L 3 AL 24/22

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
3.
1. Instanz
SG Kiel (SHS)
Aktenzeichen
S 9 AL 73/20
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AL 24/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Hat ein Sozialleistungsträger nach dem 1.Januar 2018 den elektronischen Rechtsverkehr eingeführt, belehrt in einem Veraltungsakt aber nicht über die Möglichkeit der elektronischen Widerspruchseinlegung, so ist die Rechtsbehelfsbelehrung fehlerhaft und es gilt die Jahresfrist.
Erweist sich nach Erfüllung eines Erstattungsanspruches nach §§ 103 ff SGB X zwischen zwei Sozialleistungsträgern die Leistung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers im Verhältnis gegenüber dem Leistungsberechtigten als rechtswidrig und ist sie gegenüber diesem aufgehoben oder zurückgenommen worden, so kommt im Umfang des erfüllten Erstattungsanspruch ein Rückerstattungsanspruch gegenüber dem anderen Leistungsträger nach § 112 SGB X nicht aber ein Erstattungsanspruch gegenüber dem Leistungsberechtigten nach § 50 SGB X in Betracht.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 13. Juni 2022 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der 1991 geborene Kläger wendet sich gegen einen Bescheid, mit dem die Beklagte die Rückerstattung zuvor gewährten Arbeitslosengeldes geltend macht.

 

Die Beklagte gewährte dem Kläger auf dessen Antrag vom 2. Dezember 2019 mit Bescheid vom 24. Februar 2020 für den Zeitraum vom 2. Dezember 2019 bis 31. Januar 2020 Arbeitslosengeld in Höhe von 12,42 € kalendertäglich. Die befristete Gewährung erfolgte in Hinblick auf die Aufnahme einer Beschäftigung zum 1. Februar 2020. Eine Auszahlung des Arbeitslosengeldes an den Kläger erfolgte nicht. Den gesamten Betrag in Höhe von 1,027,80 € kehrte die Beklagte bereits am 13. Februar 2020 zur Erfüllung eines Erstattungsanspruches gemäß § 103 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) an das Jobcenter Kiel aus.

 

Durch einen Datenabgleich erfuhr die Beklagte, dass der Kläger im Dezember 2019 noch eine geringfügige Beschäftigung in der Gastronomie ausgeübt hatte, für die er eine Vergütung in Höhe von brutto = netto 303,27 € erhalten hatte. Diese Vergütung erhielt er im Januar 2020.

 

Mit Anhörungsschreiben vom 19. März 2020 hörte die Beklagte den Kläger dazu an, dass er ein Nebeneinkommen erzielt habe und teilte ihm mit, dass dieses Nebeneinkommen auf das Arbeitslosengeld gemäß § 155 Sozialgesetzbuch, Drittes Buch (SGB III) anzurechnen sei. Der Kläger teilte daraufhin mit, dass der Sachverhalt zutreffend sei und übersandte die Verdienstabrechnung für Dezember 2019.

 

Mit auf § 48 SGB X gestützten Änderungsbescheid vom 7. Mai 2020 änderte die Beklagte die Bewilligung für den Zeitraum 2. bis 31. Dezember 2019 dahingehend ab, dass nur noch ein täglicher Leistungsbetrag von 7,81 € gewährt wurde. Zur Begründung verwies sie darauf, dass sich am 2. Dezember 2019 der Anrechnungsbetrag ändere und das Nebeneinkommen abzüglich eines Mindestfreibetrages in Höhe von 165,- € ergo in Höhe von 138,27 € anzurechnen sei. Daraus ergebe sich ein täglicher Anrechnungsbetrag von 4,61 €. Mit weiterem Bescheid vom 7. Mai 2020 machte die Beklagte eine Erstattung in Höhe von 138,30 € geltend. Beide Bescheide enthielten eine Rechtsbehelfsbelehrung, in der auf die Möglichkeit der Einlegung eines Widerspruchs schriftlich oder zur Niederschrift hingewiesen worden ist, jedoch nicht auf die Möglichkeit einer Erhebung des Widerspruchs in elektronischer Form.

