S 18 KG 39/22

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Nürnberg (FSB)
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 18 KG 39/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

S 18 KG 39/22

    
SOZIALGERICHT NÜRNBERG
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
in dem Rechtsstreit

A., 
A-Straße, A-Stadt
- Kläger –

Proz.-Bev.:
Rechtsanwältin B., B-Straße, B-Stadt 

gegen
Familienkasse Baden-Württemberg West, Rechtsbehelfsstelle, Klagen, vertreten durch den Geschäftsführer Operativer Service der Agentur für Arbeit Freiburg, 
Lörracher Straße 16 a, 79115 Freiburg im Breisgau 
- Beklagte –

Kindergeldrecht, ohne Streitigkeiten nach §§ 6a und 6b BKGG

Die 18. Kammer des Sozialgerichts Nürnberg hat auf die mündliche Verhandlung in Nürnberg
am 11. Dezember 2024
durch die Richterin am Sozialgericht a.w.a.Ri. Rauschert als Vorsitzende sowie die ehrenamtlichen Richter K. und B1 für Recht erkannt:

I. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom15.08.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom     07.11.2022 verurteilt, an den Kläger Kindergeld in gesetzlicher Höhe für den Zeitraum 01.01.2022 bis 02.02.2024 zu gewähren.

II.    Die Beklage hat die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

T a t b e s t a n d :


Streitig ist die Gewährung von Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) für den Zeitraum Januar 2022 bis Februar 2024.

Der 2001 in Äthiopien geborene Kläger stellte im Januar 2022 einen Antrag auf Kindergeld für sich selber. Er floh im Jahr 2013 aus seiner Heimat über den Sudan und Libyen nach Deutschland und reiste dort als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling im Jahr 2016 ein. Seit 01.01.2022 hat er einen Aufenthaltstitel nach § 25a Abs. 1 AufenthaltsG. Ab dem 01.09.2020 befand sich der Kläger in einer beruflichen Ausbildung zum Konstruktionsmechaniker. 

In seinem Antrag auf Kindergeld gab der Kläger an, dass er zuletzt im Jahr 2013 zu seinem Vater und seiner Mutter persönlichen Kontakt gehabt habe. Der Aufenthaltsort derselben sei ihm unbekannt. Bei den Fragen zu seinen Eltern konnte er lediglich die Namen seiner Eltern, nicht aber Adressen oder Geburts- wie auch Todestage angeben. 

Mit Bescheid vom 10.03.2022 lehnte die Beklagte die Gewährung von Kindergeld nach § 1 Abs. 2 BKGG ab, weil der Kläger keine Vollwaise sei und keine Bemühungen dargelegt worden seien, dass er versucht habe, den Aufenthaltsort seiner Eltern zu ermitteln. Nachdem der Bescheid nicht bekanntgeben werden konnte, wurde er dem Kläger nochmals mit Schreiben vom 17.05.2022 an seine neue Postadresse übermittelt. Mit Schreiben vom 03.06.2022 erhob der Kläger hiergegen Widerspruch. Zur Begründung führte er aus, dass er im Zuge seiner Identitätsklärung über Rathäuser und andere Institutionen in seinem Heimatland versucht habe, Kontakt zu noch lebenden Verwandten aufzunehmen und ihren Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Im Rahmen einer Anhörung zur Widerspruchsfrist gab er an, dass er erst im Mai 2022 nach einer telefonischen Rückfrage zu dem Bearbeitungsstand seines Kindergeldantrags unter Mitteilung seiner neuen Adresse den Bescheid erstmals mit Übersendung der Kopie erhalten habe. 


Ergänzend zu seinem bisherigen Vortrag führte der Kläger aus, dass er mit seiner Mutter im Jahr 2013 aus Äthiopien geflüchtet sei, nachdem sein Vater verhaftet worden sei. Sein Vater habe für die Oppositionspartei demonstriert. Seitdem habe er keinen Kontakt mehr zu seinem Vater gehabt. Seine Mutter und er seien auf der Flucht in Libyen getrennt worden. Seither bestehe kein Kontakt mehr. Er habe versucht, über Facebook Kontakt aufzunehmen. Zudem habe er zwei Schulfreunde zu seinem Elternhaus geschickt, dort sei niemand mehr.

