland habe er bis Mai 2021 nach Aktenlage und nach eigenem Vortrag nicht initiiert. Die Eltern des Klägers hätten zum Zeitpunkt seiner Geburt in B. gelebt, so dass der Kläger die Möglichkeit gehabt habe, an das dortige Standesamt oder die dortige Polizeidienststelle eine Anfrage zum Aufenthalt des Kindsvaters zu richten. So habe eine durch die Beklagte durchgeführte Registeranfrage in B. das sich aus der eingereichten Melderegisteranfrage ergebende Geburtsdatum und den Geburtsort des Vaters bestätigt, so dass es mit diesen Angaben möglich gewesen wäre, weitere Informationen etwa bei Registern oder Behörden in der Türkei zu dessen aktuellen Aufenthalt einzuholen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der zum Gegenstand der Beratung und Entscheidung der Kammer gemachten Prozessakte und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die auf die Gewährung von Kindergeld nach dem BKGG für die Monate Januar bis April 2021 gerichtete Klage hat Erfolg.
Streitgegenständlich ist der Bescheid vom 13.4.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.6.2021 (W 1265/21) und damit die Ablehnungsentscheidung ab August 2020. Der Kläger hat die Klage zulässigerweise auf die Monate Januar bis April 2021 beschränkt. Für die Monate August bis Dezember 2020 kam ein Anspruch des Klägers ohnehin nicht in Betracht, weil der Kläger entgegen § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BKGG bei einer anderen Person, nämlich seiner Großmutter, als Kind zu berücksichtigen war. Für die Monate ab Mai 2021 wurde das begehrte Kindergeld nach dem BKGG mit dem Teilabhilfebescheid vom 16.6.2021 gewährt; da über den Zeitraum ab Mai 2021 nicht gestritten wird, ist der Teilabhilfebescheid vom 16.6.2021 nicht Gegenstand des hiesigen Verfahrens.
Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4, § 56 Sozialgerichtsgesetz –SGG–) ist zulässig; insbesondere ist für Streitigkeiten nach dem BKGG gemäß § 15 BKGG der Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet.
Die Beklagte ist passivlegitimiert. Denn zuständig für die Gewährung sozialrechtlichen Kindergelds nach dem BKGG ist für in Deutschland wohnhafte Antragsteller, die Vollwaisen sind oder den Aufenthaltsort ihrer Eltern nicht kennen, in Fällen, die keine Berührung zu zwischen- bzw. überstaatlichen Rechtsvorschriften aufweisen, zentral die beklagte Familienkasse Baden-Württemberg West (§ 13 Abs. 1 und 3 BKGG und § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGG iVm Anlage zum Vorstandsbeschluss 11/2017 der Bundesagentur für Arbeit vom 28.4.2017, ANBA Nr. 8/2017, 8/11).
Die in zulässiger Weise auf den Erlass eines Grundurteils im Sinne des § 130 Abs. 1 SGG (vgl. dazu etwa BSG v. 28.3.2017 – B 10 EG 7/17 R, RdNr. 10; juris) gerichtete und auf den Zeitraum Januar bis April 2021 beschränkte Klage ist begründet. Der Bescheid vom 13.4.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.6.2021 (W 1265/21) ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, denn dieser hat einen Anspruch die Gewährung von sozialrechtlichem Kindergeld gegen die Beklagte in den Monaten Januar 2021 bis April 2021.
Die Bewilligung von Kindergeld für sich selbst setzt nach § 1 Abs. 2 S. 1 BKGG voraus, dass der Berechtigte seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat (Nr. 1), Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt (Nr. 2) und nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist (Nr. 3). Daneben müssen nach § 1 Abs. 2 S. 2 BKGG die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 und 3 BKGG für berücksichtigungsfähige Kinder vorliegen. Diese Voraussetzungen liegen vor.
Der Kläger hatte im streitigen Zeitraum Januar bis April 2021 seinen Wohnsitz in Berlin. und damit im Sinne des § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BKGG in der Bundesrepublik Deutschland und er war – nach dem Tod seiner Großmutter – nicht im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BKGG bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen; vor diesem Hintergrund erfolgte auch die Erstattung des zunächst für die Monate Januar und Februar 2021 gewährten Kindergelds nach dem EStG von den Erben der Großmutters des Klägers.
Der Kläger, der im streitigen Zeitraum das 21. Lebensjahr bereits vollendet hatte, erfüllte auch die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 2a BKGG, da er im streitigen Zeitraum für einen Beruf ausgebildet wurde; er absolvierte eine Ausbildung zum Elektriker.