 

Das Jobcenter Kiel hob seine Leistungsgewährung für Januar 2020 teilweise auf und machte eine Erstattung in Höhe von 162,72 € gegenüber dem Kläger geltend.

 

Mit Schreiben vom 16. Dezember 2020 erhob der Kläger, anwaltlich vertreten, Widerspruch gegen den Bescheid vom 7. Mai 2020 und stellte vorsorglich einen Überprüfungsantrag. Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 2020 verwarf die Beklagte den Widerspruch als unzulässig, dieser sei verfristet, weil der Bescheid vom 7. Mai 2020 am 10. Mai 2020 als bekannt gegeben gelte. Der Widerspruch sei nicht innerhalb eines Monats erhoben worden. Die Rechtsbehelfsbelehrung sei vollständig und verständlich gewesen.

 

Mit der am 21. Dezember 2020 beim Sozialgericht Kiel erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt, zu deren Begründung er vorgetragen hat, der Widerspruch sei nicht verfristet gewesen, denn in der Rechtsbehelfsbelehrung habe der Hinweis auf die Möglichkeit der elektronischen Einlegung gefehlt. In der Sache sei zwar die teilweise Aufhebung der Leistung für den Monat Dezember 2019 rechtmäßig, nicht jedoch die Geltendmachung einer Erstattungsforderung. Die Beklagte habe sich vorrangig an das Jobcenter zu wenden. Der Kläger sei durch § 107 SGB X vor einer Geltendmachung gegenüber seiner Person geschützt. Die Leistungen seien ihm auch nicht zugeflossen, sondern im Rahmen eines Erstattungsanspruchs an das Jobcenter gezahlt worden.

 

Der Kläger hat beantragt,

 

den Erstattungsbescheid vom 7. Mai 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2020 aufzuheben.

 

Die Beklagte hat beantragt,

 

            die Klage abzuweisen.

 

Sie führt aus, die Aufhebung habe auf Angaben des Klägers beruht und weiche nicht von diesen zu dessen Nachteil ab. Sie sehe keine weitere Verpflichtung zur Anhörung des Klägers. Die Rechtsbehelfsbelehrung entspreche den gesetzlichen Vorgaben und internen Anweisungen. Fehler seien nicht ersichtlich.

 

Auf Nachfrage des Sozialgerichts hat die Beklagte mitgeteilt, dass sie den elektronischen Rechtsverkehr schrittweise ab 18. November 2019 eingeführt habe, flächendeckend in zwei Wellen ab 6. April 2020. Zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Entscheidung vom 7. Mai 2020 habe sie die Möglichkeit gehabt, einfache E-Mails mit qualifizierter elektronischer Signatur wie auch E-Mails nach dem DE-Mail-Gesetz zu empfangen. Sie habe zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich mit allen am elektronischen Rechtsverkehr teilnehmenden Stellen elektronisch kommuniziert. Dies seien in der Praxis ausschließlich Gerichte und Anwaltskanzleien gewesen. Zu diesem Zeitpunkt habe sie über den elektronischen Rechtsverkehr übermittelte Widersprüche entgegengenommen und als formgerecht gewertet.

 

Mit Urteil vom 13. Juni 2022 hat das Sozialgericht Kiel den Erstattungsbescheid vom 7. Mai 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2020 aufgehoben. Die Berufung hat es im Tenor seiner Entscheidung zugelassen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Widerspruch gegen den Erstattungsbescheid sei fristgerecht, weil die Jahresfrist gemäß § 66 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gegolten habe. Dies folge aus der unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung in dem angefochtenen Bescheid. Da der Beklagte zum damaligen Zeitpunkt einen Zugang im Sinne von § 36a Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (SGB I) für die Übermittlung elektronischer Dokumente im Rechtsverkehr eröffnet habe, sei in der Rechtsbehelfsbelehrung ein Hinweis auf die in § 84 Abs. 1 SGG für diesen Fall vorgesehene Möglichkeit der Einlegung des Widerspruchs in elektronischer Form erforderlich gewesen.