Mit Bescheid vom 15.08.2022 lehnte die Beklagte (erneut) die Gewährung von Kindergeld ab September 2021 ab, weil der Kläger keine Bemühungen dargelegt habe, den Aufenthaltsort seiner Eltern zu ermitteln.

Den über seine Bevollmächtigte eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 07.11.2022 zurück.

Hiergegen hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers am 06.12.2022 Klage zum Sozialgericht Nürnberg erhoben. 

In der Klagebegründung hat die Prozessbevollmächtigte ausgeführt, dass der Kläger diverse Bemühungen unternommen habe, seine Eltern zu finden. Es habe vergeblich versucht, zu seinem Onkel in Äthiopien Kontakt aufzunehmen. Im Jahr 2022 habe er dem Roten Kreuz einen Suchauftrag gegeben, bisher erfolglos. 

Die Beklagte hat dagegen vorgetragen, dass der Kläger nicht Vollwaise sei, die Akten der Ausländerbehörde seien beizuziehen ebenso wie die Akten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), um nachzuprüfen, ob der Kläger dort dieselben Angaben gemacht habe. Der Kläger habe keine Bemühungen zum Auffinden seiner Eltern vorgelegt bzw. nachgewiesen. 

In einer ersten Verhandlung hat der Kläger vor Gericht am 27.04.2023 ausgeführt, dass sein Vater im Jahr 2010 inhaftiert worden sei. Während der Flucht sei er in Libyen von seiner Mutter getrennt worden, da Männer und Frauen vor der Überquerung in unterschiedlichen Hallen untergebracht worden seien. Er sei auf einem anderen Boot als seine Mutter gewesen. Eines der Boote sei zudem nicht in Italien angekommen bzw. gesunken, ob seine Mutter an Bord dieses Bootes gewesen sei, sei ihm nicht bekannt. Er habe seitdem keinen Kontakt mehr. Er wisse nicht, in welches Gefängnis sein Vater damals inhaftiert worden sei. Sein jüngerer Bruder, der zu Beginn der Flucht ca. 6 Jahre alt gewesen sei, sei bei seinem Onkel in Äthiopien untergebracht worden. Auch zu diesem habe er bislang keinen Kontakt aufbauen können. Die Beklagte vertritt die Ansicht, dass der Kläger in den Ausländerakten und der Akte des BAMF teils widersprüchliche Angaben zu Daten und Namen (Schreibweise) gemacht habe. Zudem sei nicht geklärt, warum der Kläger nicht weitere Onkel und Tanten mit der Suche nach seinen Eltern beauftragt habe. Auch möge erklärt werden, ob der Kläger mittlerweile zu seinem Bruder Kontakt habe. Der Kläger habe zudem nicht nachgewiesen, dass er bei deutschen Behörden oder aber der äthiopischen Botschaft um Hilfe nach der Suche seiner Eltern ersucht habe. Auch möge der Kläger erklären, warum er erst im November 2022 das Rote Kreuz im Hilfe gebeten habe. Die Beklagte ist der Ansicht, dass der Kläger nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft habe, den Aufenthaltsort seiner Eltern zu ermitteln, entsprechend der Regeln der Beweislast sei er daher nicht in Unkenntnis vom Aufenthaltsort, Kindergeld stehe ihm daher nicht zu. Auch das Familiengericht habe in seinem Beschluss vom 14.11.2017 beschlossen, dass die elterliche Sorge ruhe, dieses gehe also auch nicht davon aus, dass der Kläger Vollwaise sei. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung ist der Kläger zu diesen Vorwürfen nochmals ausführlich befragt worden. Zudem hat er ausgeführt, dass er auf eigene Kosten im Jahr 2024 nach Äthiopien gereist sei. Er habe zwar seinen Onkel H. und seien Bruder wiedergefunden. Nicht aber seine Eltern. Auch sein Onkel bzw. sein Bruder hätten keinen Kontakt. 

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 15.08.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.11.2022 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Kindergeld in gesetzlicher Höhe für den Zeitraum 01.01.2022 bis 02.02.2024 zu gewähren.

Die Beklagtenvertreterin beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakte, die beigezogene Akte des Ausländeramtes und des BAMF, die Gerichtsakte sowie das Vorbringen der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung verwiesen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :


Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage im Sinne des § 54 Abs. 1, 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist zulässig. Insbesondere ist das Sozialgericht Nürnberg sachlich und örtlich zuständig (§ 15 BKGG, § 57 Abs. 1 SGG).

