L 7 AS 1601/24

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 6 AS 3047/22
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 AS 1601/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe 24. April 2024 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.



Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen eine endgültige Leistungsfestsetzung und einen Erstattungsbescheid, mit welchem Leistungen für die Zeit vom 1. September 2021 bis 28. Februar 2022 in voller Höhe zurückgefordert werden.

Der 1970 geborene Kläger steht laufend im Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Der Kläger betreibt im Rahmen einer selbstständigen Tätigkeit eine Shisha-Bar.

Auf den Weiterbewilligungsantrag des Klägers vom 10. Juli 2021 bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 21. Juli 2021 Leistungen für die Zeit vom 1. September 2021 bis 28. Februar 2022 vorläufig unter Ansatz eines Einkommens aus Erwerbstätigkeit entsprechend der vorläufigen Angaben des Klägers in Höhe von 321,13 EUR monatlich abzüglich 144,23 EUR Freibetrag. Als Grund für die Vorläufigkeit gab der Beklagte das im Zusammenhang mit dem Coronavirus unklare Einkommen des selbstständigen Klägers an. Aufgrund der Neufestsetzung der Regelbedarfe setzte der Beklagte mit Änderungsbescheid vom 27. November 2021 die weiterhin vorläufig bewilligten Leistungen für die Monate Januar und Februar 2022 neu fest.

Mit Schreiben vom 7. März 2022 forderte der Beklagte den Kläger zur Vorlage der vollständig ausgefüllten und unterschriebenen Anlage EKS mit den tatsächlichen/abschließenden Angaben zu seiner Selbständigkeit für den Zeitraum 1. September 2021 bis 28. Februar 2022 auf, um über den Leistungsanspruch endgültig entscheiden zu können. Der Beklagte wies darauf hin, dass er, sollte der Kläger seiner Nachweispflicht nicht nachkommen, feststellen müsse, dass kein Leistungsanspruch bestehe und die vorläufig bewilligten Leistungen erstattet werden müssten.

Am 10. März 2022 reichte er das EKS-Formular vom „17.06.2021“ ein, wobei er angab, es handele sich abschließende Angaben und teilte mit, die Shisha-Bar sei durch „corona am dauern geschloßen“.

Am 14. März 2022 teilte der Beklagte dem Kläger mit, es werde die abschließende Anlage EKS mit den tatsächlichen Angaben zu Einnahmen und Ausgaben der Selbständigkeit für den Zeitraum 9/21 – 02/22 benötigt. Die eingereichte Anlage EKS sei aus Juni 2021 und könne nicht berücksichtigt werden.
 
Der Kläger wurde mit Schreiben vom 16. Mai 2022 erneut zur Vorlage der EKS aufgefordert.

Am 27. Juli 2022 reichte der Kläger die Anlage EKS mit abschließenden Angaben für die Monate September 2021 bis Februar 2022 ein, wobei er einen Verlust von insgesamt 12.025,00 EUR angab. Als Nachweis legte er betriebswirtschaftliche Abrechnungen vor.

Mit Schreiben vom 28. Juli 2022 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass die vorläufigen BWAs als Nachweis nicht ausreichten. Er benötige zur abschließenden Prüfung für den Zeitraum September 2021 bis Februar 2022 noch folgenden Unterlagen:
Nachweis zu den angefallenen Raumkosten (Gewerbemietvertrag, Neben- und Heizkostenabrechnung),
Nachweis zu den erzielten Einnahmen,
Nachweis zu den Ausgaben (Beratungskosten).
Der Kläger wurde mit Schreiben vom 18. August 2022 an die Vorlage erinnert.

Mit Bescheid vom 9. September 2022 stellte der Beklagte fest, dass für die Zeit vom 1. September 2021 bis 28. Februar 2022 ein Leistungsanspruch nicht bestanden habe, weil der Kläger die angeforderten Unterlagen nicht vorgelegt habe.

Mit weiterem Bescheid vom 9. September 2022 forderte der Beklagte den Kläger zur Erstattung der im Zeitraum vom 1. September 2021 bis 28. Februar 2022 erhaltenen Leistungen in Höhe von 4.233,00 EUR auf.

Am 7. November 2022 erklärte der Kläger – anwaltlich vertreten – die Einlegung eines Widerspruchs gegen „den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid“ vom 9. September 2022 und beantragte Akteneinsicht.

