L 13 R 547/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 2 R 3187/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 R 547/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 28.01.2022 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Anschlussberufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.

Sie ist 1964 geboren und leidet im Wesentlichen unter psychischen Gesundheitseinschränkungen. Sie hat den Beruf der Bürokauffrau erlernt. Sie arbeitete seit 18.06.2001 bei der C1 GmbH in der Qualitätssicherung 35 Stunden wöchentlich, wobei sie jedoch vom 31.05.2019 bis 31.01.2023 und ab 05.07.2023 arbeitsunfähig krankgeschrieben war (s. Aussage des Arbeitgebers vom 07.11.2023). Zusätzlich ist sie vom 01.06.2022 bis 23.07.2022 in einem Reformhaus L1 sowie vom 01.07.2022 bis 30.06.2023 in einem Getränkegroßhandel B1 geringfügig beschäftigt gewesen (s. Aussagen der Arbeitgebers Bl. 196 ff. der LSG-Akten).

Am 11.01.2019 beantragte sie die Gewährung einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation, welche nach entsprechender Bewilligung in der Zeit vom 04.06.2019 bis 09.07.2019 in der K1-Klinik durchgeführt wurde. Gemäß Entlassungsbericht vom 17.07.2019 (Diagnosen: 1. Komplexe posttraumatische Belastungsstörung, 2. Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, 3. Anhaltende somatoforme Schmerzstörung, 4. Z. n. Hepaticojejunostomie 2007, 5. Koxarthrose bei Hüftdysplasie, 6. Degeneratives HWS- und LWS-Syndrom, Fingerpolyarthrose, Diagnose Fibromyalgie 2008; Z.n. TIA 2017) schätzten die dortigen Ärzte das Leistungsvermögen für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit und den allgemeinen Arbeitsmarkt mit jeweils drei bis unter sechs Stunden ein. Ein weiterer Antrag auf Rehabilitation vom 25.10.2019 wurde abgelehnt (Bescheid vom 15.11.2019).

Die Beklagte holte eine sozialmedizinische Stellungnahme von H1 ein. Diese schätzte unter dem 19.07.2019 nach Aktenlage ein, die zuletzt ausgeübte Tätigkeit bzw. der letzte Arbeitsplatz sei mit hoher Stressbelastung bzw. viel Unruhe verbunden und damit nicht ideal. Hier sei eine quantitative Leistungsminderung nachvollziehbar. Für leidensgerechte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei aber keine quantitative Leistungsminderung zu begründen. Unter dem 21.02.2020 gelangte S1 zur gleichen Beurteilung.

Bereits am 21.11.2019 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.
Die Beklagte zog ärztliche Unterlagen bei und ließ die Klägerin durch B2 begutachten. Dieser diagnostizierte aufgrund ambulanter Untersuchung am 13.07.2020 die Gesundheitsstörungen „1.) Vielschichtige akzentuierte Persönlichkeitszüge bei gleichzeitig sehr niedrigem Persönlichkeitsstrukturniveau, 2a) bei reklamierter sogenannter Fibromyalgie aus nervenärztlicher Sicht eine somatoforme Schmerzstörung mit konversionsneurotischer Färbung, 2b) eher beiläufig berichtete, angeblich schon von jeher vorbestehende Panikstörung, 3. Karpaltunnelsyndrom rechts in geringem Ausmaß, 4. Verdacht auf Restsymptomatik eines benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels, 5. schmerzhafte Achillessehnenaffektion links “ und sah keine quantitative Leistungsminderung. Die Klägerin könne sechs Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein. Die Beklagte holte eine sozialmedizinische Stellungnahme von L2 vom 30.07.2020 ein, welche ein Leistungsvermögen von sechs Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt annahm. Hierauf gestützt lehnte die Beklagte die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente durch Bescheid vom 03.03.2020 ab.

Die Klägerin erhob am 20.03.2020 Widerspruch und ließ ihn damit begründen, dass die Rehabilitation den Zustand nur kurzfristig gebessert habe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 29.09.2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück, die Klägerin könne noch mindestens sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein.

Mit ihrer am 28.10.2020 zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Rentenbegehren weiter. Das Gericht hat die behandelnden Ärzte und Therapeuten schriftlich als sachverständige Zeugen befragt. Die S2 hat mitgeteilt, die Klägerin seit 2003 zu behandeln. Zu einer Veränderung des Gesundheitszustands könne man keine Angaben machen, weil die Klägerin nur wegen der depressiven Erkrankung behandelt worden sei. Als Diagnosen bzw. Befunde zu nennen seien eine allgemeine Depression mit Erstdiagnose 12.04.2011, psychosomatische Dysfunktion, ein Erschöpfungszustand, rezidivierende depressive Störung, anhaltende somatoforme Schmerzstörung und posttraumatische Belastungsstörung. Der Schwerpunkt der Beeinträchtigung liege im psychiatrischen Bereich. Der H2 hat am 12.02.2021 angegeben, die Klägerin viermal behandelt zu haben, eine Verschlechterung oder Verbesserung des Gesundheitszustands lasse sich aus den Dokumentationen nicht ableiten. Als Diagnosen zu nennen seien eine Schlafstörung, eine depressive Störung mit einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome, ein chronisches Schmerzsyndrom und ein Fibromyalgie-Syndrom. Neurologisch bestehe keine Einschränkung, psychiatrisch erfordere die Beurteilung des Leistungsvermögens eine Begutachtung. Der psychologische Psychotherapeut S3 hat in seiner Auskunft vom 18.02.2021 beschrieben, dass nach 7 Vorstellungen in der Sprechstunde bzw. probatorischen Sitzungen nach dem 02.09.2020 keine Behandlung mehr erfolgt sei. Der Beziehungsaufbau habe sich schwierig gestaltetet, eine günstige Veränderungsprognose bestehe nicht.