 

Die Teilaufhebung der Leistungsbewilligung mit Bescheid vom 7. Mai 2020 sei in Anwendung von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X rechtmäßig in Höhe von 138,30 € für den Monat Dezember 2019 unter Berücksichtigung von § 155 Abs. 1 Satz 1 SGB III erfolgt. Der Kläger wende sich auch nicht mehr gegen den Änderungsbescheid vom 7. Mai 2020 sondern nur gegen den Erstattungsbescheid. Trotz rechtmäßiger Teilaufhebung der Leistung bestehe kein Anspruch der Beklagten auf Erstattung nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X gegenüber dem Kläger.

 

§ 50 SGB X finde nicht nur im Verhältnis eines Leistungsträgers gegenüber Leistungsempfängern Anwendung, sondern auch auf Erstattungsansprüche der Sozialleistungsträger untereinander, die nicht in den Anwendungsbereich der vorrangig anzuwendenden §§ 102 ff SGB X fielen. Dabei hat sich das Sozialgericht auf ein Urteil des BSG vom 18. März 1999 im Verfahren B 14 KG 6/97 R gestützt.

 

Im Verhältnis der Beklagten zum Jobcenter seien die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 102 ff SGB X hier nicht erfüllt. Vielmehr habe sich herausgestellt, dass die Beklagte für den Monat Dezember 2019 aufgrund von Erwerbseinkünften des Klägers zu einer geringeren Leistung von Arbeitslosengeld verpflichtet gewesen sei und somit betreffend den Monat Dezember 2019 in einer um 138,30 € geringeren Höhe einem Erstattungsanspruch nach §§ 102 ff SGB X durch das Jobcenter ausgesetzt gewesen sei.

 

Es handele sich um die nachträgliche Korrektur einer unberechtigten Vermögensverschiebung zwischen der Beklagten und dem Jobcenter zulasten der Beklagten und zugunsten des Jobcenters. Dies werde deutlich, wenn man die Leistungshöhe prüft, die bei rechtzeitiger Mitteilung der Erwerbstätigkeit im Monat Dezember durch den Kläger bestanden hätte. Sein Anspruch auf Arbeitslosengeld gegenüber der Beklagten wäre in Anwendung von § 155 Abs.1 Satz 1 SGB III im Monat Dezember 2019 um 138,30 € geringer gewesen. Zugleich wäre jedoch sein aufstockender Anspruch auf Arbeitslosengeld II gegenüber dem Jobcenter im Monat Dezember 2019 um 138,30 € höher ausgefallen, weil das Gehalt in diesem Monat nicht zugeflossen sei und mithin nicht zur Verfügung gestanden habe. Der interne Erstattungsbetrag zwischen dem Beklagten und dem Jobcenter hätte sich um 138,30 € reduziert.

 

In dieser Konstellation scheide ein Erstattungsanspruch der Beklagten nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X gegenüber dem Kläger aus. Ihm seien Leistungen nicht im Sinne dieser Vorschrift bereits erbracht worden. Da in der streitbefangenen Konstellation kein Anspruch der Beklagten auf Rückerstattung der gezahlten Erstattungen Anwendung von §§ 102 ff SGB X gegenüber dem Jobcenter bestehe, richte sich der Anspruch nach den insoweit nachrangigen § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X. In diesem Verhältnis sei die allein zwischen der Beklagten und dem Jobcenter nachträglich rechtsgrundlose Vermögensverschiebung erfolgt und somit auszugleichen.

 

Gegen das ihr am 15. Juli 2022 zugestellte Urteil richtet sich die am 1. August 2022 erhobene Berufung der Beklagten.

