Der Bescheid des Beklagten vom 11.05.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.07.2020 wird aufgehoben.
Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger zu tragen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Feststellung eines sozialwidrigen Verhaltens wegen der Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit für die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).
Der Kläger zu 1 erzielte Einkommen aus einer Vollzeiterwerbstätigkeit. Zusätzlich erhielten die Kläger Kinderzuschlag und Wohngeld.
Im April 2020 beantragte der Kläger zu 1 Elternzeit/Elterngeld bis März 2021, also für 12 Monate.
Am 02.04.2020 beantragten die Kläger gleichzeitig Leistungen nach dem SGB II.
Mit Schreiben vom 23.04.2020 hörte der Beklagte die Kläger zur Geltendmachung eines Ersatzanspruchs bei sozialwidrigem Verhalten an. Der Kläger zu 1 habe die Hilfebedürftigkeit für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II an sich und seine Bedarfsgemeinschaft vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt. Indem er einen Antrag auf Elternzeit/Elterngeld gestellt habe, sei das Einkommen aus seiner Vollzeiterwerbstätigkeit, der Kinderzuschlag und das Wohngeld entfallen, obwohl seine Ehefrau keiner Tätigkeit nachgehe. Es bestehe kein Ersatzanspruch, wenn ein wichtiger Grund vorliege. Zudem erfolge keine Geltendmachung, wenn eine besondere Härte bestehe, das heißt auch eine geringe Ratenzahlung die künftige Existenz unabhängig von Grundsicherungsleistungen ernsthaft gefährden würde.
Mit Schreiben vom 02.05.2020 antwortete der Kläger zu 1 dem Beklagten, dass er während der Elternzeit einen Lkw-Führerschein machen wolle und seine Bachelor- und Masterzeugnisse anerkennen lassen wolle, sodass er danach ein höheres Einkommen erzielen könne. Er begehre hierfür die Kostenübernahme des Beklagten.
Mit Bescheid vom 11.05.2020 stellte der Beklagte ein sozialwidriges Verhalten seitens des Klägers zu 1 fest. Hätte der Kläger das Einkommen aus seiner Vollzeiterwerbstätigkeit weiter und seine Ehefrau ein Einkommen aus Elterngeld bezogen, wäre das gesamte Einkommen der Familie sogar noch höher und nicht niedriger gewesen. Die erbrachten Leistungen seien zu erstatten. Zur Höhe ergehe ein gesonderter Bescheid.
Mit Bescheid vom 12.05.2020 bewilligte der Beklagte den Klägern für die Zeit vom 01.04.2020 bis 30.09.2020 Leistungen nach dem SGB II.
Am 26.05.2020 legten die Kläger durch ihre Prozessbevollmächtigte Widerspruch gegen den Bescheid vom 11.05.2020 ein. Zur Begründung führten sie aus, dass ein Verhalten, das Hilfebedürftigkeit herbeiführe, erhöhe oder aufrechterhalte, nicht sozialwidrig sei, wenn es durch das Gesetz gebilligt oder gefördert werde. So liege es auch bei der Inanspruchnahme von Elternzeit/Elterngeld. Man könne frei wählen, wer in Elternzeit gehe beziehungsweise Elterngeld beantrage. Dies sei insbesondere für Erwerbstätige und auch Väter gedacht. Im Übrigen behalte der Kläger zu 1 seine Arbeit.
Mit Widerspruchsbescheid vom 22.07.2020 wies der Beklagte den Widerspruch der Kläger zurück. Ein sozialwidriges Verhalten sei ein Tun oder Unterlassen, das zwar nicht rechtswidrig sein müsse, aber aus Sicht der Solidargemeinschaft der Steuerzahler zu missbilligen sei. Da die Ehefrau keiner Tätigkeit nachgehe, sei die Betreuung der Kinder gesichert. Das Elterngeld solle die individuelle Situation stabilisieren und die wirtschaftliche Existenz möglichst unabhängig von staatlichen Fürsorgeleistungen sichern. Ziel sei es gewesen, den Lebensunterhalt, den Lkw-Führerschein und die Zeugnisanerkennung durch Steuergelder zu finanzieren.
Am 07.08.2020 haben die Kläger durch ihre Prozessbevollmächtigte Klage erhoben.