Das SG hat daraufhin von Amts wegen ein Gutachten bei N1 eingeholt, welcher die Klägerin am 28.06.2021 ambulant untersucht hat. Er hat die Gesundheitsstörungen „1. Chronifizierte mittelgradige depressive Episode bei rezidivierender depressiver Störung, 2. Anhaltende somatoforme Schmerzstörung und 3. Generalisierte Angststörung“ diagnostiziert und unter Berücksichtigung des von ihm erhobenen Befundes ein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von drei Stunden für gegeben erachtet. Schwere und mittelschwere körperliche Arbeiten mit Heben und Tragen von Lasten mehr als sieben Kilogramm seien ebenso auszuschließen wie dauerndes Stehen und Gehen sowie gleichförmige Körperhaltungen mit Zwangshaltungen im Lendenwirbelsäulenbereich. Häufiges Bücken, Treppensteigen und Arbeiten auf Leitern und Gerüsten seien zu vermeiden, wobei die Einschränkungen insbesondere aufgrund der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung vorlägen. Aufgrund der erheblichen depressiven Störung mit resultierendem Antriebsdefizit und eingeschränkter Durchhaltefähigkeit seien sämtliche Tätigkeiten unter Zeitdruck sowie Schicht- und Nachtarbeiten zu vermeiden. Publikumsverkehr und Arbeiten unter nervlicher Belastung seien nicht leidensgerecht. Leichte körperliche Arbeiten mit Heben und Tragen von Lasten bis zu sieben Kilogramm in abwechslungsreicher, überwiegend sitzender Köperhaltung und unter Vermeidung der o. g. qualitativen Einschränkungen könnten noch im Umfang von drei Stunden am Tag bewältigt werden. Auch unter Anlegung eines strengen Maßstabes lasse sich ausschließen, dass die Störungen vorgetäuscht oder nur im Rahmen der Untersuchungssituation zu beobachten seien. Die einzelnen seelischen Gesundheitsstörungen könne die Klägerin nicht aus eigener Kraft durch eigene Willensbeschlüsse überwinden. Die Leistungseinschränkungen bestünden seit Antragstellung, nachdem es zuvor in einer stationären Behandlung zu einer entsprechenden Einschätzung aufgrund der erheblichen Komorbiditäten gekommen sei. Es sei jedoch nicht auszuschließen, dass durch eine adäquate Behandlung eine Besserung erzielt werden könne, insbesondere sei durch eine konsequente ambulante Psychotherapie und eine begleitende psychiatrische Behandlung mit Modifizierung der Psychopharmaka ggf. eine Besserung zu erwarten. Zudem bestehe auch die Möglichkeit einer erneuten stationären Behandlung. Bei der erheblichen Chronifizierung der depressiven Störung und auch unter Berücksichtigung der biografischen Anamnese sei allerdings nicht mit einer zeitnahen Besserung zu rechnen, sondern es sei von einem Zeitraum von etwa zwei Jahren auszugehen. Der Einschätzung des Vorgutachters B2 könne er sich nicht anschließen, da der aktuelle psychopathologische Befund eindeutig für das Vorliegen einer mittelgradigen depressiven Episode spreche. Auch hätten sich bei der aktuellen gutachtlichen Untersuchung keine Hinweise auf eine Aggravationstendenz oder auf ein nicht authentisches Antwortverhalten ergeben. Zudem lägen erhebliche Komorbiditäten vor, die sich gegenseitig wechselwirkend in ihrer Ausprägung verstärkten. Insofern ergäben sich keine Anhaltspunkte, dass von einem sechs- und mehrstündigen Leistungsvermögen ausgegangen werden könne.

Die Beklagte hat die sozialmedizinische Stellungnahme des N2 vom 23.08.2021 vorgelegt.

Mit Gerichtsbescheid vom 28.01.2022 hat das SG die Beklagte –ohne Abweisung der Klage im Übrigen im Tenor- unter Aufhebung des Bescheides vom 03.03.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.09.2020 verurteilt, der Klägerin vom 01.11.2019 bis zum 31.01.2024 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung in gesetzlicher Höhe zu gewähren; die Beklagte habe ¼ der außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten. Die Klägerin sei seit 31.05.2019 (Eintritt der Arbeitsunfähigkeit) nur noch 3 bis unter 6 Stunden täglich leistungsfähig. Das SG hat sich auf das Gutachten des N1 gestützt, das eine höhergradige Funktionseinschränkung festgestellt habe. Auch im Rehabilitationsentlassungsbericht sei eine verminderte Konzentrationsfähigkeit, ein verminderter Antrieb, Energie- und Lustlosigkeit sowie Angst- und Panikattacken bei ausgeprägten Schlafstörungen beschrieben worden. Die Beurteilung des N2, der psychische Befund sei nur leichtgradig beeinträchtigt, sei nicht nachvollziehbar. Da die Klägerin einen ihrem Leistungsvermögen entsprechenden Arbeitsplatz innehabe, scheide eine volle Erwerbsminderungsrente aus. Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer besonders schweren spezifischen Leistungseinschränkung oder eine Einschränkung der Wegefähigkeit lägen nicht vor. Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI komme nicht in Betracht, weil die Klägerin nicht vor dem 02.01.1961 geboren sei. Bei dem angenommenen Leistungsfall 31.05.2019 beginne die Rente ab dem 01.11.2019 und sei bei der bestehenden Besserungsmöglichkeit bis zum 31.01.2024 – 2 Jahre nach dem Ende des Monats der Entscheidung des Gerichts- zu befristen.