Somit entscheidet sich die Kindergeldberechtigung des Klägers am Vorliegen der verbleibenden Voraussetzung des § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG. Da die Mutter des Klägers verstorben ist und der Tod des Vaters weder vorgetragen noch nachgewiesen worden ist, kommt es entscheidend darauf an, ob der Kläger im streitigen Zeitraum den Aufenthalt seines Vaters nicht kannte. Diese Voraussetzung lag zur Überzeugung der Kammer vor.
Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung, von der abzuweichen die Kammer keinen Anlass hat, kennt ein Kindergeld für sich selbst beanspruchendes Kind den Aufenthalt seiner Eltern im Sinne des § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 BKGG nur dann nicht, wenn es nicht weiß, an welchem für ihn bestimmbaren Ort sich seine Eltern befinden, wenn im Rahmen einer ex-ante Betrachtung aus seiner Sicht keine zumutbare Möglichkeit besteht, innerhalb eines angemessenen Zeitraums in Kontakt mit den Eltern zu treten, und wenn Dauer und Ausmaß der Unkenntnis über den Verbleib seiner Eltern nach den Umständen des Einzelfalls objektiv den unwiederbringlichen Verlust der Eltern-Kind-Beziehung befürchten lassen. Auf das Bestehen einer intakten Beziehung zu den Eltern oder eines gegenseitigen Willens zu deren Pflege oder Wiederherstellung kommt es dabei nicht an. Steht die Kenntnis des Kindergeld für sich selbst beanspruchenden Kindes vom Aufenthalt seiner Eltern infrage, hat die Familienkasse die vom Kind behauptete Unkenntnis in Erfüllung ihrer Amtsermittlungspflicht festzustellen, im Streitfall ist dies auch Sache der Tatsachengerichte; verbleiben nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten Zweifel am Vorliegen der Unkenntnis des Kindes über den Aufenthalt der Eltern, so geht diese als anspruchsbegründende innere Tatsache zu seinen Lasten (so wörtlich BSG v. 14.12.2023 – B 10 KG 1/22 R, RdNr. 17; juris).
Nach diesen Vorgaben hatte der Kläger im streitigen Zeitraum keine Kenntnis vom Aufenthalt seines Vaters im Sinne des § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 BKGG und kann deswegen für diese Zeit Kindergeld für sich selbst beanspruchen.
Kenntnis vom Aufenthalt seiner Eltern im Sinne des § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 BKGG hat ein Kind bereits dann, wenn es weiß, an welchem für das Kind bestimmbaren Ort sich seine Eltern zumindest vorübergehend befinden (vgl. BSG, aaO, RdNr. 18). Eine solche positive Kenntnis vom Aufenthaltsort seines Vaters hatte der Kläger – wohl unstreitig – nicht. Er hat sowohl im Verwaltungs- wie auch im Klageverfahren nachvollziehbar beteuert, den Aufenthaltsort, ja seinen Vater als solchen überhaupt nicht zu kennen, da er diesen das letzte Mal im Alter von 5 Jahren gesehen und nachfolgend überhaupt keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt habe. Am Fehlen der positiven Kenntnis vom Aufenthaltsort des Vaters beim Kläger hat die Kammer daher keinen Zweifel.
Der Kläger ist auch nicht aufgrund eines rechtsmissbräuchlichen Sich-Verschließen vor der Kenntnis so zu stellen, als ob er Kenntnis vom Aufenthaltsort seines Vaters gehabt hätte.
Nach der bereits benannten höchstrichterlichen Rechtsprechung, die die Kammer für zutreffend erachtet, fehlt einem Kind auch dann noch nicht die Kenntnis vom Aufenthaltsort der Eltern im Sinne des § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 BKGG, wenn es vorübergehend nicht weiß, an welchem Ort sich seine Eltern zumindest zeitweise befinden. Das ist vielmehr erst dann der Fall, wenn aus Sicht des Kindes ex-ante betrachtet über das fehlende Wissen vom Aufenthaltsort hinaus auch keine zumutbare Möglichkeit bestand, innerhalb eines angemessenen Zeitraums in Kontakt mit den Eltern zu treten und dabei den Aufenthaltsort zu erfahren (vgl. BSG, aaO, RdNr. 28).