Mit Widerspruchsbescheid vom 11. November 2022 verwarf der Beklagte den Widerspruch als unzulässig. Der Bescheid sei am 9. September 2022 bei der Post aufgegeben worden und gelte folglich am 12. September 2022 als bekannt gegeben. Die Widerspruchsfrist beginne mit dem Tag danach. Falle das Ende der Widerspruchsfrist auf einen Samstag, Sonntag oder gesetzlichen Feiertag, so ende die Widerspruchsfrist mit Ablauf des nächsten Werktages (§ 64 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Die Widerspruchsfrist habe daher am 12. Oktober 2022 geendet. Der Widerspruch sei erst nach Ablauf dieser Frist am 7. November 2022 eingegangen. Es seien keine Gründe erkennbar, die das Fristversäumnis rechtfertigten und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG ermöglichten.

Am 7. Dezember 2022 hat der Kläger – ebenfalls anwaltlich vertreten – Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben. Zur Begründung gab er zunächst an, er übergebe die Umsatzsteuer-Voranmeldungen für das erste bis vierte Quartal 2022 zur Weiterleitung an den Beklagten, womit der Beklagte in der Lage sei, die Leistungen an den Kläger konkret zu berechnen. Auf Hinweis des SG, dass der Beklagte den Widerspruch zu Recht als unzulässig verworfen haben dürfte, gab er an, der angefochtene Erstattungsbescheid vom 9. September 2022 sei erst am 12. oder 13. Oktober 2022 zugestellt worden, weshalb der Widerspruch am 7. November 2022 rechtzeitig eingelegt worden sei. Die verspätete Zustellung des Bescheids vom 9. September 2022 sei nicht ungewöhnlich. Der bevollmächtigte Anwalt könne aus eigener Erfahrung bestätigen, dass Zustellungen gewöhnlicher Sendungen teilweise erst mit mehrwöchiger Verspätung erfolgten.

Auf weiteren Hinweis des SG, dass die bisherigen Ausführungen den Substantiierungsanforderungen an einen behaupteten verspäteten Zugang nicht genügen dürften, hat der Kläger eine eidesstattliche Versicherung seiner Lebensgefährtin T1 vorgelegt, wonach diese sich erinnere, dass der Kläger „im Zeitraum vom 10.-15.10.2022 Post vom Jobcenter erhalten“ habe und der Kläger auf ihre Frage, worum es gehe, ihr gesagt habe, „dass er kein Geld mehr bekommen solle, weil er keine Steuerunterlagen vorgelegt habe.“ Sie erinnere sich, dass der Kläger daraufhin seinen Rechtsanwalt angerufen habe.

Mit Urteil vom 24. April 2024 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Beklagte habe den Widerspruch des Klägers zu Recht mit Widerspruchsbescheid vom 11. November 2022 als unzulässig verworfen, denn der Kläger habe den Widerspruch zu spät erhoben. Der Bescheid vom 9. September 2022 sei dem Kläger spätestens am 12. September 2022 bekanntgegeben worden, der Widerspruch jedoch erst am 7. November 2022 beim Beklagten eingegangen. § 37 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) regele, dass ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post im Inland übermittelt werde, mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekanntgegeben gelte, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen sei; im Zweifel habe die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Werde, wie vorliegend, nicht der Zugang als solcher, sondern nur der Zugangszeitpunkt bestritten, seien höhere Anforderungen an die Darlegung des Sachverhalts zu stellen. Die betroffene Person müsse Tatsachen darlegen, aus denen schlüssig die nicht entfernt liegende Möglichkeit hervorgehe, dass ein Zugang des Verwaltungsakts erst nach dem von § 37 Abs. 2 Satz 1 HS. 1 SGB X vermuteten Zeitpunkt erfolgt sei. Vage, unsubstantiierte Angaben oder Bestreiten ohne weitere Angabe von Gründen führten per se nicht zu Zweifeln. Die betroffene Person müsse also genaue Angaben aus dem ihr zugänglichen Bereich machen. Sie müsse angeben, dass und an welchem Tag genau ihr der Verwaltungsakt tatsächlich zugegangen sei und dabei auch Angaben zu den Tatsachen machen, aus denen sie ableite, dass er nicht zu einem früheren Zeitpunkt zugegangen sei. Der Kläger sei diesen Anforderungen nicht gerecht geworden. Er habe weder den genauen Tag angeben können, an welchem ihm der Verwaltungsakt zugegangen sei, noch habe er darlegen können, dass ein früherer Zugang nicht erfolgt sei, weil er z.B. täglich seinen Briefkasten geleert habe. Er habe lediglich angegeben, der Bescheid sei ihm in der Zeit vom 10. Oktober bis 15. Oktober 2022 zugegangen. Auch der Vortrag des Klägerbevollmächtigen, er könne aus eigener Erfahrung bestätigen, dass Zustellungen gewöhnlicher Sendungen teilweise mit mehrwöchiger Verspätung erfolgten, könne vorliegend nicht weiterhelfen. Inwieweit dies eine verspätete Zustellung im konkreten Fall zum konkreten Zeitpunkt belegen solle, sei nicht einleuchtend. Schließlich helfe auch die vorgelegte eidesstattliche Versicherung der Lebensgefährtin des Klägers nicht weiter. Auch diese bestätige lediglich, der Kläger habe in der Zeit vom 10. Oktober bis 15. Oktober 2022 Post vom Beklagten erhalten. Weder könne sie den genauen Tag oder konkrete Umstände benennen, noch erkläre sie, beim täglichen Leeren des Briefkastens dabei gewesen zu sein. Auch sei sie nach eigenen Angaben der deutschen Sprache nicht mächtig. Inwiefern sie dann den Zugang des streitigen Bescheides bezeugen wolle, bleibe ungeklärt. Es handele sich mithin lediglich um vage unsubstantiierte Angaben, die die Zugangsfiktion nicht außer Kraft setzen könnten.

Gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am 29. April 2024 zugestellte Urteil hat der Kläger am 25. Mai 2024 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt.
Zu Unrecht gehe das Sozialgericht davon aus, dass der Kläger den genauen Tag des Zugangs darlegen und beweisen müsse. Der Beklagte sei nicht nur für den Zugang als solchen, als auch für den Zugangszeitpunkt beweispflichtig. Auch der Vermieter und der Arbeitgeber müssten sowohl den Zugang als solchen, als auch den Zeitpunkt des Zugangs beweisen. Weshalb dies für den Beklagten anders sein solle, sei nicht nachvollziehbar. Der Beklagte hätte den Bescheid mittels Einwurf-Einschreiben (Kosten 2,35 EUR) zustellen und damit den Zeitpunkt des Zugangs beweisen können. Einen Beweis des ersten Anscheins, dass Zustellungen durch die Post innerhalb von drei Tagen erfolgten, gebe es nicht. Darüber hinaus liege ein Verstoß des SG gegen die Sachaufklärungspflicht vor. Danach habe das Gericht im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens alle zur Aufklärung des Sachverhalts dienlichen Ermittlungen anzustellen. Der Kläger habe sich zum Beweis dafür, dass er im Zeitraum 10. bis 15. Oktober 2022 Post vom Beklagten erhalten habe, auf eine eidesstattliche Versicherung seiner Lebensgefährtin gestützt. Da das Gericht die eidesstattliche Versicherung als unzureichend gewertet habe, hätte es die Lebensgefährtin des Klägers als Zeugin vernehmen und so den Sachverhalt weiter aufklären müssen. Da der Kläger ohne eigenes Verschulden die Frist für den Widerspruch versäumt habe, hätte das Sozialgericht dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 24. April 2024 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 9. September 2022 über die Feststellung des Nichtbestehens eines Leistungsanspruchs, des Erstattungsbescheides vom 9. September 2022 sowie des Widerspruchsbescheides vom 11. November 2022 zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 1. September 2021 bis 28. Februar 2022 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II unter Berücksichtigung eines geringeren als des vorläufig angerechneten Einkommens zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Kläger trage vor, dass der streitige Bescheid wesentlich später als nach der in § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X genannten Drei-Tages-Fiktion eingegangen sein solle. Bei verspätetem Zugang müsse der Empfänger vortragen, wann genau und unter welchen Umständen der Verwaltungsakt zugegangen sei. Die Vernehmung der damaligen Partnerin des Klägers als Beweismittel sei untauglich gewesen. Bereits die vorgelegte Erklärung der (nicht deutschsprechenden) Freundin sei inhaltlich ohne Aussagekraft und höchst ungenau gewesen. Ferner stehe zu bezweifeln, ob die Freundin nach mehreren Jahren noch tatsächlich verwertbare Erinnerungen an den Zugang eines Poststückes von vor mehreren Jahren habe, dessen Inhalt sie aufgrund der Sprachbarriere nicht habe verstehen können. Es könne sich um irgendein Schreiben des Beklagten gehandelt haben. Noch dazu handele es sich um die Freundin des Klägers, was den Wert der Zeugenaussage noch weiter reduzieren dürfe.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die gemäß § 143 SGG statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedurfte insbesondere nicht der Zulassung nach § 144 Abs. 1 SGG, da sich der Kläger gegen eine Erstattungsforderung des Beklagten von mehr als 750,00 EUR richtet (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).