Gegen den der Beklagten am 31.01.2022 zugestellten Gerichtsbescheid hat sie am 24.02.2022 Berufung eingelegt. Bei dem vom SG angenommenen Leistungsfall käme lediglich eine Erwerbsminderungsrente ab Dezember 2019 in Betracht. Zudem wäre die Rente bis November 2022 zu befristen gewesen. Den Beurteilungen des Entlassungsberichts und des Gutachtens N1 könne aber nicht gefolgt werden, weshalb die Klägerin keinen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente habe. Das SG habe sich nicht mit der beratungsärztlichen Stellungnahme des N2 vom 23.08.2021 auseinandergesetzt. Unter anderem sei nicht nachvollziehbar, weshalb das von N1 festgestellte Restleistungsvermögen seit November 2019 gelte, wenn er auf eine mittelgradige depressive Episode abstelle. Noch weniger sei nachvollziehbar, wie das unvollständig beantwortete Testverfahren des Beck‘schen Depressionsinventar zu einem Ergebnis eines erheblichen depressiven Erlebens gelangen konnte. Die unzureichende Behandlung lasse auf einen geringen Leidensdruck schließen. Bei B2 hätten sich erhebliche Diskrepanzen zwischen reklamierten körperlichen wie psychischen Beschwerden und korrespondierend abbildbaren Funktionsstörungen gezeigt. N1 habe keine ausreichende Konsistenz-und Plausibilitätsprüfung vorgenommen. Die von der Klägerin angegebene Schmerzbeeinträchtigung (höchstmögliche Beeinträchtigung 10 von 10 an 90 Tagen in den letzten 3 Monaten) hätte sich während der Untersuchungssituation niederschlagen müssen, was nicht hinreichend dokumentiert sei; auch fehle es an einer multimodalen Schmerztherapie.
Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 28.01.2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen sowie im Wege der Anschlussberufung die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 03.03.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.09.2020 zu verurteilen, ihr Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.11.2019 zu gewähren.

Die rechtskundig vertretene Klägerin hält sich für voll erwerbsgemindert.

Der Senat hat von Amts wegen das nervenärztliche Gutachten des B3 vom 22.08.2022 eingeholt. Hiernach liege bei der Klägerin ein leicht ausgeprägtes Wirbelsäulen-Syndrom ohne aktuelle Nervenwurzelreizsymptome und ohne auf die Wirbelsäule beziehbare segmentale sensible oder motorische neurologische Defizite sowie eine Dysthymie vor. Der Klägerin seien wegen des Wirbelsäulen-Syndroms vollschichtig nur leichte und vorübergehend mittelschwere körperliche Arbeiten zuzumuten, wohingegen ihr schwere und dauernd mittelschwere körperliche Arbeiten, Arbeiten mit häufigem Sich-Bücken, Sich-Drehen und Sich-Wenden, Arbeiten in häufiger Zwangshaltungen, Arbeiten mit häufiger Über-Kopf-Haltung und Arbeiten in Kälte und Nässe (ohne entsprechende Schutzkleidung) nicht zuzumuten seien. Die Dysthymie erfordere keine weitergehenden Einschränkungen.

Die Klägerin hat einen Bericht des H2 vom 23.09.2022 vorgelegt, wonach eine erneute Begutachtung prinzipiell sinnvoll wäre wie auch eine psychiatrische Behandlung.

Nach § 109 SGG hat der Senat von B4 das nervenärztliche Gutachten vom 17.06.2023 eingeholt. Hiernach liege auf nervenärztlichem Gebiet eine mittelgradige bis schwergradige depressive Episode sowie eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren vor. Allenfalls könne die Klägerin bis zu 3 Stunden täglich im Rahmen eines beruflichen Auftrages tätig werden.

Der Senat hat von B3 die ergänzende gutachtliche Stellungnahme vom 23.11.2023 eingeholt. B4 widerspreche sich auch zwischen Befund und Diagnose selbst. Trotz einer mittelgradigen bis schwergradigen depressiven Episode beschreibe er keine formalen Denkstörungen im Sinne einer depressiven Denkhemmung und keine depressiv induzierten kognitiven Defizite bezüglich Auffassung und Konzentration. B4 habe auch nicht die gravierenden Diskrepanzen zwischen Befunden und Befinden erkannt und diskutiert, obwohl auch er von Aggravationstendenzen spreche. Trotz der Angabe eines stark verminderten Antriebs sei die Klägerin in der Lage gewesen, einer stundenlangen Anamneseerhebung zu folgen. Auch die berufliche Kompetenz - die Klägerin sei zwei Erwerbstätigkeiten parallel nachgegangen - spreche gegen eine mittelgradige bzw. schwergradige depressive Episode.

