S 1 SB 486/24

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
1
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 1 SB 486/24
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid

Der Beklagte wird verurteilt, über den Widerspruch des Klägers vom 15.11.2023 gegen den Bescheid des Beklagten vom 07.11.2023 zu entscheiden.

 

Der Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

 

Der Beklagte hat im Übrigen Verschuldenskosten in Höhe von 300 Euro an die Landeskasse zu zahlen.

 

 

 

T a t b e s t a n d :

 

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte verpflichtet ist, über einen Widerspruch zu entscheiden.

 

Mit Ausführungsbescheid vom 31.10.2024 stellte der Beklagte bei dem Kläger einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 fest.

 

Im August 2023 stellte der Kläger einen Verschlimmerungsantrag.

 

Der Beklagte zog Befund- und Behandlungsberichte der den Kläger behandelnden Ärzte bei und ließ diese durch den Arzt D. auswerten. Dieser vertrat in der gutachtlichen Stellungnahme vom 06.11.2023 die Auffassung, bei dem Kläger lägen nunmehr die folgenden Behinderungen vor:

 

  1. Schultergelenkersatz rechts und links (Einzel-GdB 40)
  2. Psychische Abhängigkeit (Einzel-GdB 30)
  3. Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 10)

 

Der Gesamt-GdB betrage 50.

 

Auf der Grundlage dieser Stellungnahme erteilte der Beklagte am 07.11.2023 einen Bescheid, mit dem er bei dem Kläger ab dem 01.08.2023 einen GdB von 50 feststellte.

 

Der Kläger legte gegen diesen Bescheid am 15.11.2023 Widerspruch ein und vertrat die Auffassung, seines Erachtens sei der GdB nicht ausreichend gewürdigt.

 

 

Der Beklagte zog anschließend weitere Arztberichte bei und ließ diese durch den Arzt J. auswerten. Dieser vertrat in der gutachtlichen Stellungnahme vom 13.02.2024 die Auffassung, die Funktionsstörung der Wirbelsäule sei mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten und als neue Behinderung sei eine Lungenfunktionsstörung festzustellen, die mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sei. Aufgrund dessen sei ein Gesamt-GdB von 60 vertretbar.

 

Auf der Grundlage dieser Stellungnahme erteilte der Beklagte am 14.02.2024 einen „Abhilfebescheid“, mit dem er den GdB des Klägers ab dem 01.08.2023 mit 60 feststellte. Als „rechtlicher Hinweis“ findet sich auf diesem Bescheid der Zusatz: „Mit diesem Bescheid ist das Widerspruchsverfahren beendet.“

 

Mit Schreiben vom 04.03.2024 legte der Kläger gegen den Bescheid vom 14.02.2024

„vorsichtshalber“ Widerspruch ein und wies darauf hin, dass dem Widerspruch durch den Abhilfebescheid mit der Feststellung eines GdB von 60 nicht vollständig abgeholfen worden sei. Sollte der Beklagte den Widerspruch im Übrigen zurückweisen wollen, hätte er einen Widerspruchsbescheid mit Rechtsbehelfsbelehrung erlassen müssen. Da lediglich eine Teilabhilfe erfolgt sei, werde davon ausgegangen, dass der Widerspruch hinsichtlich eines höheren GdB nach wie vor anhängig sei.

 

Mit Schreiben vom 11.03.2024 teilte der Beklagte dem Kläger mit, er könne keinen Widerspruch (gegen den Bescheid vom 14.02.2024) erheben. Das Verfahren sei bereits durch Erlass des Abhilfebescheides abgeschlossen. Ausweislich der aktenkundigen Begründung des Klägers sei kein konkretes Begehren geäußert worden, sodass mit der nun einhergegangenen Erhöhung des GdB im Widerspruchsverfahren eine volle Abhilfeentscheidung gegeben sei.

Der Beklagte könne das Schreiben vom 04.03.2024 als Überprüfungsantrag gemäß § 44 SGB X werten. 

 

Mit Schreiben vom 15.04.2024 vertrat der Kläger weiterhin die Auffassung, das Widerspruchsverfahren sei noch immer anhängig, da es sich bei dem Bescheid vom 14.02.2204 nur um einen Teilabhilfebescheid gehandelt habe. Auch wenn der Antrag keinen konkreten GdB enthalten habe, sei es Auftrag der Sozialleistungsbehörde im Rahmen der Amtsermittlungspflicht nachzufragen, ob der Widerspruch sich durch die Feststellung eines bestimmten GdB erledigt habe. Ansonsten könnte die Behörde durch Erlass eines Teilabhilfebescheides – ohne Rechtsmittelbelehrung und lediglich mit dem Hinweis „mit diesem Bescheid ist das Widerspruchsverfahren beendet“ – den Rechtsweg verkürzen. Nach seiner Auffassung sei ein Gesamt-GdB von mindestens 80 – 90 festzustellen.

