L 8 SB 3886/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 25 SB 1721/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 3886/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 18.11.2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten



Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers.

Der 1964 geborene und im Landkreis E1 wohnende Kläger beantragte am 27.04.2018 beim Landratsamt E1 (LRA) erstmalig die Feststellung eines GdB und gab an, er leide an Diabetes mellitus, der mittels Diät behandelt werde, sowie an Hörstörungen und Lumboischialgien. Nach Einholung aktueller Befundberichte der behandelnden Ärzte stellte S1 in einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 17.07.2018 folgende Funktionsbeeinträchtigungen fest:
Schwerhörigkeit beidseits (Teil-GdB 15)
Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Teil-GdB 10)
Der Diabetes mellitus bedinge keinen Teil-GdB von mindestens 10; der Gesamt-GdB betrage 10.

Das LRA lehnte daraufhin den Antrag mit Bescheid vom 26.07.2018 ab. Die vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsstörungen Schwerhörigkeit beidseits und Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bedingten keinen GdB von mindestens 20. Die geltend gemachte Gesundheitsstörung Diabetes mellitus bedinge keinen Einzel-GdB von 10.

Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger unter Vorlage weiterer Arztberichte geltend, sein HbA1c-Wert habe bei 6,1 gelegen und er sei durch die Diabetes-Erkrankung in seiner Lebensführung eingeschränkt, was einen GdB von 20 rechtfertige. Er leide an einer Schallempfindungsschwerhörigkeit beidseits und trage Hörgeräte, was einen GdB von 30 ergebe. Die Lumboischialgie führe zu Schmerzen an der unteren LWS und im rechten Bein, weshalb er Schmerzmittel nehmen müsse. Dafür sei ein GdB von 30 gerechtfertigt. Zusammen mit degenerativen Veränderungen des Iliosakralgelenks sowie einem instabilen Beckenring mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen, was alleine schon einen GdB von 20 rechtfertige, ergebe sich auf diesem Gebiet ein GdB von mindestens 40. Eine weiter vorliegende Typ B-Gastritis rechtfertige einen GdB von 10. Zudem sei er wegen psychischer Probleme seit Oktober 2018 in psychiatrischer Behandlung. Diesbezüglich läge ein GdB von mindestens 30 vor. Insgesamt sei ein GdB von mindestens 50 zuzuerkennen. Das LRA holte daraufhin eine Auskunft von H1 von der psychiatrischen Institutsambulanz des R1-Stifts S2 vom 15.02.2019 ein, worin eine ambulante Behandlung seit 05.10.2018 bestätigt wurde.

In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 04.03.2019 hielt S3 an der bisherigen Einschätzung des GdB fest. Die zusätzlich vorliegenden Gesundheitsstörungen Cholezystolithiasis, Gastritis und depressive Episode bedingten jeweils keinen Teil-GdB von mindestens 10. Die Auskunft der psychiatrischen Institutsambulanz des R1-Stifts sei nicht geeignet, eine länger als sechs Monate anhaltende psychische Krankheit zu begründen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 29.03.2019 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die Auswertung der medizinischen Unterlagen habe ergeben, dass bei dem Kläger keine Gesundheitsstörungen vorliegen würden, die einen GdB von wenigstens 20 bedingten. Eine länger als sechs Monate anhaltende psychiatrische Erkrankung sei nicht dokumentiert.

Am 12.04.2019 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben, mit der er einen GdB von mindestens 50 begehrt hat. Das SG hat die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als Zeugen befragt.

Die E2 hat am 19.06.2019 berichtet, dass der Kläger zuletzt im März 2018 in Behandlung gewesen sei.

H1 von der psychiatrischen Institutsambulanz des R1-Stifts hat in ihrer Auskunft vom 19.06.2019 angegeben, dass der Kläger seit Oktober 2018 vier- bis sechswöchige Behandlungstermine je 30 Minuten erhalte. Es bestehe ein relativ gleichbleibendes Zustandsbild einer schweren depressiven Episode, die anamnestisch seit etwa zwei Jahren bestünde. Bei der letzten Behandlung am 24.05.2019 habe sich fremdanamnestisch der Verdacht auf eine dementielle Entwicklung ergeben. Es bestünde aktuell durch die depressive Symptomatik eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, die einer stationären Behandlung bedürfe. Bisher habe sich der Kläger nicht zu einer stationären Behandlung entschließen können.