Die Klage ist auch begründet. Der streitige Bescheid der Beklagten vom 15.08.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.11.2022 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat für den streitigen Zeitraum einen Anspruch auf Kindergeld für sich selber gem. § 1 Abs. 2 und 3 BKGG i.V.m. §§ 2 Abs. 2, 5 Abs. 1, 6, 9, 11 BKGG.

Als Kind ist gemäß § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 lit. a) BKGG unter anderem zu berücksichtigen, wer noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat und in einem Beruf ausgebildet wird.

Der 2001 geborene Kläger befand sich im streitigen Zeitraum in einer Berufsausbildung und hat das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet, so dass der als Kind berücksichtigungsfähig ist.

Nach § 1 Abs. 2 S. 1 BKGG erhält ausnahmsweise das Kind selbst das Kindergeld, wenn
es in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Nr. 1), Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt (Nr. 2) und nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist (Nr. 3).

Im konkreten Fall ist lediglich im Streit, ob der Kläger den Aufenthalt seiner Eltern im Sinn des Gesetzes nicht kennt. Der Kläger ist nicht nachgewiesener Maße Vollwaise, es ist offen, ob sein Vater oder aber seine Mutter noch am Leben sind.

Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 14.12.2023 - B 10 KG 1/22 R -, juris) kennt ein Kindergeld für sich selbst beanspruchendes Kind den Aufenthalt seiner Eltern im Sinn des § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG nur dann nicht, wenn es nicht weiß, an welchem für ihn bestimmbaren Ort sich seine Eltern befinden, wenn im Rahmen einer ex-ante Betrachtung aus seiner Sicht keine zumutbare Möglichkeit besteht, innerhalb eines angemessenen Zeitraums in Kontakt mit den Eltern zu treten und
wenn Dauer und Ausmaß der Unkenntnis über den Verbleib seiner Eltern nach den Umständen des Einzelfalls objektiv den unwiederbringlichen Verlust der Eltern-Kind-Beziehung befürchten lassen. Steht die Kenntnis vom Aufenthalt der Eltern eines Kindergeld für sich selber beanspruchenden Kindes infrage, hat die Familienkasse die vom Kind behauptete Unkenntnis in Erfüllung ihrer Amtsermittlungspflicht festzustellen; im Streitfall ist dies auch Sache der Tatsachengerichte.

Übertragen auf den vorliegenden Fall hat der Kläger keinerlei Kenntnis von dem Aufenthalt beider Elternteile. Weder lässt sich ein Ort oder gar Land bestimmen, in welchem sich ein Elternteil aufhalten könnte, noch ist eine Kontaktaufnahmemöglichkeit über soziale Medien etc. aktuell oder auch in der Vergangenheit erreicht worden. 
Im Rahmen einer ex-ante Sicht bestand nach voller Überzeugung der Kammer auch keine zumutbare Möglichkeit für den Kläger, innerhalb eines angemessenen Zeitraums in Kontakt zu seinen Eltern zu treten und/oder deren Aufenthaltsort zu erfahren. 
Voranzustellen ist zunächst, dass der Kläger als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling im Alter von 15 Jahre nach Deutschland eingereist ist. Als solcher ist er vom Jugendamt in Obhut genommen worden (§ 42 Abs. 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VIII]). Nach Art. 9 Abs. 1 Satz 1 und Art. 10 Abs. 1 Satz 1 der UN-Kinderrechtskonvention sowie Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und Art. 7 der Grundrechtecharta hat der gerichtlich berufene Erziehungsberechtigte eines minderjährigen Flüchtlings die Aufgabe, die Familienzusammenführung zu fördern. Dies beinhaltet insbesondere die Bemühungen, die Eltern des Kindes ausfindig zu machen und eine Wiedervereinigung zu ermöglichen. Offensichtlich waren diese Bemühungen des Jugendamtes in der Zeit der Minderjährigkeit des Klägers ebenso erfolglos wie die eigenen Bemühungen des Klägers, obgleich eine Behörde über mehr Ressourcen und Kompetenzen diesbezüglich verfügen (sollte).