 

Mit Schreiben vom 28.05.2024 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass es bei seiner Auffassung im Schriftsatz vom 11.03.2024 verbleibe.

 

Am 07.06.2024 hat der Kläger eine Untätigkeitsklage beim Sozialgericht Detmold erhoben. Zur Begründung hat er im Wesentlichen seinen Vortrag im Widerspruchsverfahren wiederholt.

 

Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,

 

den Beklagten zu verurteilen, vollumfänglich über seinen Widerspruch vom 15.11.2023 gegen den Bescheid des Beklagten vom 07.11.2023 zu entscheiden.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Das Widerspruchsverfahren sei durch den Abhilfebescheid „technisch“ beendet worden. Eine Weiterführung sei somit nicht möglich, da auch kein Vorgang mehr im Fachverfahren zur Verfügung stehe. Der Kläger habe in seiner Widerspruchsbegründung kein konkretes Begehren geäußert.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

 

 

 

 

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

Das Gericht konnte vorliegend nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da der Sachverhalt geklärt war und die Streitsache auch keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufwies.

 

Die am 07.06.2024 erhobene Untätigkeitsklage ist zulässig und begründet.

 

Der Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, über den Widerspruch des Klägers vom 15.11.2023 gegen den Bescheid des Beklagten vom 07.11.2023 zu entscheiden.

 

Ist ein Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht beschieden worden, so ist die Klage nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsaktes zulässig (§ 88 Abs. 1 Satz 1 SGG). Das Gleiche gilt, wenn über einen Widerspruch nicht entschieden worden ist, mit der Maßgabe, dass als angemessene Frist eine solche von drei Monaten gilt (§ 88 Abs. 2 SGG).

 

Ein Vorverfahren ist bei einer Untätigkeitsklage nicht erforderlich (vgl. B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, § 88 Rn. 3). Bei einer Untätigkeitsklage nach § 88 Abs. 2 SGG muss der Kläger Widerspruch eingelegt haben. Darauf, ob der Widerspruch zulässig ist, kommt es nicht grundsätzlich nicht an; der Kläger hat Anspruch auf einen Bescheid (vgl. B. Schmidt, a.a.O.).

Zulässigkeitsvoraussetzung ist weiter, dass der Kläger sachlich nicht beschieden worden ist, die Behörde also keine abschließende Entscheidung zur Hauptsache getroffen hat. Eine Bescheidung liegt z.B. dann vor, wenn einem Widerspruch abgeholfen worden ist. Keine sachliche Bescheidung ist aber eine Weigerung, über einen Antrag oder einen Widerspruch zu entscheiden (vgl. B. Schmidt, a.a.O., Rn. 4).

Für die Zulässigkeit der Klage kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob der Kläger einen Anspruch in der Sache selbst hat oder ob der beantragte Bescheid materiell-rechtliche Auswirkungen auf ihn hat; auch wenn das nicht der Fall ist, kann grundsätzlich ein Anspruch auf eine Bescheidung geltend gemacht werden (vgl. B. Schmidt, a.a.O.).

Weitere Zulässigkeitsvoraussetzung ist der Ablauf der Sperrfrist des § 88 Abs. 1 Satz 1 bzw. Absatz 2 SGG. Die Einhaltung der Sperrfrist ist ausnahmsweise nicht erforderlich, wenn die Behörde eindeutig und unmissverständlich zu erkennen gegeben hat, dass sie nicht entscheiden werde, eine Sachentscheidung also abgelehnt hat (vgl. B. Schmidt, a.a.O. Rn. 5b).

Keine Prozessvoraussetzung ist, dass ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden ist. Nach Ablauf der Sperrfrist ist die Klage ohne Rücksicht auf den Grund zulässig (vgl. B. Schmidt, a.a.O., Rn. 6).

 

Diese zugrunde gelegt, ist die am 07.06.2024 erhobene Untätigkeitsklage zulässig.