 

Zu deren Begründung trägt sie vor, ihres Erachtens lägen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB II gegenüber dem Kläger vor. Der mit Bescheid vom 24. Februar 2020 bewilligte Anspruch gelte aufgrund des bestehenden Erstattungsanspruchs des Jobcenters nach § 107 Abs. 1 SGB X als erfüllt und Leistungen somit als erbracht. Die maßgeblichen Bescheide seien erst durch Bescheid vom 7. Mai 2020 teilweise aufgehoben worden. Bis dahin seien die Bewilligungsentscheidungen wirksam gewesen, mithin auch noch zum Zeitpunkt der Erfüllung des Erstattungsanspruches des Jobcenters am 13. Februar 2020.

 

§ 50 SGB X sei grundsätzlich nur eine Anspruchsgrundlage der Verwaltung gegenüber Leistungsberechtigten und gelte nicht für Ansprüche von Leistungsträgern untereinander. Die Entscheidung des BSG, auf die sich das Sozialgericht gestützt habe, betreffe eine andere Konstellation, nämlich den Fall, dass ein Leistungsträger im Wege einer Abzweigung Sozialleistungen für einen Leistungsberechtigten geltend mache. Anders als in diesem Fall sei das Jobcenter hier aber nicht wie ein Bürger an dem Rechtsverhältnis beteiligt gewesen. Auch eine Rückerstattung nach der für solche Fälle einzig in Betracht kommenden Rechtsgrundlage § 112 SGB X scheide deshalb aus, weil diese Norm voraussetze, dass die ursprüngliche Erstattung der Leistungsträger untereinander zu Unrecht erfolgt sei, dies sei jedoch nicht der Fall.

 

Die Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 13. Juni 2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Der Kläger beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

In der mündlichen Verhandlung vom 9. Mai 2025 hat der Senat das Jobcenter Kiel zum Verfahren beigeladen.

           

Ergänzend wird hinsichtlich des Sach- und Streitstandes auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

 

 

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist fristgerecht innerhalb der einmonatigen Berufungsfrist des § 151 Abs. 1 SGG erhoben worden und auch im Übrigen zulässig.

Die Unterschreitung des Mindestbeschwerdewerts gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG steht der Zulässigkeit nicht entgegen, weil sie durch das Sozialgericht im Tenor seiner Entscheidung zugelassen worden ist. Daran ist der Senat gebunden.

 

Die Berufung ist aber nicht begründet.

 

Zu Recht hat das Sozialgericht in der Sache über die Klage entschieden, denn die Beklagte hatte den Widerspruch des Klägers vom 16. Dezember 2020 zu Unrecht als unzulässig verworfen. Gegen die Bescheide vom 7. Mai 2020 war gemäß § 84 Abs. 2 in Verbindung mit § 66 Abs. 2 SGG die Erhebung des Widerspruchs binnen eines Jahres ab Verkündung zulässig, denn die den Bescheiden angefügte Rechtsbehelfsbelehrung war unrichtig im Sinne von § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG. § 84 Abs. 1 SGG sieht seit 1. Januar 2018 neben der Einlegung eines Widerspruchs schriftlich oder zur Niederschrift auch die Widerspruchseinlegung in elektronischer Form nach § 36a SGB I vor. Nach dieser Vorschrift ist die Übermittlung elektronischer Dokumente zulässig, soweit der Empfänger hierfür einen Zugang eröffnet hat. Allein die Änderung von § 84 Abs. 1 SGG verpflichtete die Beklagte daher nicht in ihrer Rechtsbehelfsbelehrung auf die Möglichkeit einer elektronischen Widerspruchseinlegung hinzuweisen, dies setzte vielmehr die Eröffnung eines Zugangs für die Übermittlung elektronischer Dokumente oder die Setzung eines entsprechenden Anscheins voraus (vgl. BSG, Urteil vom 27. September 2023, B 7 AS 10/22 R). Die Beklagte hat eingeräumt, zum Zeitpunkt der streitigen Entscheidungen den elektronischen Rechtsverkehr und die Möglichkeit des Empfangs elektronischer Dokumente eröffnet zu haben und auch elektronisch übermittelte Widersprüche als formgerecht entgegengenommen zu haben. Dementsprechend war die Rechtsbehelfsbelehrung unvollständig mit der Folge, dass noch binnen eines Jahres eine fristgerechte Einlegung des Widerspruchs gegen die Bescheide vom 7. Mai 2020 zulässig war.