Abzustellen ist für die so verstandene Aufenthaltskenntnis im Sinne des § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 BKGG auf die subjektive Kenntnis des Kindes bei Antragstellung und während des Leistungszeitraums. Aus § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BKGG lässt sich dagegen kein Verschuldensgrad entnehmen, bei dessen Vorliegen eine positive Kenntnis unterstellt werden könnte. Der positiven Kenntnis vom Aufenthalt dennoch gleichzustellen ist aber ein rechtsmissbräuchliches Sich-Verschließen vor der Kenntnis. Das Verbot eines solchen Sich-Verschließens stellt eine spezielle Ausprägung des auch im Sozialrecht anwendbaren allgemeinen Rechtsgrundsatzes von Treu und Glauben dar (vgl. BSG, aaO, RdNr. 30 mwN). Insoweit ist zur Überzeugung der Kammer hervorzuheben, dass nach höchstrichterlicher Rechtsprechung gerade noch kein bloß fahrlässiges Verhalten des Kindes hinreichend ist, um die Kenntnis zu unterstellen; erforderlich ist vielmehr ein gegen Treu und Glauben verstoßendes rechtsmissbräuchliches Verhalten.
Ein Kind verschließt sich in diesem Sinne missbräuchlich der Kenntnis vom Aufenthalt seiner Eltern, wenn es versäumt, eine sich ihm ohne Weiteres anbietende, gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit wahrzunehmen, deren Erlangung weder besondere Kosten noch Mühen verlangt und deren Nutzung deshalb insbesondere von einem Kind auf der Suche nach seinen Eltern erwartet werden kann (vgl. BSG, aaO, RdNr. 31).
Das BSG verweist in der zuvor zitierten aktuellen Rechtsprechung insoweit auf die zu § 852 BGB (in der bis 31.12.2001 geltenden Fassung vom 16.8.1977 –aF–, BGBl. I 1577) ergangene zivilrechtliche Rechtsprechung zum missbräuchlichen Umgehen der gesetzlichen Verjährungsregeln, wenn der Geschädigte die Augen vor einer sich aufdrängenden Kenntnis des Schädigers – die zum Verjährungsbeginn führt – verschließt (vgl. BGH v. 16.5.1989 – VI ZR 251/88, RdNr. 15; juris). Der BGH hat insoweit ausdrücklich entschieden, dass diese Rechtsprechung nicht in dem Sinne missverstanden werden dürfe, dass bereits eine bloß verschuldete Unkenntnis der vom Gesetz geforderten positiven Kenntnis gleichgestellt sei; ein Kennen-Können oder Kennen-Müssen genüge nicht. Ein solcher Fall liege vielmehr erst dann vor, wenn es der Geschädigte versäume, eine sich ihm ohne weiteres anbietende, gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit wahrzunehmen, deren Erlangung weder besondere Kosten noch nennenswerte Mühe verursache; nur das missbräuchliche Sich-Verschließen vor der Kenntnis stehe der Kenntnis gleich. Nach diesen Grundsätzen könne eine Kenntnis erst dann angenommen werden, wenn der Geschädigte über die Verantwortlichkeit für den Schaden und ihre personale Zuordnung bereits so viele Informationen besitze, dass ihm eine einfache Nachfrage die Kenntnis von der Person des Ersatzpflichtigen verschaffe (so nahezu wörtlich BGH v. 16.5.1989 – VI ZR 251/88, RdNr. 15; juris). Nach einer in der soeben zitierten Entscheidung des BGH in Bezug genommenen weiteren Entscheidung des BGH zu § 852 BGB aF könne es nur darum gehen, dem Geschädigten das Sich-Berufen auf seine Unkenntnis dann zu versagen, wenn das angesichts des ihm offenstehenden Zugangs zu den Informationen, die die Kenntnis ausmachen, als formalistisch und missbräuchlich erscheinen würde. Ein Anwendungsfall dieser Rechtsprechung liege daher insbesondere dann nicht vor, wenn besondere Recherchen, lange und zeitraubende Telefonate oder umfangreicher Schriftwechsel zur Ermittlung der Person des Ersatzpflichtigen notwendig seien. Nur wenn der Geschädigte bereits so viele Informationen besitze, dass ihm eine einfache Nachfrage die Kenntnis von der Person des Ersatzpflichtigen verschaffe, sei ein der Kenntnis gleichzusetzenden rechtsmissbräuchliches Verschließen anzunehmen (so weitgehend wörtlich BGH v. 15.12.1987 – VI ZR 285/86, RdNr. 11; juris).