 

Der Kläger hat gegen den Bescheid der Beklagten vom 07.11.2023 am 15.11.2023 Widerspruch eingelegt. Der Beklagte hat zwar am 14.02.2024 einen „Abhilfebescheid“ erteilt, mit diesem „Abhilfebescheid“ war das Widerspruchsverfahren jedoch noch nicht abgeschlossen, sondern der „Abhilfebescheid“ ist nach § 86 SGG Gegenstand des Vorverfahrens geworden. Der Beklagte hat mehrfach zutreffender Weise darauf hingewiesen, dass der Kläger in seinem Widerspruch kein konkretes Begehren zur Höhe des GdB gestellt hat. Dann wäre es aber Aufgabe des Beklagten gewesen, bei dem Kläger nach Erlass des „Abhilfebescheides“ noch einmal nachzufragen, ob der Kläger seinen Widerspruch nach Erlass des „Abhilfebescheides“ zurücknimmt. Auf die in jeder Hinsicht zutreffenden Ausführungen des Klägers im Schriftsatz vom 04.03.2024 wird verwiesen.

Ergänzend ist nochmals darauf hinzuweisen, dass mehrdeutige Anträge meistbegünstigend auszulegen sind. Im Zweifel ist davon auszugehen, dass unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips alles begehrt wird, was dem Kläger aufgrund des Sachverhalts rechtlich zusteht (vgl. BSG, Urteil vom 14.06.2018 – B 9 SB 2/16 R – unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 24.04.2008 – B 9/9a SB 10/06 R -).

Bei der Erhebung der Klage am 07.06.2024 war die Sperrfrist des § 88 Abs. 2 SGG bereits abgelaufen. Darüber hinaus war die Einhaltung der Sperrfrist hier auch entbehrlich, da der Beklagte mit Schreiben vom 11.03.2024 und vom 28.05.2024 eindeutig und unmissverständlich zu erkennen gegeben hat, dass das Widerspruchsverfahren mit der Erteilung des „Abhilfebescheides“ abgeschlossen sei und eine weitere Entscheidung nicht mehr ergehen werde.

 

 

Die Klage ist auch begründet.

 

Ein zureichender Grund für die Nichtbescheidung des Widerspruchs liegt nicht vor. Ein solcher Grund liegt – wie dargelegt – insbesondere nicht darin, dass das Widerspruchsverfahren durch die Erteilung des „Abhilfebescheides“ bereits beendet war.

Ein zureichender Grund liegt aber auch nicht darin, dass eine Weiterführung nicht möglich sei, da kein Vorgang mehr zur Verfügung stehe. Wenn ein Vorgang zu Unrecht ausgetragen worden ist, muss er eben wieder eingetragen werden. Wenn dem Beklagten dies „technisch“ nicht möglich sein sollte, liegt dies allein im Verantwortungsbereich des Beklagten.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 192, 193 SGG.

 

Das Gericht hat es dabei für geboten erachtet, den Beklagten in Höhe von 300,00 EUR an den durch sein Verhalten entstandenen Gerichtshaltungskosten zu beteiligen. Dem Beklagten ist die eindeutige Rechtslage mehrfach erklärt worden. Wenn der Beklagte dennoch an seiner offensichtlich unzutreffenden Rechtsauffassung festhält, ist dies nach Auffassung des Gerichts missbräuchlich im Sinne des § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGG.

 

Da es sich bei den Verschuldenskosten um einen Schadensersatzanspruch handelt, kann der Schaden in entsprechender Anwendung der §§ 202 SGG, 287 ZPO geschätzt werden. Bei der Entscheidung über die Höhe der Kosten hat sich das Gericht daran orientiert, dass unnötige Kosten hinsichtlich des schriftlichen Abfassung des Gerichtsbescheides entstanden sind. Angesichts der Tatsache, dass die Tätigkeit eines Richters einschließlich der notwendigen Hilfskräfte bereits 1986 Kosten von durchschnittlich 350,00 DM bis 450,00 DM verursacht hat (vgl. Goedelt, Sozialgerichtsbarkeit, 1986, 493, 500, Landesozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 05.04.2022 – L 15 U 273/21 - m.w.N.) hat das Gericht jedenfalls einen Betrag von 300,00 EUR als erforderlich angesehen, um damit die Kosten von über einer Stunde richterlicher Tätigkeit einschließlich Hilfskräfte zur Abfassung des Gerichtsbescheides nebst Nebenkosten (Kopiekosten, Zustellkosten) abzugelten.

Rechtskraft
Aus
Saved