 

Nicht zu folgen ist dem Sozialgericht dahingehend, dass die Teilaufhebung der Leistungsbewilligung mit Bescheid vom 7. Mai 2020 in Anwendung von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X rechtmäßig erfolgt ist. Der Bescheid vom 24. Februar 2020 ist nämlich nicht durch eine nachträgliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, rechtswidrig geworden, sondern war von Anfang an in Höhe der später vorgenommenen Aufhebung rechtswidrig. Bei Erlass dieses Bescheides hatte der Kläger den gemäß § 155 Abs. 1 Satz 1 SGB III anzurechnenden Nebenverdienst bereits erzielt, sodass der Bescheid in Höhe der Überzahlung von Anfang an rechtswidrig war. Die Rückabwicklung des Bescheides vom 24. Februar 2020 richtet sich daher allein nach § 45 SGB X. Dieser unterscheidet sich hinsichtlich der Voraussetzungen für die Rücknahme/ Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit von § 48 SGB X dahingehend, dass eine § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X entsprechende Vorschrift, wonach eine Aufhebung auch ohne Vorliegen weiterer subjektiver Voraussetzungen mit Wirkung für die Vergangenheit möglich ist, wenn nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, dass zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, in § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X nicht vorgesehen ist. Zwar dürften die dortigen Voraussetzungen nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X vorliegen, denn der Kläger hatte die Nebenbeschäftigung der Beklagten nicht mitgeteilt. Gleichwohl fehlt es an einer Anhörung zu den subjektiven Rücknahmevoraussetzungen gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X, denn die Anhörung der Beklagten erstreckte sich lediglich auf die Erzielung eines Nebeneinkommens, also auf die Konstellation gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X. Voraussetzung für die Rücknahme nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X ist aber auch die Vorsätzlichkeit bzw. grobe Fahrlässigkeit in Hinblick auf leistungserhebliche unvollständige Angaben. Dazu hat die Beklagte den Kläger nicht angehört und diesbezüglich weicht sie auch nicht zu seinen Ungunsten nicht von seinen Angaben im Sinne von § 24 Abs. 2 Nr. 3 SGB X ab, denn der Kläger hatte gar keine Möglichkeit, Angaben zum Vorliegen von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit zu machen. Eine Nachholung dieser Anhörung ist weder im Widerspruchsverfahren noch im Klageverfahren, während dessen ein förmliches, vom gerichtlichen Verfahren getrenntes Anhörungsverfahren durchzuführen wäre, erfolgt.

 

Allerdings ist der rechtswidrige Aufhebungsbescheid vom 24. Februar 2020 in Bestandskraft erwachsen und nicht mehr Gegenstand des Berufungsverfahrens. Zwar hat der Kläger mit Klageerhebung und auch im Folgenden während des Klageverfahrens, die Aufhebung des „Aufhebungs- und Erstattungsbescheides“ der Beklagten vom 7. Mai 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2020 beantragt. Zu Protokoll des Gerichtes in der mündlichen Verhandlung vom 13. Juni 2022 hat der Kläger aber nur die Aufhebung des Erstattungsbescheides beantragt. Nur darüber hat das Sozialgericht auch entschieden und der Kläger hat der Wertung des Sozialgerichts, wonach er sich nur (noch) gegen den Erstattungsbescheid richte, auch nicht widersprochen. Der Aufhebungsbescheid gleichen Datums ist daher in Bestandskraft erwachsen und seine Rechtswidrigkeit kann dem Erstattungsbescheid daher nicht mehr die Grundlage entziehen.

 

Gleichwohl ist der Erstattungsbescheid vom 7. Mai 2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2020 rechtswidrig, verletzt den Kläger in seinen Rechten und das Sozialgericht hat diese Bescheide zu Recht aufgehoben.