Diese in der zivilrechtlichen Rechtsprechung entwickelten (und vom BSG in Bezug genommenen) Grundsätze sind zur Überzeugung der Kammer auch im Rahmen der Frage des missbräuchlichen Sich-Verschließens vom Aufenthalt der Eltern nach § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 BKGG anzuwenden. Entscheidend ist mithin, dass das Kind bereits so viele Informationen besitzt, dass ihm eine einfache Nachfrage die Kenntnis vom Aufenthaltsort des jeweiligen Elternteils verschafft. Es geht folglich nicht darum, dass das Kind jedweder Möglichkeit zur Gewinnung weiterer Informationen und Anhaltspunkte – ohne Erfolgsgarantie – nachzugehen hat, sondern nur darum, die zur Erlangung der positiven Kenntnis vom Aufenthaltsort quasi vollständig bereitliegenden Informationen nicht abzurufen. Lediglich in einem solchen Fall ist es gerechtfertigt, ein am Maßstab des Grundsatzes von Treu und Glauben zu messendes rechtsmissbräuchliches Verhalten anzunehmen und die vom Wortlaut des Gesetzes geforderte subjektive Kenntnis auch bei rein tatsächlich nicht bestehender Kenntnis anzunehmen. Bei fehlender subjektiver Kenntnis kann die Kindergeldgewährung folglich nicht allein deshalb abgelehnt werden, weil es weitere Anhaltspunkte für mögliche Bemühungen zur etwaigen Ermittlung des Aufenthaltsorts des Elternteils gibt, sondern nur dann, wenn schon so viele Informationen vorhanden sind, dass die letzte „einfache Nachfrage“ mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur Kenntnis vom Aufenthaltsort führen würde.
In diesem Sinne hat das BSG auch in den von ihm am 14.12.2023 zuletzt entschiedenen Verfahren B 10 KG 1/22 R und B 10 KG 2/22 R angenommen, das sich Kinder missbräuchlich der Kenntnis vom Aufenthalt der Eltern verschließen, wenn sie die Möglichkeit der Kontaktaufnahme durch verfügbare Kommunikationsmittel wie Telefon, E-Mail, SMS und Messenger-Dienste nicht nutzen und sich durch einen entsprechenden kurzfristigen Kontakt die entsprechenden Informationen über den aktuellen Aufenthaltsort der Eltern nicht einholen. In beiden Fällen standen die Kinder mit den jeweiligen Elternteilen in Kontakt (im Fall B 10 KG 1/22 R, RdNr. 4: „In seinem Antrag auf Kindergeld vom 14.3.2019 gab der Kläger an, ihm sei der Aufenthalt seiner Mutter bekannt. Er telefoniere zwei- bis dreimal im Monat mit ihr“ und im Fall B 10 KG 2/22 R, RdNr. 2: „Sporadische Kommunikation erfolgte telefonisch oder mittels eines Messengerdienstes ... Während des Berufungsverfahrens hat die Klägerin über einen Messengerdienst ihren Vater nach dessen Anschrift gefragt. Daraufhin hat er eine gegenüber der zuvor bekannten Anschrift leicht abweichende Adresse in Kathmandu angegeben.“). Die dortigen Kläger konnten also durch eine einfache Nachfrage bei dem Elternteil dessen Aufenthaltsort erfragen und damit die positive Kenntnis ohne besondere Kosten und nennenswerte Mühen erlangen.
In Anwendung dieser Grundsätze kann die Kammer nicht erkennen, dass der Kläger sich bei Antragstellung oder aber während des streitigen Zeitraums Januar bis April 2021 rechtmissbräuchlich der Kenntnis vom Aufenthaltsort seines Vaters verschlossen haben könnte. Er hatte weder über moderne Kommunikationsmittel Kontakt zu seinem Vater, noch hatte einer seiner Verwandten einen solchen Kontakt; vielmehr kann überhaupt nicht davon gesprochen werden, dass der Kläger einen irgendwie gearteten Kontakt zu seinem Vater hatte. Es bestand folglich gerade keine Möglichkeit, durch eine einfache Nachfrage den Aufenthaltsort des Vaters zu erfragen.
Das Vorbringen der Beklagten, dass der Kläger noch einen Onkel habe, von dem er keine schriftliche Bestätigung über dessen Unkenntnis vom Aufenthaltsort des Vaters eingeholt habe, führt zu keinem anderen Ergebnis. Der Kläger hat mitgeteilt, dass er zwar drei Onkel habe, aber alle mütterlicherseits, so dass diese keine Kenntnis vom Aufenthaltsort seines Vaters hätten. Dies ist für die Kammer nachvollziehbar und eine schriftliche Bestätigung durch diese daher nicht erforderlich.