Die Kläger wiederholen ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren. Sie tragen ergänzend vor, dass die Inanspruchnahme von Elternzeit/Elterngeld ein normales, kein verwerfliches Verhalten sei. Es gehe nicht darum die Betreuung/Erziehung der Kinder sicherzustellen, sondern sich daran beteiligen zu können. In Alleinverdienerehen sollen dies beide Eltern können. Treten als Motive zur Betreuung und Erziehung der Kinder weitere hinzu, ändere dies nichts an dem gesetzgeberischen Willen, das Elternzeit/Elterngeld die Betreuung/Erziehung der Kinder fördern solle. Die weiteren Motive des Klägers zu 1 zeugen im Übrigen von seinem Willen, den Lebensstandard ohne staatliche Leistungen sicherstellen zu wollen. Eine Vorschrift, wer Elternzeit nimmt/Elterngeld beantragt, sei ein unverhältnismäßiger Eingriff in Art. 6 Grundgesetz (GG). Verwiesen werde auch auf die Wissensdatenbank der Bundesagentur für Arbeit zu § 10 SGB II.
Die Kläger beantragen,
den Bescheid des Beklagten vom 11.05.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.07.2020 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte verweist auf den Inhalt der angefochtenen Verwaltungsentscheidung. Es würden sich keine neuen Gesichtspunkte ergeben. Ergänzend trägt er vor, dass das sozialwidrige Verhalten nicht in dem Antrag auf Elternzeit/Elterngeld liege, sondern in der Einstellung der Vollzeiterwerbstätigkeit, obwohl die Ehefrau keiner Tätigkeit nachgehe, woraufhin Leistungen nach dem SGB II erforderlich geworden seien. Die Zumutbarkeit gemäß § 10 SGB II habe nichts mit dem vorliegenden Verfahren zu tun.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet.
Die Klage ist zulässig.
Die auf die Aufhebung eines Verwaltungsakts gerichtete Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 S. 1 Var. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig.
Die Klage ist auch begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 11.05.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.07.2020 ist rechtswidrig und die Kläger dadurch in ihren Rechten verletzt.
Gemäß § 34 Abs. 1 S. 1 SGB II ist, wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, zum Ersatz der deswegen erbrachten Geld- und Sachleistungen verpflichtet.
Dabei hat das Bundessozialgericht entschieden, dass die Jobcenter bei der Geltendmachung eines Ersatzanspruchs nach § 34 SGB II mittels gestufter Verwaltungsentscheidungen durch ein Grundlagen- und darauf aufbauende Leistungsbescheide vorgehen können (Grote-Seifert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage, § 34 (Stand: 18.01.2022) Rn. 82 m.w.N.).
Der Kläger zu 1 ist ein volljähriger Ersatzpflichtiger.
Bei ihm und seiner Bedarfsgemeinschaft liegen die Voraussetzungen, insbesondere die Hilfebedürftigkeit für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II vor.
Nach Auffassung der Kammer hat der Kläger zu 1 zwar die Voraussetzungen, insbesondere die Hilfebedürftigkeit für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II kausal herbeigeführt.
Liegt eine entsprechende Hilfebedürftigkeit im konkreten Fall vor, kann sie eine Erstattungspflicht nur auslösen, wenn ihre Voraussetzung, nämlich das Nichtvorhandensein des zur Sicherung des Lebensunterhalts erforderlichen Einkommens oder Vermögens, von dem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten „herbeigeführt“ worden ist. Das ist anzunehmen, wenn sein Verhalten für den Eintritt der Hilfebedürftigkeit ursächlich gewesen ist. In Betracht kommt sowohl ein aktives Tun als auch ein Unterlassen, das unmittelbar dazu geführt hat, dass ein den Lebensunterhalt sicherndes Einkommen oder Vermögen für ihn beziehungsweise die Angehörigen seiner Bedarfsgemeinschaft nicht zur Verfügung steht und deshalb Hilfebedürftigkeit eintritt (Grote-Seifert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage, § 34 (Stand: 18.01.2022) Rn. 23 m.w.N.).
Der Antrag auf Elternzeit/Elterngeld des Klägers zu 1 ist für den Eintritt der Hilfebedürftigkeit der Bedarfsgemeinschaft durch Entfall des Einkommens aus seiner Vollzeiterwerbstätigkeit ursächlich gewesen.
Nach Auffassung der Kammer hat aber für dieses etwaig sozialwidrige Verhalten des Klägers zu 1 jedenfalls ein wichtiger Grund vorgelegen und ihn trifft insbesondere auch kein Verschulden.