Die Beklagte hat die beratungsärztliche Stellungnahme der H1 vom 07.07.2023 vorgelegt.

Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 14.12.2023 am 15.12.2023 ausdrücklich, eindeutig und vorbehaltslos einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt, ohne einen Beweisantrag zu stellen. Am 18.12.2023 hat die Beklagte ebenfalls einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt, worauf am 19.12.2023 der Termin zur mündlichen Verhandlung am 23.01.2023 (Terminsbestimmung vom 07.12.2023) aufgehoben worden ist, weil die Beteiligten einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt haben. Der Beschluss ist der rechtskundig vertretenen Klägerin am 19.12.2023 zugestellt worden.

Am 27.12.2023 hat sich ein neuer Prozessbevollmächtigter der Klägerin unter Vorlage einer Vollmacht der Klägerin vom selben Tag legitimiert und Akteneinsicht und Aufhebung der mündlichen Verhandlung beantragt. Der neue Prozessbevollmächtigte ist darauf hingewiesen worden, dass die Verhandlung bereits aufgehoben worden sei, nachdem die Beteiligten einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt haben; ihm ist Akteneinsicht und Fristverlängerung zur Stellungnahme bis 31.01.2024 mit weiterer Fristverlängerung bis 12.02.2024 gewährt worden.

Am 22.01.2024 hat die Klägerin vorgetragen, das Gutachten des B3 sei nicht verwertbar, da es schwierig zu lesen sei und den Akteninhalt nicht zusammenfassend wiedergebe. Nach den AWMF-Leitlinien sei eine vollständige Erfassung des Akteninhalts zu fordern.
Am 07.02.2024 hat die Klägerin im Wege der Anschlussberufung beantragt, die Beklagte zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.11.2019 zu verurteilen sowie zur Gebrauchsfähigkeit beider Hände ein orthopädisches Fachgutachten einzuholen. Die Sachverständigen N1 und B4 seien zu der schlüssig und nachvollziehbaren Auffassung gelangt, dass sie nicht mehr als drei Stunden täglich arbeiten könne, weshalb volle Erwerbsminderung vorliege. Es bestünden erhebliche Zweifel an der Gebrauchsfähigkeit beider Hände, da sie unter Polyarthrose leide, was die K1-Klinik ausführe, und nach B3 auch an dupuytrenschen Kontrakturen der Langfinger II/III beidseits. Es sei aufklärungsbedürftig, inwieweit sie noch auf einfachste Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden könne. B3 sei aufzugeben, seine Diagnosen unmissverständlich, übersichtlich, nachvollziehbar und unter Zuordnung zu den ICD-Codierungen aufzulisten. Er sei zu befragen, ob der Ausschluss seelischer bzw. seelisch-bedingter Störungen bzw. Hemmungen klinisch-relevanten Ausmaßes auch für die von der K1-Klinik und N1 festgestellte posttraumatische Belastungsstörung gelte und woraus er dies schließe, wie er das Ergebnis der von N1 durchgeführten testpsychologischen Untersuchungen beurteile, wonach die subjektiven Angaben für ein erhebliches depressives Erleben sprächen und keine Anzeichen für Verdeutlichung oder Aggravation sprächen, aus welchen medizinisch/fachwissenschaftlichen Erkenntnissen oder Lehrmeinungen er seine Folgerung ableite, dass aus der von der Klägerin beschriebenen Tagesstruktur auf das Fehlen leistungsrelevanter seelischer bzw. seelisch-bedingter Störungen bzw. Hemmungen geschlossen werden könne. Die Klägerin hat Lichtbilder von Händen sowie Auszüge der Leitlinien vorgelegt.

Mit gerichtlicher Verfügung vom 08.02.2024 ist die Klägerin darauf hingewiesen worden, dass der Senat in seiner nächsten Sitzung am 20.02.2024 ohne mündliche Verhandlung entscheiden werde, ob ein Urteil ergehe oder weiterer Beweis zu erheben ist.