 

Für die Anwendung des § 50 Abs.1 SGB X gegenüber dem Kläger verbleibt im vorliegenden Fall kein Raum, denn dem Kläger sind die zur Erstattung geforderten Leistungen nicht erbracht worden. Der Kläger muss sich nicht aufgrund der Erfüllungsfiktion des § 107 Abs. 1 SGB X so behandeln lassen, als ob die Beklagte ihm tatsächlich Arbeitslosengeld für den Aufhebungszeitraum gewährt hat. Die Erfüllungsfiktion tritt jedenfalls nur ein, soweit ein Erstattungsanspruch zwischen den Leistungsträgern besteht. Ein Erstattungsanspruch des Beigeladenen bestand für den streitigen Zeitraum aber nicht. Denn durch die Aufhebungsentscheidung nach § 48 SGB X wird auf Seiten der Beklagten die rechtliche Grundlage für die gewährte Leistung beseitigt (Vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30. Mai 2013, L 8 AL 19/09).

 

Zuzustimmen ist der Beklagten zwar dahingehend, dass die Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs gemäß § 50 SGB X vornehmlich das Verhältnis von Sozialleistungsträgern gegenüber Leistungsempfängern betrifft und nicht das Verhältnis verschiedener Sozialleistungsträger untereinander. Eine Ausnahme davon hat das Bundesozialgericht in der vom Sozialgericht zitierten Entscheidung (B 14 KG 6/97 R vom 18. März 1999) nur für den Fall vorgesehen, wenn der betroffene Sozialleistungsträger „wie ein Bürger“ an dem Rechtsverhältnis beteiligt ist. Die konkrete Entscheidung betraf eine Abzweigung gemäß § 48 Abs. 1 SGB I zur Erfüllung einer Unterhaltspflicht. Die reguläre Abwicklung von Nachzahlungen von mit Wirkung für die Vergangenheit gewährter Sozialleistungen im Verhältnis von Sozialleistungsträgern untereinander im Rahmen von Erstattungsansprüchen gemäß § 102 ff SGB X ist damit nicht vergleichbar.

 

Allerdings sehen die Regelungen zu Erstattungsansprüchen der Sozialleistungsträger untereinander, die sofern ihre Voraussetzungen eingreifen, den §§ 44 SGB X ff vorgreifen, in § 112 SGB X die Rückerstattung eines erfüllten Erstattungsanspruchs vor, wenn die Erstattung zu Unrecht erfolgt ist. Die Beklagte meint, dessen Voraussetzungen lägen nicht vor, weil die Leistungsbewilligung durch den Bescheid vom 24. Februar 2020 erst durch den Bescheid vom 7. Mai 2020 teilweise aufgehoben worden ist und damit zum Zeitpunkt der Erfüllung des Erstattungsanspruches des Beigeladenen am 13. Februar 2020 noch wirksam war. Diese Argumentation überzeugt indessen nicht, denn Voraussetzung der Anwendung des § 112 SGB X ist nicht zwingend, dass die Erfüllung des Erstattungsanspruches schon von Beginn an zu Unrecht erfolgt ist oder gar, dass die Beteiligten erkennen konnten, dass die Erfüllung zu Unrecht geschehen würde, vielmehr ist eine Erstattung dann zu Unrecht erfolgt, wenn der in Rede stehende Erstattungsanspruch entweder von Anfang an gar nicht bzw. nicht in voller Höhe bestand oder zu einem späteren Zeitpunkt weggefallen ist (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 30. September 2014, L 11 KR 2398/13 Rn. 18; Sonnhoff in jurisPK SGB X, § 112 Rn. 25).