Der M1 hat mit seiner Auskunft vom 12.07.2019 ein Tonaudiogramm vom 23.03.2018 vorgelegt. Es bestehe eine Schallempfindungsschwerhörigkeit. Der GdB im HNO-Bereich betrage 15.

Der U1 hat am 24.07.2019 ausgeführt, er teile die Auffassung des versorgungsärztlichen Dienstes. Da der Diabetes mellitus nur durch Diätmaßnahmen und Steigerung der körperlichen Tätigkeit behandelt werde, sei die Lebensführung kaum beeinträchtigt.

Der T1 hat in seiner Auskunft vom 29.07.2019 angegeben, der Kläger leide seit Jahren an rezidivierenden Schmerzen an der LWS mit Minderbelastbarkeit und Bewegungseinschränkung. Der GdB sei diesbezüglich mit 20 einzuschätzen. Zudem bestehe eine Gonarthrose links mit Schmerzen, Bewegungseinschränkung und Minderbelastbarkeit. Diesbezüglich sei der GdB mit 10 zu bewerten.

Das SG hat sodann von Amts wegen ein psychiatrisches Gutachten durch V1 mit Untersuchung des Klägers am 05.05.2020 eingeholt. In seinem am 28.05.2020 erstatteten Gutachten hat V1 auf psychiatrischem Fachgebiet eine rezidivierende depressive Störung, derzeit mittelgradig ausgeprägt, sowie einen mittelgradig ausgeprägten Cluster-Kopfschmerz links diagnostiziert. Im psychischen Befund habe sich eine deutlich eingeschränkte emotionale Schwingungsfähigkeit und eine psychomotorische Verarmung ohne kognitive Beeinträchtigungen gezeigt. Die psychometrische Testung unterstütze die Diagnose einer relevanten depressiven Verstimmung. Der Cluster-Kopfschmerz führe für 2-3 Stunden zu maximalen Kopfschmerzen hinter dem linken Auge, die nach Angabe des Klägers 2-3 mal pro Woche aufträten. Für die depressive Störung schlage er einen Teil-GdB von 40 vor. Die Störung läge eher an der Grenze zu einer schweren als zu einer leichten depressiven Verstimmung. Es bestehe eine erhebliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit. Eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten läge nicht vor. Bei einer wie von H1 beschriebenen therapieresistenten schweren Störung sei eine Anpassung der Medikation, die seit 1,5 Jahren unverändert mit 30mg Mirtazapin erfolge, zu erwarten gewesen. Die Cluster-Kopfschmerzen könnten analog einer Migräne mit mittelgradiger Verlaufsform beurteilt werden. Er schlage einen Teil-GdB von 40 vor. Die Cluster-Kopfschmerzen seien derzeit unbehandelt. Unter einer prophylaktischen Medikation könne ein erheblicher Rückgang der Beschwerden erwartet werden. Insgesamt empfehle er einen GdB von 50.

Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme vom 07.08.2020 von B1 vergleichsweise einen GdB von 30 angeboten, was vom Kläger abgelehnt wurde. B1 hat ausgeführt, dass die Befundergebnisse des Gutachtens zu einer geringgradigen psychischen Störung passten. Es liege ein strukturierter Tagesablauf vor. Es würden keine spezifischen therapeutischen, keine medikamentösen – die Einnahme von 30mg Mirtazapin stelle allein keine effektive Therapie dar - und keine kontinuierlichen psychotherapeutischen Maßnahmen durchgeführt. Unter diesen Bedingungen könne der Leidensdruck nicht sehr ausgeprägt sein, um einen höheren GdB als 20 festzustellen. Unter Berücksichtigung der vom R1-Stift erwähnten somatoformen Schmerzstörung ergebe sich auf psychischen Gebiet ein Teil-GdB von 30 und bei einem Teil-GdB von 15 für die Schwerhörigkeit und einem Teil-GdB von 10 für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule insgesamt ein Gesamt-GdB von ebenfalls 30.