                                                           Entscheidungsgründe


Der Senat konnte nach seinem Ermessen ohne mündliche Verhandlung gem. § 124 Abs. 2 SGG entscheiden. Die Klägerin hat durch ihren ehemaligen Prozessbevollmächtigten am 15.12.2023 schriftlich ausdrücklich, eindeutig und vorbehaltlos einer solchen Entscheidung zugestimmt; sie hat auch nicht ihre Zustimmung bis zum Eingang der Zustimmung der Beklagten am 18.12.2023 widerrufen. Einen Beweisantrag hat die Klägerin nicht gestellt, womit sich zuvor gestellte Beweisanträge erledigt haben (BSG, ständige Rechtsprechung, z. B. Beschluss 01.09.1999, B 9 V 42/99 B, juris). Die Zustimmung ist auch nicht wirkungslos geworden. Es ist nach der überzeugenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 06.10.1999, B 1 KR 17/99 R, Beschluss vom 06.10.2016, B 5 R 151/21 B, Beschluss vom 02.07.2019, B 2 U 156/18 B, Beschluss vom 16.07.2019, B 12 KR 102/18 B, Beschluss vom 12.05.2020, B 12 R 12/19 B, alle juris) anerkannt, dass bei einer wesentlichen Änderung der Prozesssituation die Zustimmung ihre Wirksamkeit verliert. Eine solche Änderung liegt insbesondere vor, wenn nach der Zustimmung durch Maßnahmen des Gerichts (Vernehmung eines Zeugen, Anhörung eines Beteiligten, Einholung einer Behördenauskunft, Beiziehung von Akten, Einholung einer beratungsärztlichen Stellungnahme) die Tatsachengrundlage verändert wird. Eine solche Maßnahme liegt nicht vor. Des Weiteren verliert eine Zustimmung seine Wirksamkeit, wenn der Rechtsmittelgegner erheblich neues Vorbringen vorträgt, neue Beweismittel oder Anträge stellt (BSG, a.a.O.). Im vorliegenden Fall hat nicht der Rechtsmittelgegner der Klägerin neues Vorbringen, neue Beweismittel oder neue Anträge vorgetragen bzw. gestellt, sondern die Klägerin hat ihre eigene vorbehaltlos erklärte Zustimmung durch Vorbringen zu bereits lange zuvor aktenkundigen Umständen angegriffen. Die Zustimmung erfolgte lange nach dem Gutachten des B3 und dessen ergänzender gutachtlicher Stellungnahme; auch die angesprochenen orthopädischen Erkrankungen der Hände waren vor der Zustimmung (Entlassungsbericht der K1-Klinik und Gutachten B3) bekannt. Die Anschlussberufung mit dem Antrag einer vollen Erwerbsminderung ab November 2019 ist nicht durch den Rechtsmittelgegner erfolgt. Zudem erfolgt sie in Anbetracht der Gutachten der N1 und B4, die ebenfalls lange vor der Zustimmung bekannt waren.   

Die nach den §§ 143, 144 und 151 SGG zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das SG hat zu Unrecht den angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 03.03.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.09.2020 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin vom 01.11.2019 bis zum 31.01.2024 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Die zulässige Anschlussberufung der Klägerin ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, da sie nicht erwerbsgemindert ist.


Nach § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in der ab dem 1. Januar 2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersrente an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 20. April 2007 (BGBl. I S. 554) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI) oder Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI), wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeinen Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Gemäß § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer - unabhängig von der Arbeitsmarktlage - unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Hieraus folgt, dass grundsätzlich allein eine Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit in zeitlicher (quantitativer) Hinsicht eine Rente wegen Erwerbsminderung zu begründen vermag, hingegen der Umstand, dass bestimmte inhaltliche Anforderungen an eine Erwerbstätigkeit aufgrund der gesundheitlichen Situation nicht mehr verrichtet werden können, einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung grundsätzlich nicht zu begründen vermag.


Bei dem tatbestandlichen Merkmal der Erwerbsminderung handelt es sich um ein positives, den Anspruch begründendes Element. Dies bedeutet, dass der Versicherte, vorliegend die Klägerin, die Folgen trägt, wenn, trotz Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten, eine rentenberechtigende Leistungsminderung nicht im Vollbeweis belegt ist. D.h. es muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass das Leistungsvermögen in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt ist. Bloße Zweifel genügen nicht (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Mai 2020 - L 5 R 3680/17 -, juris, dort Rn. 30).

Im Kontext der Frage des Vorliegens einer Erwerbsminderung ist nicht maßgebend, ob und welche Gesundheitsstörung vorliegt, entscheidend ist einzig, ob Leistungseinschränkungen bestehen, die der Ausübung einer Tätigkeit in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden täglich entgegenstehen. I. d. S. kommt es (bei Rentenbegutachtungen) weniger auf die Diagnosestellung, sondern auf die krankheitsbedingten Leistungseinschränkungen an (vgl. BSG, Beschluss vom 15.06.2021, B 5 R 52/21 B, LSG Thüringer, Urteil vom 30. Juni 2015 - L 6 R 166/08 ZVW -, juris), ob diese gesichert bestehen und ggf. überwunden werden können.

Maßgebend für die Annahme einer rentenrechtlich relevanten Leistungseinschränkung ist bei psychischen Erkrankungen, ob das in Ansehung der funktionellen Auswirkungen der psychischen Erkrankung verbleibende Fähigkeitsprofil des Versicherten, insb. im Hinblick auf Struktur, Teilhabe und Aktivität, eine Teilnahme am Erwerbsleben
zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erlaubt. Grundlage dieses Abgleichs bildet der psychische Befund und die individuelle Ausprägung der verschiedenen psychischen Qualitäten (Bewusstsein, Orientierung, Auffassung/Aufmerksamkeit und Konzentrationsvermögen, Gedächtnis, formales und inhaltliches Denken, Wahrnehmung, Ich-Erleben, Affektivität, Antrieb, Flexibilität und subjektives Krankheitsverständnis und Krankheitserleben). Funktionsbeeinträchtigungen, in gegebenem Kontext insb. die geistig-psychische Belastbarkeit, sind im Recht der Erwerbsminderungsrenten nur dann relevant, wenn sie sich auf die Fähigkeit zur Teilhabe unter besonderer Berücksichtigung des Erwerbslebens quantitativ (im Gegensatz zur bloß qualitativen Einschränkungen) auswirken. Das verbleibende qualitative Leistungsvermögen (positiv wie negativ) hat i.d.R. keine prägende Bedeutung für die rentenrechtlich erforderliche Reduzierung des Leistungsvermögens in zeitlicher Hinsicht. Erst wenn die Beeinträchtigungen durch die psychische Störung so gravierend sind, dass die Lebensführung durch sie geprägt wird, ist von einem quantitativ geminderten Leistungsvermögen auszugehen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen in der Regel nicht nur in der Teilhabe am Erwerbsleben manifestieren, sondern in allen Lebensbereichen mehr oder weniger starke Auswirkungen zeitigen. Hieraus folgt, dass von einer Minderung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben auszugehen ist, wenn die psychische Störung die gesamte Lebensführung übernommen hat.