Soweit die Beklagte der Auffassung ist, dass der Kläger eine Melderegisteranfrage in B. hätte durchführen können und mit den dortigen Ergebnissen (vollständiger Name, Geburtsdatum und Geburtsstadt des Vaters) bei Registern oder Behörden in der Türkei nach dem Vater hätte nachfragen können, so übersteigt dies die entsprechend der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung wahrzunehmenden Erkenntnismöglichkeiten deutlich (so auch allgemein zu den sich aus den Antragsvordrucken der Beklagten ergebenden von den Kindern geforderten Bemühungen Dau in jurisPR-SozR 4/2025 Anm. 6 unter D.). Zum einem handelt es sich bei den von der Beklagten geforderten – insbesondere ausländischen – Registeranfragen schon nicht um Erkenntnismöglichkeiten, die weder besondere Kosten noch Mühen verlangen; gerade in Anlegung des gebotenen subjektiven Maßstabes kann die Kammer dies bezogen auf den Kläger, der ausweislich der Verwaltungsakte offensichtlich schon erhebliche Hilfe zur Durchführung des Verwaltungsverfahrens (insbesondere bei der Abfassung der eingereichten Schriftsätze) benötigte, nicht erkennen. Zum anderen war aber insbesondere auch nicht ansatzweise erkennbar, dass die geforderten Bemühungen tatsächlich zur Kenntnis vom tatsächlichen Aufenthaltsort hätten führen können. Die Beklagte verlangte vom Kläger vielmehr aufeinander aufbauende Nachforschungen, ohne dass bei deren Beginn das letztliche Ziel der Kenntnis vom Aufenthaltsort überhaupt greifbar gewesen wäre. Die Nichtvornahme solcher Ermittlungen durch das Kind ist für die Annahme eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens aber nicht hinreichend. Denn der Kläger hatte bei Antragstellung und auch im streitigen Zeitraum nicht so viele Informationen über den Aufenthaltsort seines Vaters, dass er durch eine einfache Nachfrage diesen hätte herausfinden können. Vielmehr gab es zur Überzeugung der Kammer für den Kläger bei Antragstellung und im streitigen Zeitraum gerade keine auf der Hand liegende, sich aufdrängenden Erkenntnismöglichkeit, die er auf einfache Weise und ohne nennenswerte Kosten und Mühen jederzeit hätte wahrnehmen können, um den aktuellen Aufenthaltsort seines Vaters ohne weiteres herauszufinden. Die Informationen zum tatsächlichen Aufenthaltsort lagen nicht einfach abrufbar für den Kläger bereit, so dass er auch nicht die Augen vor der Information zur Kenntniserlangung des Aufenthaltsorts verschlossen hat.
Soweit die Beklagte schließlich darauf hinweist, dass das Ergebnis der Anfrage an das Jugendamt nicht mitgeteilt worden sei, so führt auch dies nicht weiter. Der Klägerbevollmächtigte hat erläutert, dass die Akte des Jugendamtes seinerzeit aufgrund der Beendigung der Vormundschaft bereits geschlossen und keine einfache Akteneinsicht möglich gewesen sei. Im Übrigen sei aufgrund der angeordneten Vormundschaft ohnehin nicht zu erwarten gewesen, dass sich aus den Akten weitere Informationen zum Aufenthaltsort des Vaters hätten ergeben können. Auch dies ist für die Kammer nachvollziehbar. Insbesondere ist zu beachten, dass die Vormundschaft, die nach § 1773 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nur für Minderjährige angeordnet werden kann, bei Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums bereits seit über drei Jahren beendet war. Dafür, dass sich aus der entsprechenden Akte des Jugendamtes der tatsächliche, Anfang 2021 aktuelle Aufenthaltsort des Vaters des Klägers hätte ergeben können, gab es keine Anhaltspunkte, so dass es auf die Frage, ob entsprechende Nachforschungen in bereits archivierten Akten des Jugendamtes überhaupt einfache Nachfragen ohne nennenswerte Mühe sein können (was die Kammer verneinen würde) schon nicht ankommt.
Folglich kannte der Kläger den Aufenthaltsort seines Vaters nicht und hat sich der Kenntnis auch nicht rechtsmissbräuchlich verschlossen, so dass die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BKGG vorliegen.
Nach alledem war der Klage stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und folgt dem Ergebnis der Hauptsache.
Die Berufung der Beklagten ist gemäß §§ 143, 144 Abs. 1 SGG statthaft, weil der Wert des Beschwerdegegenstands in Anbetracht der tenorierten Zahlungsverpflichtung von Kindergeld für 4 Monate den Betrag von 750,00 € übersteigt.