Vom 06.10.2020 bis 03.11.2020 hat der Kläger eine stationäre psychosomatische Rehamaßnahme in der M2 Klinik in D1 absolviert und den Entlassbericht vom 08.12.2020 vorgelegt. Darin sind als Diagnosen u.a. eine schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen und eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren genannt worden. Die Leistungsfähigkeit für den allgemeinen Arbeitsmarkt sei aufgehoben (unter drei Stunden). Die Entlassmedikation für psychiatrische/schmerztherapeutische Medikamente ist im Bericht mit Mirtazapin 0-0-0-15mg, Duloxetin 30-0-0-0-mg sowie bei Bedarf Ortoton bis 1500mg und Novaminsulfon bis 3x500mg/d angegeben worden.

B2 hat für den Beklagten in einer weiteren versorgungsmedizinischen Stellungnahme vom 30.05.2021 an der bisherigen Einschätzung des Gesamt-GdB festgehalten. Im Verlauf der Rehabilitation habe eine Reduktion der depressiven Symptomatik zum Teil erreicht werden können. Die medikamentöse Therapie sei modifiziert worden, so dass der weitere Verlauf abgewartet werden müsse.

Nachdem das SG die Beteiligten auf eine beabsichtigte Entscheidung durch Gerichtsbescheid hingewiesen hatte, hat es mit Gerichtsbescheid vom 18.11.2021 den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 26.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.03.2019 verpflichtet, bei dem Kläger einen GdB in Höhe von 40 seit dem 27.04.2018 festzustellen, und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, der Schwerpunkt der Beeinträchtigung liege im Funktionssystem Psyche. Nach Auffassung der Kammer liege beim Kläger eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vor. Diese Funktionsbeeinträchtigung sei mit einem GdB von 40 angemessen und ausreichend berücksichtigt. Ausgehend von den Feststellungen des V1 sowie den damit übereinstimmenden Feststellungen im Rehabericht vom 08.12.2020 sei die Schwingungsfähigkeit des Klägers erheblich eingeschränkt und die Lebensfreude deutlich reduziert. Der Kläger habe sich sozial zurückgezogen, wobei jedoch ein vollständiger sozialer Rückzug nicht feststellbar sei. Der Tagesablauf des Klägers sei strukturiert, wobei die Struktur aber von seiner Ehefrau vorgegeben werde. Der Kläger sei insgesamt interessenlos, aber noch in der Lage, Besuch zu empfangen oder für kurze Zeit an gesellschaftlichen Ereignissen teilzunehmen, wie z.B. einer Hochzeit für die Dauer von einer Stunde. Die bei dem Kläger allein der depressiven Störung zuzurechnenden Funktionseinschränkungen beurteile die Kammer bei isolierter Betrachtung mit einem Teil-GdB von 30. Hinzu käme bei dem Kläger aber eine ausgeprägte Kopfschmerzproblematik, die die Kammer als somatoforme Störung im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche mitbeurteile. Die Kammer folge nicht der Einschätzung des gerichtlichen Sachverständigen V1, dass neben dem Teil-GdB von 40 für die Behinderungen im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche für die bei dem Kläger vorhandenen Kopfschmerzen ein weiterer eigenständiger Teil-GdB von 40 analog zur Regelung in den VG Teil B Ziff. 2.3 für eine echte Migräne anzusetzen sei. Vielmehr seien die Kopfschmerzen in dem Teil-GdB von 40 bereits mitbewertet als somatoforme Störung. In dem Rehabericht vom 08.12.2020 werde unter Punkt 1.1.2 nachvollziehbar ausgeführt, dass die Kopfschmerzsymptomatik eine somatoforme Störung ohne eigene körperliche Ursache darstelle. Diesbezügliche medizinische Abklärungen, insbesondere ein MRT sei ohne Befund geblieben. Die rezidivierenden Schmerzen in der Wirbelsäule hat das SG als mittelgradige funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt in Form von häufig rezidivierenden und über Tage andauernden Wirbelsäulensyndromen mit einem GdB von 20 bewertet. Die Behinderungen im Funktionssystem Ohr hat das SG mit einem Teil-GdB von 15 bewertet, die Beeinträchtigungen im Bereich des Kniegelenks und die Hypertonie des Klägers jeweils mit einem Teil-GdB von 10. Für den Diabetes, der mit durch Diätmaßnahmen und Steigerung der körperlichen Aktivität therapiert werde, sei kein Teil-GdB anzusetzen.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat gegen den ihm am 25.11.2021 zugestellten Gerichtsbescheid am 20.12.2021 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Er hat zur Berufungsbegründung ausgeführt, es sei nicht nachvollziehbar, dass das SG einerseits das Gutachten von V1 für schlüssig halte, andererseits sich über dessen Einschätzung des GdB auf neurologischem Fachgebiet hinwegsetze. Zudem seien die Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule und die Hörstörung so erheblich, dass eine Anhebung des GdB erforderlich sei.