In Anlegung dieser Maßstäbe ist der Senat davon überzeugt, dass die Klägerin in der Lage ist, einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden täglich und mehr nachgehen zu können, weshalb die Klägerin auch nicht teilweise erwerbsgemindert ist. Der Senat stützt sich auf das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen B3, das schlüssig und nachvollziehbar ausgeführt hat, dass die Klägerin lediglich an einem leichtgradigen Wirbelsäulen-Syndrom sowie an einer Dysthymie leidet. Der psychische Befund war weitgehend unauffällig. Die Klägerin erschien rechtzeitig mit sehr gepflegtem Erscheinungsbild. In der insgesamt nahezu zweistündigen Explorationssituation einschließlich abschließender ausführlicher körperlicher Untersuchung war die Klägerin stets bewusstseinsklar und hinsichtlich Ort, Zeit, Person und Situation voll orientiert. Wahrnehmung und Auffassung waren ungestört, daran ablesbar, dass die Klägerin den Kern der an sie gerichteten Fragen stets sofort erfasste und diese zielgerichtet in adäquater Geschwindigkeit beantworten konnte. Die Gedächtnisleistungen waren im Langzeit- und Kurzzeitbereich ungestört, daran ablesbar, dass sie ihre Biografie in ein sinnvolles Zeitgitter einordnen konnte, angereichert mit vielen Details und dass sie auch kurz zurückliegende Einzelheiten erinnerte. Im Rahmen der längeren Exploration war sie zu späteren Zeitpunkten auch in der Lage, an initial angerissene Themenbereiche anzuknüpfen, und sie konnte auch Einzelheiten, die sie bei ihrer Darlegung vergessen hatte, zu späteren Zeitpunkten nachtragen bzw. korrigieren; insofern waren auch Merkfähigkeitsstörungen auszuschließen. Die Antriebssituation war ungestört. Weder lag eine Antriebshemmung noch eine Antriebsreduktion, vielmehr adäquates psychomotorisches Tempo, lebhafte Gestik und Mimik, regelrechte Sprechgeschwindigkeit und gute Stimmmodulation vor. Insbesondere war die Klägerin auch häufig in der Lage, die Initiative in der Exploration zu ergreifen. Es bestand jedoch auch keine Antriebssteigerung, daran ablesbar, dass die Klägerin der Untersuchung ruhig auf ihrem Stuhl sitzend folgen konnte, ohne Nachlassen der Konzentrationsfähigkeit und ohne erhöhte Ablenkbarkeit. Aufgrund der exakten Auffassungsgabe, der guten Verbalisationsfähigkeit und des erhaltenen Abstraktionsvermögens ergaben sich unter klinischen Gesichtspunkten auch keine Hinweise auf eine globale intellektuelle Beeinträchtigung im Vergleich zur Schulkarriere und ihrer beruflichen Tätigkeit. Das Denkvermögen war unter formalen Gesichtspunkten gesehen in sich zusammenhängend, logisch aufgebaut, vom Hörer nachvollziehbar, ohne Gedankenabreißen, ohne Gedankenspringen, ohne Neigung, am Thema zu haften, und ohne Wiederholungsneigung bei regelrechter Denkgeschwindigkeit ohne Verlangsamung und Beschleunigung. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten zeigten sich auch keine Hinweise auf überwertige Ideen, Zwangsgedanken oder gar Wahngedanken. Auch produktive Wahrnehmungsstörungen wie Halluzinationen und sogenannte Ich-Störungen wie Fremdbeeinflussungserlebnisse waren nicht zu eruieren. In affektiver Hinsicht war ein guter Rapport zur Klägerin herstellbar. Es bestand keine durchgängige Verschiebung der Grundstimmung in einen deprimiert-gehemmten oder ängstlichen Modus, jedoch auch nicht dysphorisch-gereizt oder für die Situation inadäquat euphorisch. Auch freudige Affekte mit lachen und schmunzeln waren in der Untersuchung nicht ausgespart. Somit bestand eine voll erhaltene affektive Modulationsfähigkeit (emotionale Schwingungsfähigkeit). Depressive Symptome, wie eine gedrückte Stimmung, Interessensverlust, Unfähigkeit sich freuen zu können sowie eine Antriebshemmung, eine erhöhte Ermüdbarkeit und Aktivitätseinschränkung, vermindertes Konzentrations- und Aufmerksamkeitsvermögen, ein vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit, negative und pessimistische Zukunftsperspektiven, Gedanken über oder tatsächlich erfolgte schwerwiegende Selbstverletzungen oder Suizidhandlungen, Schlafstörungen und verminderter Appetit haben sich bei der Klägerin bei der Untersuchung durch B3 weder zum Untersuchungszeitpunkt im Querschnittsbefund (jede psychiatrische Untersuchung zu einem bestimmten Zeitpunkt) in relevantem Umfang feststellen lassen noch haben sich solche Symptome über längere Zeiträume hinweg aus der längsschnittlichen Betrachtung ihrer eigenen anamnestischen Angaben und der Aktenlage ableiten lassen. Der gerichtliche Sachverständige B3 hat aus der negativ-getönten Befindlichkeit für den Senat schlüssig und nachvollziehbar lediglich eine sogenannte Dysthymie feststellen können. B3 hat wegen fehlender sozialer Rückzugstendenzen, fehlendem Verlustes der allgemeinen Tagesstrukturierung und Verlustes des allgemeinen Interessensspektrums (unter anderem Urlaub in D1 2020 sowie Besuche des Campingplatzes an den Wochenenden mit ihrem Mann, s. Bl. 5 f., 18 f des Gutachtens) und fehlenden Verlustes der beruflichen Kompetenz (siehe oben) für den Senat schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass aus der Dysthymie lediglich überwindbare und keinesfalls unüberwindbare psychische Hemmungen abzuleiten sind.
Das Gutachten sowie die ergänzende gutachtliche Stellungnahme des
B3 sind auch verwertbar. B3 hat die Akten zur Kenntnis genommen und konkret ausgewertet, was sich u. a. daran zeigt, dass er häufig Bezug auf sie nimmt. Eine zusammenfassende Darstellung des Akteninhalts mag zwar sinnvoll sein (AWMF- Leitlinie Nr. 051-029 Teil I, Gutachtliche Untersuchung bei psychischen und psychosomatischen Störungen: unstrukturierte Wiedergabe von Aktenteilen sollte vermieden werden, s. Bl. 271 der LSG-Akten); eine Unverwertbarkeit resultiert hieraus jedoch nicht.