Gegenstand des Rechtsstreits sind die Bescheide vom 9. September 2022, mit denen der Beklagte das Nichtbestehen eines Leistungsanspruchs für die Zeit vom 1. September 2021 bis 28. Februar 2022 festgestellt und den Kläger zur Erstattung der für diesen Zeitraum geleisteten Zahlungen in Höhe von 4.233,00 EUR aufgefordert hat, sowie der Widerspruchsbescheid vom 11. November 2022, mit dem der Beklagte den Widerspruch gegen diese Bescheide als unzulässig verworfen hat. Dagegen richtet sich der Kläger statthaft mit der Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG).

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Gegen den Widerspruchsbescheid vom 11. November 2022 ist die Klage unbegründet, weil der Beklagte den Widerspruch zu Recht als verfristet und damit unzulässig verworfen hat. Gegen die Bescheide vom 9. September 2022 ist die Klage unzulässig, weil die Bescheide mangels rechtzeitiger Einlegung des Widerspruchs bereits bestandskräftig und damit bindend geworden sind (§ 77 SGG).

Das SG hat in dem angefochtenen Urteil zutreffend dargelegt, dass der erst am 7. November 2022 beim Beklagten eingegangene Widerspruch unzulässig war, weil die Bescheide vom 9. September 2022 gemäß § 37 Abs. 2 SGB X in der Fassung vom 3. Dezember 2020 (a.F.) als dem Kläger am 12. September 2022 bekanntgegeben gelten und die gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG geltende einmonatige Widerspruchsfrist daher bereits verstrichen war. Der Senat weist die Berufung insoweit aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück.

Aus dem Berufungsvorbringen des Klägers ergibt sich nichts anderes. Entgegen der Auffassung des Klägers ist der Beklagte nicht beweispflichtig für den Tag des Zugangs der angefochtenen Bescheide.

§ 84 Abs. 1 Satz 1 SGG stellt für den Beginn der Widerspruchsfrist auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes ab. Die Bekanntgabe eines schriftlichen Verwaltungsakts erfolgt mit dessen Zugang. Unter Abwesenden ist ein Verwaltungsakt zugegangen, wenn er so in den Bereich des Adressaten (Empfängers) gelangt ist, dass dieser unter normalen Verhältnissen die Möglichkeit zur Kenntnisnahme hat. Auf die tatsächliche Kenntnisnahme des Verwaltungsakts kommt es für den Zugang und damit die Bekanntgabe nicht an (Mutschler in BeckOGK, Stand 15. November 2024, SGB X § 37 Rdnr. 22). Wählt die Behörde den Weg der Bekanntgabe eines schriftlichen Verwaltungsaktes – wie vorliegend – mit Briefpost, regelt § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X (a.F.) den Zeitpunkt der Bekanntgabe (Mutschler a.a.O. Rdnr. 24).
Ein durch Postdienstleister übermittelter schriftlicher Verwaltungsakt gilt danach am dritten Tag nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben (sog. Zugangsfiktion). Den Tag der Aufgabe zur Post (9. September 2022) hat der Beklagte vorliegend auf den streitigen Bescheiden dokumentiert (vgl. Engelmann in Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 37 Rdnr. 29). Der Bekanntgabezeitpunkt ergibt sich daher aus der Zugangsfiktion, ein Beweis des Zugangs durch den Beklagten ist nicht erforderlich. Eine Bekanntgabe nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) in Form der Zustellung (vgl. § 2 Abs. 1 VwZG) hat der Beklagte gerade nicht gewählt, so dass die Vorschriften über die Zustellung nicht anwendbar sind (arg. ex. § 37 Abs. 5 SGB X).