Der Kläger beantragt, sachdienlich gefasst,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 18.11.2021 und den Bescheid vom 26.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.03.2019 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, beim Kläger einen Grad der Behinderung von 50 seit dem 27.04.2018 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Er hält den GdB mit 40 für zutreffend bewertet.

Der Rechtsstreit ist mit den Beteiligten am 07.10.2022 mündlich erörtert worden. Der Kläger hat einen Befundbericht der psychiatrischen Institutsambulanz des R1-Stifts vom 06.10.2022 vorgelegt. Darin wird ein seit 2018 trotz Reha im Oktober 2020 nahezu unverändertes schwer depressives Zustandsbild beschrieben. Der Kläger erhalte supportive Gespräche in größeren Abständen und antidepressive Medikation (Duloxetin 60 mg, Mirtazapin 30 mg), wobei die Kontaktaufnahme und die Erhebung des psychopathologischen Befundes aufgrund der Sprachbarriere schwierig sei. Der Kläger bedürfe einer intensiven muttersprachlichen Psychotherapie, wobei es schwierig zu beurteilen sei, ob der Kläger überhaupt psychotherapiefähig sei. Der Kläger hat ferner eine Bescheinigung des U1 vom 18.10.2022 mit den Diagnosen Diabetes mellitus Typ 2b, Gonarthrose, arterielle Hypertonie, Cephalgia vasomotorica, migränoide Cephalgie und arzneimittelinduzierte Kopfschmerzen sowie den Befundbericht über ein Schädel-MRT vom 09.10.2019 zu den Akten gereicht.

In einer versorgungsmedizinischen Stellungnahme vom 23.02.2023 hat B3 für den Beklagten ausgeführt, dass sich aus den vorgelegten Unterlagen keine neuen Aspekte ergäben. Es würden lediglich supportive Gespräche in größeren Abständen angeboten und eine antidepressive Medikation verordnet. Im MRT sei eine asymmetrische Darstellung der beiden Hirnhemisphären aufgefallen, ohne dass dies einer Erkrankung zuzuordnen wäre.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat gemäß § 124 Abs. 2 SGG mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, aber unbegründet. Der angefochtene Gerichtbescheid des SG ist nicht zu beanstanden. Der GdB des Klägers ist mit 40 zutreffend bewertet.

Rechtsgrundlage für die Feststellung des GdB sind §§ 2 Abs. 1, 152 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX). Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate hindern können, wobei eine Beeinträchtigung in diesem Sinne vorliegt, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.

Nach § 152 Abs. 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Dabei werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als GdB nach 10er Graden abgestuft festgestellt. Nach § 153 Abs. 2 SGB IX ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grund­sätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB, die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind.

Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 241 Abs. 5 SGB IX, dass, soweit eine solche Verordnung nicht erlassen ist, die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab dem 01.01.2009 an die Stelle der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) getretene Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, a.a.O.). Nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. d, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.

Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, a.a.O.).

Nach diesen Maßstäben hat der Kläger keinen Anspruch auf einen höheren Gesamt-GdB als 40.

Der Schwerpunkt der Beeinträchtigungen des Klägers liegt im Bereich des Funktionssystems Nervensystem und Psyche. In diesem Bereich leidet der Kläger an einer Depression sowie Kopfschmerzen. Dies stellt der Senat fest aufgrund der Auskünfte der behandelnden Ärzte, des Gutachtens von V1 und der Angaben des Klägers im Erörterungstermin vom 07.10.2022. In den Befundberichten des R1-Stifts wird durchgehend von einer schweren depressiven Episode und seit Mitte 2019 auch von einer somatoformen Schmerzstörung berichtet. Dies deckt sich mit den Auskünften des U1, der ebenfalls eine Depression und Cephalgien beschrieben hat. V1 hat bei seiner gutachterlichen Untersuchung am 05.05.2020 ebenfalls eine rezidivierende depressive Störung, derzeitig mittelgradig ausgeprägt, sowie Kopfschmerzen diagnostiziert. V1 hat die Kopfschmerzen einem Cluster-Kopfschmerz zugeordnet. Sowohl im Rehabericht vom 08.12.2020 als auch in den Berichten der psychiatrischen Institutsambulanz des R1-Stifts wird der Kopfschmerz jedoch als Ausdruck einer somatoformen Schmerzstörung gewertet. Ein Kopfschmerztagebuch ist vom Kläger bisher nicht geführt worden, ebenso erfolgte keine spezifische Behandlung hinsichtlich eines Cluster- oder Migränekopfschmerzes. V1 hat seine Diagnose eines Cluster-Kopfschmerzes ausschließlich auf die Angaben des Klägers gestützt.