Nicht folgen konnte der Senat dem Gutachten des B4. B4 schließt nicht schlüssig und nachvollziehbar aus den Befunden auf die gestellten Diagnosen. Trotz einer mittelgradigen bis schwergradigen depressiven Episode -die per se nicht auf Dauer vorliegt- beschreibt er keine formalen Denkstörungen im Sinne einer depressiven Denkhemmung und keine depressiv induzierten kognitiven Defizite bezüglich Auffassung und Konzentration, wie B3 insbesondere in seiner ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme schlüssig nachvollziehbar dargelegt hat. B4 hat auch nicht die gravierenden Diskrepanzen zwischen Befunden und Befinden erkannt und diskutiert, obwohl auch er von Aggravationstendenzen spricht. Trotz der Angabe eines stark verminderten Antriebs war die Klägerin in der Lage gewesen, einer stundenlangen Anamneseerhebung zu folgen. Auch die erhaltene berufliche Kompetenz spricht gegen eine mittelgradige bzw. schwergradige depressive Episode. Nicht nachvollziehbar ist für den Senat auch, dass B4 aufgrund psychodynamischer Zusammenhänge, die von B2 und B3 nicht anerkannt worden seien, zu einer gravierenden abweichenden Beurteilung des Restleistungsvermögens gelangt. Die Beratungsärztin der Beklagten H1, hat unter dem 07.07.2023 insofern überzeugend dargelegt, dass die psychodynamischen Aspekte für die Therapie zwar wichtig, für die Leistungsbeurteilung aber von geringer Relevanz sind.

Nicht folgen konnte der Senat auch dem Gutachten des N1. Unter anderem ist nicht nachvollziehbar, weshalb das von N1 festgestellte Restleistungsvermögen seit November 2019 gilt, wenn er in Abweichung zu B2 maßgeblich auf eine mittelgradige depressive Episode, die per se nicht auf Dauer vorliegt, abstellt. Noch weniger ist nachvollziehbar, wie das unvollständig beantwortete Testverfahren des Beck‘schen Depressionsinventar zu dem validen Ergebnis eines erheblichen depressiven Erlebens gelangen konnte. Ein unauffälliger SFSS-Beschwerdevalidierungstest allein vermag nicht zu überzeugen; bei B2 war dieser Test bei einem cut-off von 16 mit einem Wert von 33 zudem extrem auffällig (s. Bl. 316 f. der Verwaltungsakten der Beklagten). Die unzureichende Behandlung lässt auf einen geringen Leidensdruck schließen. So war die Klägerin bei keinem Psychiater in Behandlung gewesen. H2 ist lediglich Arzt für Neurologie und der psychologische Psychotherapeut S3 ist kein Arzt; auch bei diesen Behandlern war die Klägerin selten. Lediglich bei der Fachärztin für Allgemeinmedizin befand sich die Klägerin in Behandlung; eine tiefergehende Schmerztherapie fehlt trotz angegebener Höchstwerte der Schmerzausprägung. Auch bei B2 haben sich erhebliche Diskrepanzen zwischen reklamierten körperlichen wie psychischen Beschwerden und korrespondierend abbildbaren Funktionsstörungen gezeigt. N1 hat keine ausreichende Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung vorgenommen. Die von der Klägerin angegebene Schmerzbeeinträchtigung (höchstmögliche Beeinträchtigung 10 von 10 an 90 Tagen in den letzten 3 Monaten) hätte sich während der Untersuchungssituation niederschlagen müssen, was jedenfalls nicht hinreichend dokumentiert ist; auch fehlt es in Anbetracht dieser Schmerzintensität an einer adäquaten Behandlung.