Zwar kann der Bescheidadressat die Zugangsvermutung widerlegen, da die Zugangsfiktion gemäß § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB X a.F. nicht gilt, wenn der der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Nur „im Zweifel“ hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen (§ 37 Abs. 2 Satz 3 Halbsatz 2 SGB X a.F.). Dies setzt voraus, dass der Bescheidadressat – hier der Kläger – in einem ersten Schritt Zweifel an dem Bekanntgabezeitpunkt darlegt, wofür ihn die Darlegungslast trifft (Mutschler a.a.O, Rdnr. 28). Zwar mögen sich „Zweifel“ am Zugang selbst bereits durch schlichtes Bestreiten des Zugangs durch den Adressaten ergeben (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 26. Juli 2007 – B 13 R 4/06 R – SozR 4-2600 § 115 Nr. 2 Rdnr. 20). Dies gilt jedoch nicht hinsichtlich des Zugangszeitpunktes, da anderenfalls die in § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X bestimmte Vermutung von vornherein sinnlos wäre (Bundesveraltungsgericht [BVerwG], Beschluss vom 24. April 1987 – 5 B 132/86 – juris).
Damit entsteht ein berechtigter Zweifel nicht schon dadurch, dass der Empfänger der Postsendung über den angeblichen tatsächlichen Zugang nur eine vage, auf ein schlichtes Bestreiten des nach dem Gesetz zunächst zu vermutenden Zugangs hinauslaufende Behauptung aufstellt, ohne mindestens einen bestimmten Tag zu benennen, sondern einen unbestimmten Zeitraum angibt (BVerwG a.a.O.). Ein entsprechender Zweifel am Zugang der Bescheide innerhalb der Zugangsfiktion ergibt sich aus dem Vortrag des Klägers nicht.

Der Kläger hat vorliegend zunächst pauschal als Zugangszeitpunkt den „12. oder 13.“ Oktober 2022 angegeben, zu dem der Zugang der Bescheide die Einhaltung der Widerspruchsfrist nachträglich begründet hätte. In der vorgelegten eidesstattlichen Versicherung seiner Lebensgefährtin ist sodann der Zeitraum der ganzen Woche vom 10. Oktober 2022 bis 15. Oktober 2022 genannt. Weitere Umstände, die nachvollziehbar machen, dass der Zugang in der von vom Kläger behaupteten Zeit erfolgt ist, hat er nicht gemacht. So hat er nichts dazu vorgetragen, warum er meint, gerade in diesem Zeitraum sei der Zugang der Bescheide erfolgt. Soweit sich aus der entsprechenden eidesstattlichen Versicherung seiner Lebensgefährtin ergibt, dass der Kläger „daraufhin“ seinen Rechtsanwalt angerufen hat, ist ein Zugang der Bescheide erst in der Woche vom 10. Oktober 2022 bis 15. Oktober 2022 nicht glaubhaft, da die Widerspruchseinlegung durch den Prozessbevollmächtigten erst in der vierten Woche nach dem angegebenen Zugangszeitraum erfolgt ist. Auch wurde die Anfrage des Senats, wann denn die Beauftragung erfolgt ist, nicht beantwortet. Des Weiteren hätte es bei einem tatsächlich so deutlich verspäteten Zugang nahegelegen, bereits bei Widerspruchseinlegung den (angeblichen) tatsächlichen Zugangszeitpunkt anzugeben. Selbst bei Klageerhebung und -begründung wurde trotz der Verwerfung des Widerspruchs wegen der angenommenen Verfristung zum Zugangszeitpunkt der Bescheide nichts mitgeteilt, sondern erst auf den später erfolgten Hinweis des Gerichts. Dieses Vorgehen ist nicht nachvollziehbar, wenn tatsächlich ein späterer Bescheidzugang erfolgt wäre.

Es bestand auch kein Anlass für eine weitere Aufklärung, insbesondere für eine Vernehmung der Lebensgefährtin des Klägers als Zeugin. Denn ihre Angaben aus der im Verhältnis zum hiesigen Berufungsverfahren zeitnäheren eidesstattlichen Versicherung sind aus den aufgeführten Gründen nicht geeignet, ausreichende Zweifel am Zugang der Bescheide zu begründen. Dass sie bei einer Vernehmung als Zeugin eine weitergehende bzw. andere Erinnerung haben könnte, ist nicht ersichtlich.
Dass daneben an der Belastbarkeit der eidesstattlichen Versicherung der Freundin des Klägers bereits deswegen erhebliche Zweifel bestehen, weil die Freundin des Klägers den Text im deutschen Original nicht selbst lesen konnte, sondern – wie in der eidesstattlichen Versicherung selbst ausgeführt wird – auf eine Übersetzung des Klägers vertraut hat, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen.

Damit ist der angefochtene Widerspruchsbescheid vom 11. November 2022 rechtmäßig, so dass die dagegen gerichtete Klage unbegründet war.

Soweit sich die Klage gegen die Bescheide vom 9. September 2022 gerichtet hat, war sie bereits unzulässig, weil die Bescheide mangels fristgerechter Einleitung des Widerspruchsverfahrens gemäß § 77 SGG bereits bindend geworden sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2) liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
Saved