Nach Teil B Nr. 3.7 VG sind stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) mit einem GdB von 30 - 40 zu bewerten. Ein GdB von 50 - 70 ist für schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsstörungen vorgesehen.

Nach den Feststellungen des Gutachters V1 liegt beim Kläger eine deutlich eingeschränkte emotionale Schwingungsfähigkeit mit psychomotorischer Verarmung ohne kognitive Beeinträchtigung vor. Der Tagesablauf des Klägers ist strukturiert und er beteiligt sich nach den Feststellungen von V1 am Einkaufen. Zwar liegt ein sozialer Rückzug des Klägers vor, er pflegt jedoch mehrmals pro Woche Kontakt mit seinem Sohn und Enkel, geht regelmäßig in die Moschee und nimmt, wenn auch nur kurz und gelegentlich, an sozialen Veranstaltungen wie Hochzeiten teil. Nach diesen Feststellungen ist der Senat der Überzeugung, dass beim Kläger eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vorliegt. Eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsstörungen lässt sich aus diesen Befunden nicht ableiten.

Diese stärker behindernde Störung ist isoliert mit einem GdB von 30 zu bewerten. In Verbindung mit der beim Kläger vorliegenden somatoformen Schmerzstörung ist der GdB jedoch auf 40 zu erhöhen. Eine echte Migräne, die nach VG 2.3 bei einer mittelgradigen Verlaufsform (häufigere Anfälle, jeweils einen oder mehrere Tage anhaltend) mit einem GdB von 20-40 zu bewerten wäre, oder ein Cluster-Kopfschmerz, der analog einer echten Migräne bewertet werden könnte, ist beim Kläger nicht nachgewiesen. Es liegt kein Kopfschmerztagebuch vor, es erfolgt diesbezüglich keine spezifische Behandlung und V1 hat seine Diagnose ausschließlich auf die anamnestischen Angaben des Klägers gestützt. Der Kopfschmerz des Klägers ist in der somatoformen Schmerzstörung mitberücksichtigt und nicht eigenständig zu bewerten. Im Rehaentlassbericht vom 08.12.2020 werden die Kopfschmerzen als Teil der somatoformen Schmerzstörung, die sich im Rahmen der depressiven Symptomatik entwickelt hat, gesehen. Aus den Berichten der psychiatrischen Institutsambulanz des R1-Stifts ergibt sich ebenfalls kein Anhaltspunkt für eine eigenständige Kopfschmerzerkrankung, sondern die Schmerzen werden ebenfalls als somatoforme Schmerzstörung im Zusammenhang mit der depressiven Episode gesehen. Daher stellt der Senat fest, dass die Kopfschmerzen als Teil der beim Kläger vorliegenden somatoformen Schmerzstörung zu berücksichtigen sind.

Der Kläger leidet ferner im Funktionssystem Rumpf an rezidivierenden Schmerzen der Lendenwirbelsäule ohne motorische Ausfälle. Dies stellt der Senat fest aufgrund der Auskunft des behandelnden T1 und den Befunden im Reha-Entlassbericht vom 08.12.2020. Die Beweglichkeit der Wirbelsäule ist nach der Auskunft von T1 nur leicht eingeschränkt mit einem Finger-Boden-Abstand von 15 cm. Es besteht eine rechtskonvexe lumbale Skoliose mit Druckschmerz an der unteren LWS. Im Reha-Entlassbericht ist eine endgradig schmerzhaft eingeschränkte Rotation der HWS ohne nähere Bewegungsausmaße, Klopfschmerzhaftigkeit der LWS und ein positiver Lasegue bei 50° beschrieben worden sowie eine endgradig schmerzhafte Bewegung im Kniegelenk.