 

Allerdings wird aus dem Kooperationsgebot der Sozialleistungsträger untereinander gemäß § 86 SGB X hergeleitet, dass kein Rückerstattungsanspruch geltend gemacht werden kann, wenn die Erstattung auf einem rechtswidrigen, aber bestandskräftigen Sozialleistungsbescheid gegenüber dem Leistungsberechtigten hin erfolgt, auch wenn dieser nicht mehr nach §§ 44 ff. SGB X zurückgenommen werden kann (vgl. Sonnhoff aaO Rn. 27; BSG Urteil vom 22. März 2012, B 8 SO 2/11 R Rn. 11). Dies betrifft allerdings vornehmlich die Konstellation, in der die Leistungsgewährung des erstattungsberechtigten Trägers gegenüber dem Sozialleistungsempfänger rechtswidrig begünstigend war. Der erstattungspflichtige Träger soll sich, vorbehaltlich bereichsspezifischer Ausnahmen, dann nicht im Rahmen der Geltendmachung eines Rückerstattungsanspruchs auf die Rechtswidrigkeit dieser Leistungsgewährung berufen können (vgl. BSG aaO).

 

Die hier vorliegende Konstellation, der nachträglich festgestellten Rechtswidrigkeit der Leistung des erstattungspflichtigen Trägers wird in der höchstrichterlichen Rechtsprechung soweit ersichtlich nur in der Entscheidung vom 1. April 1993 im Verfahren 1 RK 10/92 behandelt. Das BSG hat in diesem Urteil vom 1. April 1993 für den Fall eines Erstattungsanspruchs einer Krankenkasse, die Krankengeld geleistet hat, gegenüber dem Rentenversicherungsträger, der rückwirkend eine Rente wegen Erwerbsminderung bewilligt hat, ausgeführt, dass sich auch im Falle der Rechtswidrigkeit der Rentengewährung der Erstattungsanspruch der Krankenkasse nach dem – rechtswidrigen – Rentenbescheid richtet, solange dieser für die Zeit des Krankengeldbezugs gegenüber dem Versicherten aufrechterhalten wird, gleichgültig ob die Rente zu Recht oder zu Unrecht bewilligt worden ist und ob der Rentenversicherungsträger die Entscheidung nachträglich nach den Vorschriften der §§ 44 ff SGB X noch aufheben kann. Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an.

 

Im zu entscheidenden Fall greift die vom BSG aufgestellte „Solange“ – Bedingung aber gerade nicht mehr, denn die Beklagte hat die Leistungsgewährung gegenüber dem Kläger in Höhe von 138,30 € wirksam und durch die Beschränkung des Klageantrages gegenüber dem Sozialgericht auch bestandskräftig aufgehoben, so dass mit dem Leistungsanspruch des Klägers gegenüber der Beklagten auch der Erstattungsanspruch des Beigeladenen in gleicher Höhe nachträglich weggefallen ist. Diese Konstellation ist allein über § 112 SGB X und nicht über einen Erstattungsanspruch nach § 50 Abs. 1 SGB X gegenüber dem Kläger zu lösen.

 

Dafür spricht im Übrigen auch der Wertungswiderspruch, der bei einer anderen Lösung entstünde. Eine Anrechnung des Arbeitsverdienstes für Dezember 2019 ist nämlich nicht nur im Leistungssystem des SGB III erfolgt, sondern auch im Rahmen der vom Kläger ergänzend bezogenen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II. Das Jobcenter hat die dem Kläger für Januar 2020 gewährten Leistungen infolge des in diesem Leistungssystem geltenden Zuflussprinzips in Höhe von 162,62 € in Hinblick auf den Nebenverdienst im Dezember 2019 aufgehoben. Würde die Leistungsaufhebung der Beklagten daneben Bestand haben, würde dies zu dem widersprüchlichen und so von der Regelung des § 155 SGB III nicht intendierten Ergebnis führen, dass der gleiche Verdienst des Klägers zweimal auf Sozialleistungen angerechnet würde und ihm von diesem Verdienst tatsächlich nur eine Differenz von 2,35 € verbliebe.

 

Nach alledem konnte die Berufung der Beklagten keinen Erfolg haben.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1, Abs. 4 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.

 

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen. Zur Überzeugung des Senats hat die entscheidungserhebliche Rechtsfrage insbesondere keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 160 Abs.2 Nr.1 SGG, weil sie durch die zitierte Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 1. April1993 hinreichend geklärt ist.

Rechtskraft
Aus
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