Soweit des BSG in seinem Urteil (a.a.O. Rn. 29) pauschal davon ausgeht, es sei allen Flüchtlingen möglich, nahezu weltweit über Messenger-Dienste etc. Kontakt zu Elternteilen bzw. Angehörigen aufrecht zu erhalten erweist sich diese Annahme nach Ansicht der Kammer als völlig lebensfremd. Für Messenger-Dienste bedarf es eines technischen Hilfsmittels und Kontaktdaten. Handys (mitsamt der darauf gespeicherten Daten) können auf der Flucht abhandenkommen, was eine Kontaktaufnahme (wenn - wie es mittlerweile die Regel ist - Telefonnummern nicht mehr auswendig bekannt sind) erheblich erschwert. Zudem hat gerade nicht jede Person Zugang zu Internet oder mobilen Daten. In vielen ländlichen Regionen insbesondere in Teilen Afrikas fehlt es an Breitbandinternet oder Mobilfunknetzen, zum Teil wegen der Zerstörung der Infrastrukturen aufgrund von Krieg. Auch kann sich in ärmeren Regionen Afrikas, zu welcher  Äthiopien wohl gehören dürfte, nicht jeder Mensch die Kosten für ein Smartphone oder Internet leisten. Teilweise regulieren Länder die sozialen Medien, um politische Kontrolle auszuüben. Auch dies erschwert eine Kontaktaufnahme (insbesondere, wenn wie im vorliegenden Fall der Vater des Klägers ein in  Äthiopien staatlich gesuchter ggf. flüchtiger Oppositioneller ist). Auch kann nicht pauschal unterstellt werden, dass jeder Mensch weltweit ausreichend digitale Bildung hat, um die Medien entsprechend nutzen zu können. Dennoch hat der Kläger glaubhaft und zur vollen Überzeugung der Kammer nachvollziehbar dargelegt, dass er eine Kontaktaufnahme per sozialen Medien versucht hat, am Ende auch mit dem Erfolg, dass er seinen Onkel hat kontaktieren können. Die Suche des Roten Kreuzes war erfolglos. Um seine Familie zu finden, ist er dann sogar auf eigene Kosten in sein Heimatland gereist. Seine Eltern hat er dort aber nicht finden können. 

Aus den oben angeführten Gründen kann dem Kläger auch kein rechtsmissbräuchliches "Sich-Verschließen" von der Kenntnis des Aufenthaltsorts seiner Eltern vorgeworden werden. 
Nach allgemeiner Ansicht ist der positiven Kenntnis vom Aufenthalt nach dem allgemeinen Rechtsgedanken des § 162 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ein rechtsmissbräuchliches Sich-Verschließen vor der Kenntnis gleichzustellen (vgl. BSG Urteil vom 8.4.1992 - 10 RKg 12/91 - SozR 3-5870 § 1 Nr. 1 -juris Rn. 18; vgl. BGH Urteil vom 16.5.1989 - VI ZR 251/88 - juris Rn. 15; BGH Urteil vom 5.2.1985 - VI ZR 61/83 - juris Rn. 16 f; BGH Urteil vom 18.10.2016 - XI ZR 145/14 - BGHZ 212, 286 - juris Rn. 34, BSG Urteil vom 14.12.2023 - B 10 KG 1/22 R Rn. 30). Das Verbot eines solchen Sich-Verschließens stellt eine spezielle Ausprägung des auch im Sozialrecht anwendbaren allgemeinen Rechtsgrundsatzes von Treu und Glauben dar (vgl. BSG Urteil vom 14.12.2023 - B 10 KG 1/22 R Rn. 30). Ein Kind verschließt sich in diesem Sinne missbräuchlich der Kenntnis vom Aufenthalt seiner Eltern, wenn es versäumt, eine sich ihm ohne Weiteres anbietende, gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit wahrzunehmen, deren Erlangung weder besondere Kosten noch Mühen verlangt und deren Nutzung deshalb insbesondere von einem Kind auf der Suche nach seinen Eltern erwartet werden kann. Hierzu zählt selbstredend der Versuch der Kontaktaufnahme über soziale Medien. Unzumutbar ist dagegen das Verlangen eines ziellosen Aktionismus des Kindes (so wie es hier von der Beklagten gefordert worden ist). Die Grenze der zumutbaren Ermittlungsmöglichkeiten ist nach Ansicht der Kammer dann erreicht, wenn keinerlei Anknüpfungspunkte mehr vorhanden sind, wo sich ein Elternteil aufhalten könnte und sich die Ermittlungspflicht quasi "ins Blaue hinein" ohne jeden konkreten Ansatz für die Suche als "Schikane" darstellt. Verlangt werden kann nur eine Erkenntnismöglichkeit, welche ohne besonderen Kosten und Mühen möglich ist. Diese hat der Kläger nach Ansicht der Kammer ausgeschöpft (Suche über Freunde, Internet, Rotes Kreuz). Andere zumutbare Erkenntnismöglichkeiten sind entgegen der Ansicht der Beklagten nicht erkennbar. Dies gilt umso mehr, als dass im vorliegenden Fall die konkrete "gute" Möglichkeit besteht, dass beide Elternteile nicht mehr am Leben sind. Aus der Sicht des Klägers stellt sich zweifellos der Verlust der Eltern-Kind-Beziehung als unwiederbringlich dar.