Nach Teil B Nr. 18.9 VG sind Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) mit einem GdB von 10 und mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) mit einem GdB von 20 zu bewerten. Ein GdB von 30 kommt bei Wirbelsäulenschäden mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) in Betracht. Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten sind mit einem GdB von 30-40 zu bewerten.

Danach sind die Einschränkungen des Klägers im Funktionssystem Rumpf mit einem GdB von 20 ausreichend bewertet. Die Beeinträchtigungen im Bereich der Wirbelsäule betreffen nur einen Abschnitt. Das Lasègue-Zeichen ist beidseits bereits bei 50° positiv, so dass von einer schmerzbedingten mittelgradigen Einschränkung der Beweglichkeit auszugehen ist.

Im Funktionssystem Beine besteht beim Kläger einer Gonarthrose des linken Knies. Im rechten Kniegelenk beträgt nach der Auskunft von T1 die Extension/Flexion 0-5-130°. Im Reha-Entlassbericht ist eine endgradig schmerzhafte Bewegung im Kniegelenk beschrieben worden. Bewegungseinschränkungen im Kniegelenk sind nach Teil B Nr. 18.14 VG bei einer einseitigen Bewegungseinschränkung geringen Grades (z.B. Streckung/Beugung 0-10-90) mit einem GdB von 0-10 zu bewerten. Die Beweglichkeit der Knie ist nur gering eingeschränkt und daher mit einem GdB von 10 ausreichend bewertet.

Die Schwerhörigkeit des Klägers ergibt nach dem vorliegenden Tonaudiogramm vom 23.03.2018 nach Teil B Nr. 5.4.2 VG für das Funktionssystem Hör- und Gleichgewichtsorgan einen GdB von 15, der auf 20 aufzurunden ist, da nach Teil A Nr. 2e VG beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben sind.

Aufgrund des beim Kläger ebenfalls vorliegenden Bluthochdrucks sind bisher keine Organbeteiligungen oder Leistungsbeeinträchtigungen nachgewiesen worden. Die Hypertonie ist daher im Funktionssystem Herz-Kreislauf nach Teil B Nr. 9.3 VG als leichte Form mit einem GdB von 10 zu bewerten.

Für den Diabetes des Klägers ist im Funktionssystem Stoffwechsel nach Teil B Nr. 15.1 VG kein Teil-GdB anzusetzen. Der Diabetes wird nach Auskunft des behandelnden U1 und ausweislich des Reha-Entlassberichts diätisch und mit einer Steigerung der körperlichen Tätigkeit therapiert. Hypoglykämien werden durch diese Therapie nicht ausgelöst, weshalb der GdB 0 beträgt.

Für die Bewertung des Gesamt-GdB ist vom höchsten Einzel-GdB, vorliegend somit vom GdB von 40 für das Funktionssystem Nervensystem und Psyche auszugehen. Die Teil-GdB von jeweils 20 für das Funktionssystem Rumpf und Hör- und Gleichgewichtsorgan rechtfertigen jedoch keine Erhöhung des Gesamt-GdB auf 50. Bezüglich der Schwerhörigkeit wird der Teil-GdB von 20 noch nicht voll ausgefüllt, so dass keine so schwere Beeinträchtigung vorliegt, dass eine Erhöhung gerechtfertigt wäre. Der Teil-GdB von 20 für die Wirbelsäule umfasst im Wesentlichen die Schmerzen in diesem Bereich und die dadurch bedingten Bewegungseinschränkungen. Damit bestehen erhebliche Überschneidungen mit der somatoformen Schmerzstörung, die bereits zur Erhöhung des GdB im Bereich Nervensystem und Psyche geführt hat. Weitergehende Bewegungseinschränkungen der Wirbelsäule, die auf Verformungen oder Instabilität der Wirbelsäule beruhe, liegen dagegen nicht vor, sondern es stehen allein die Schmerzen im Vordergrund. Daher ist aufgrund der bereits berücksichtigten somatoformen Schmerzstörung eine weitere Erhöhung des GdB nicht gerechtfertigt. Insgesamt sind die beim Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen im Gesamtvergleich nicht so schwerwiegend, dass ein GdB von 50 gerechtfertigt ist, wie dies z.B. bei schweren psychischen Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten der Fall ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
Saved