Nicht folgen konnte der Senat auch dem ärztlichen Entlassungsbericht der K1-Klinik vom 17.07.2019 hinsichtlich der Beurteilung der auf psychiatrischem Fachgebiet bedingten Leistungseinbuße, da er für seine Leistungsbeurteilung, die Klägerin sei unter 6 Stunden leistungsfähig, keine schlüssigen und nachvollziehbaren Befunde darlegt. Der Entlassungsbericht führt schlüssig und nachvollziehbar aus, dass die orthopädischen Erkrankungen (Koxarthrose bei Hüftdysplasie, degeneratives HWS- und LWS-Syndrom und Fingerpolyarthrose) einer leichte bis mittelschwere Tätigkeiten nicht entgegenstehen.
Mit den von B2 und B3 überzeugend festgestellten qualitativen Leistungseinschränkungen liegt weder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen noch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vor. Der Klägerin sind beispielsweise einfache Bürotätigkeiten oder einfache Sortier-, Montier- oder Verpackungstätigkeiten mit leichten Industrie- und Handelsprodukten (vgl. BSG, Urteil vom 24.02.1999, B 5 RJ 30/98 R, juris) vollschichtig möglich, sodass sich Bereiche des allgemeinen Arbeitsmarktes beschreiben lassen, weshalb es der Benennung einer Verweisungstätigkeit nicht bedarf. Auch ist die Wegefähigkeit (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.1991,13/5 RJ 73/90, juris) hiernach schlüssig und nachvollziehbar nicht rentenrelevant eingeschränkt. Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI kommt bei der Klägerin von vornherein nicht in Betracht, da sie erst nach dem Stichtag geboren ist, worauf bereits das SG hingewiesen hat.

Weitere Ermittlungen von Amts wegen haben sich dem Senat nicht aufgedrängt.
Ein orthopädisches Gutachten war nicht einzuholen, da die K1-Klinik im Entlassungsbericht vom 17.07.2019 ausdrücklich ausgeführt hat, dass die orthopädischen Erkrankungen (Koxarthrose bei Hüftdysplasie und degeneratives HWS- und LWS-Syndrom und Fingerpolyarthrose) einer leichten bis maximal mittelschweren körperlichen Tätigkeit nicht entgegenstehen. B3 hat Dupuytrensche Kontrakturen II/III beidseits ohne relevantes Streckdefizit beschrieben, so dass keinerlei Anhaltspunkte für eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes bestehen. Die Klägerin war schließlich auch bis vor kurzem berufstätig (s. o.), ohne dass die Beendigung auf die Gebrauchsfähigkeit der Hände bezogen worden wäre. Ermittlungen zur Frage, inwieweit die Klägerin unter Berücksichtigung der Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit beider Hände noch auf einfachste Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden könne, würden ins Blaue hinein erfolgen; zudem ist der Beweisantrag nicht prozessordnungsgemäß gestellt. Weder wird ein Gutachter benannt noch eine relevante Einschränkung bezeichnet, deren Vorliegen zu prüfen wäre. Zudem haben B3, aber auch B4 keine weiteren Ermittlungen für notwendig erachtet.
Von B3 war auch keine weitere ergänzende gutachtliche Stellungnahme einzuholen. Der gerichtliche Sachverständige hat nach ICD-10 diagnostiziert (vgl. z. B. Bl. 15, 16, 17, 19, 20, 25, 26 des Gutachtens), weshalb er nicht hierzu aufzufordern war. Außer einer Dysthymie hat B3 auf psychiatrischem Fachgebiet keine weiteren Erkrankungen festgestellt, weshalb auch eine posttraumatische Belastungsstörung von ihm ausgeschlossen worden ist. Bei einer eindeutigen Aussage des gerichtlichen Sachverständigen bedarf es keiner Nachfrage. B3 hat auch zutreffenderweise die Tagesstruktur erhoben, da sich relevante psychische Erkrankungen auch auf private Lebensbereiche erstrecken (s. o.). Auch die von der Klägerin vorgelegt AMWF-Leitlinie verlangt eine Anamnese zum Tagesablauf (vgl. Bl. 270 der LSG-Akten). Die Beurteilung des Restleistungsvermögens des B3 bei unauffälligem psychopathologischem Befund unter Berücksichtigung der allgemeinen Tagesstruktur (aber auch der sozialen Interaktionsmuster, des allgemeinen Interessenspektrums und der sozialen und beruflichen Kompetenz) entspricht der Rechtslage (s. o.), ist eindeutig und überzeugt (s. o.) und bedarf keiner Nachfrage. Die Frage nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen gerade zur Tagesstruktur der Klägerin ist abwegig. Auch zu den testpsychologischen Untersuchungen hat der gerichtliche Sachverständige Ausführungen gemacht (vgl. Bl. 21 ff des Gutachtens). Eine Nachfrage war nicht erforderlich. Der Senat hat die Ergebnisse der testpsychologischen Untersuchungen bei N1 im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt (s.o.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Maßgeblich für den Senat war, dass die Klägerin mit ihrem Begehren ohne Erfolg geblieben ist und die Beklagte keinen berechtigten Anlass zur Klageerhebung geboten hat.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.


 

Rechtskraft
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