Dem Kläger kann zudem weder eine fehlende Mitwirkung bei der Ermittlung des Aufenthaltsorts seiner Eltern vorgeworden werden, noch bestehen nach Ansicht der Kammer nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten Zweifel an der Unkenntnis.

Nach der Rechtsprechung des BSG gehen verbleibende Zweifel an der Unkenntnis des Kindes vom Aufenthalt der Eltern nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten als anspruchsbegründende innere Tatsache zu Lasten des Kindes (BSG Urteil vom 14.12.2023 - B 19 KG 1/22 R Rn. 34). Die Unkenntnis vom Aufenthaltsort stellt ein sogenanntes Negatives Tatbestandsmerkmal dar. Eine pauschale Übertragung der allgemeinen Beweislastregeln ist nach Ansicht der Kammer bei negativen Tatbestandsmerkmalen nicht angemessen. Denn der Beweis eines negativen Tatbestandsmerkmal kann allgemein nicht durch den Nachweis der negativen Tatsache geführt werden ("negativa non sunt probanda"). Im Zivilrecht gilt bei negativen Tatbestandsmerkmalen eine abgestufte Darlegungs- bzw. Bestreitenslast, vereinfacht ausgedrückt wird dort das negative Tatbestandsmerkmal durch die Widerlegung anderslautender positiver Tatsachen nachgewiesen (vgl. hierzu Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25.05.2016 - L 9 KR 134/13 -, juris). Unter bestimmten Umständen ist im Zivilrecht sogar eine Umkehr der Beweislast möglich (vgl. BGH Beschluss vom 20.06.2017 - VI ZR 505/16). Eine solche abgestufte Beweislast existiert auch im vom Amtsermittlungsgrundsatz geprägten öffentlichen (sozial-) Recht (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29. März 2023 - L 10 KR 610/20 -, juris Rn. 66 m.w.N.). Übertragen auf den vorliegenden Fall muss die Beklagte - wenn nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten unter uneingeschränkter Mitwirkung des Kindes eine Kenntnis vom Aufenthaltsort der Eltern nicht nachgewiesen werden kann - einen Nachweis dafür erbringen, dass eine Kontaktaufnahme zu einem Elternteil dennoch (einfach) möglich ist. 

Nach Ansicht der Kammer sind alle Ermittlungsmöglichkeiten ausgeschöpft. Auch die Beiziehung der Akte des Betreuungsgerichts etc. würden nach der Überzeugung der Kammer keine weiteren Erkenntnisse zu dem Aufenthaltsort der Eltern des Klägers beibringen. Angesichts der Vielzahl von Befragungen im Rahmen des Asylverfahrens und auch vor der erkennenden Kammer hat der Kläger stets schlüssig und nachvollziehbar Angaben gemacht. Die kleineren von der Beklagten aufgeworfenen Ungereimtheiten sind teilweise auf die Sprachbarriere zurückzuführen und zeigen auch, dass der Kläger gerade nicht "eine Geschichte" auswendig gelernt hat und sich daher in der Erinnerung nach 10 Jahren nicht mehr alles genau wiedergegeben kann. Dies spricht nach Überzeugung der Kammer gerade für eine Glaubwürdigkeit des Vorbringens des Klägers. Nach Ausschöpfung aller zumutbaren Erkenntnisquellen kann eine Kenntnis des Klägers oder aber ein rechtsmissbräuchliches "sich Verschließen" zu dem Aufenthalt eines Elternteils nicht festgestellt werden. 

Der Kläger erfüllt mithin die Voraussetzungen für eine Zahlung von Kindergeld an sich selber, so dass der Klage stattzugeben war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
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