Das konkret vorgeworfene Verhalten muss nach den Wertungen des SGB II sozialwidrig sein, was nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen ist. Zwischen dem Verhalten selbst und dem Erfolg muss ein spezifischer Bezug bestehen, um das Verhalten selbst als „sozialwidrig“ bewerten zu können. Erfasst wird danach ein Verhalten, das in seiner Handlungstendenz auf die Herbeiführung von Leistungsgewährung nach dem SGB II gerichtet ist beziehungsweise hiermit in „innerem Zusammenhang“ steht oder einen spezifischen Bezug zu nach den Wertungen des SGB II zu missbilligenden Verhaltensweisen hat. Das Verhalten muss im Hinblick auf den im SGB II verankerten Grundsatz der Eigenverantwortung in missbilligender Weise den Betreffenden oder seine mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen in die Lage gebracht haben, Leistungen nach dem SGB II in Anspruch zu nehmen, wobei Anhaltspunkt für die Einordnung die Tatbestände sein können, die nach § 31 SGB II zur Absenkung des Arbeitslosengeld-II-Anspruchs führen können. Dabei genügt allerdings eine Pflichtverletzung nach § 31 SGB II allein nicht, wenn es sich nicht zugleich um ein unter keinem denkbaren Gesichtspunkt entschuldbares Verhalten handelt (Grote-Seifert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage, § 34 (Stand: 18.01.2022) Rn. 32 m.w.N.).
Ein wichtiger Grund ist nach allgemeiner Auffassung anzunehmen, wenn unter Berücksichtigung aller Besonderheiten des Einzelfalls Umstände vorliegen, unter denen nach verständiger Abwägung der Interessen des Einzelnen mit den Interessen der Allgemeinheit – also des Steuerzahlers – den Interessen des Individuums der Vorrang einzuräumen ist. Dabei muss der wichtige Grund objektiv vorliegen. Unerheblich ist demgegenüber, ob der Verursacher glaubt, einen wichtigen Grund zu haben (Grote-Seifert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage, § 34 (Stand: 18.01.2022) Rn. 33 m.w.N.).
Eine Ersatzpflicht lässt sich aus der Herbeiführung der Voraussetzungen der Leistungsgewährung nur herleiten, wenn den Verursacher ein Verschulden trifft. Dabei setzt schuldhaftes Handeln im Sinne des § 34 SGB II Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit voraus. Vorsatz ist das Wissen und Wollen eines bestimmten Erfolgs (unbedingter Vorsatz). Für die Bejahung von Vorsatz genügt es aber auch, dass der Handelnde den Eintritt eines bestimmten Erfolgs zumindest für möglich hält und billigend in Kauf nimmt (bedingter Vorsatz). Grob fahrlässig handelt nach der Legaldefinition in § 45 Abs. 2 Nr. 3 SGB X, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt besonders schwer verletzt. Das wird regelmäßig anzunehmen sein, wenn schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden und das nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste. Es muss also vorhersehbar gewesen sein, dass das Verhalten Hilfebedürftigkeit herbeiführt. Darüber hinaus muss der Verursacher der Hilfebedürftigkeit auch das Fehlen eines wichtigen Grundes gekannt oder grob fahrlässig nicht gekannt haben.
Zwar müssen nach § 2 SGB II erwerbsfähige Leistungsberechtigte und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen. Sie und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen haben in eigener Verantwortung alle Möglichkeiten zu nutzen, ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten. Erwerbsfähige Leistungsberechtigte müssen ihre Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen einsetzen. Indem der Kläger zu 1 einen Antrag auf Elternzeit/Elterngeld gestellt hat, ist das Einkommen aus seiner Vollzeiterwerbstätigkeit entfallen, obwohl seine Ehefrau keiner Tätigkeit nachgegangen ist. Die Betreuung der Kinder ist gesichert gewesen. Hätte der Kläger das Einkommen aus seiner Vollzeiterwerbstätigkeit weiter und seine Ehefrau ein Einkommen aus Elterngeld bezogen, wäre das gesamte Einkommen der Familie sogar noch höher und nicht niedriger gewesen. Auch hat der Lebensunterhalt, der Lkw-Führerschein und die Zeugnisanerkennung durch Steuergelder finanziert werden sollen.
Aber nach der Wissensdatenbank der Bundesagentur für Arbeit zu § 10 SGB II (WDB-Beitrags-Nr. 100006), wobei die Tatbestände nach § 31 SGB II, so auch § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II in Verbindung mit § 10 SGB II (Weigerung, zumutbare Arbeit aufzunehmen), Anhaltspunkte für ein sozialwidriges Verhalten bieten können, sind die Eltern frei darin, zu bestimmen, wer die Elternzeit nimmt. Auch der Alleinverdiener kann nicht auf die Fortführung seiner Erwerbstätigkeit verwiesen werden. Sollten durch die Inanspruchnahme der Elternzeit beide Partner „arbeitslos“ werden, muss ein Partner bestimmt werden, der die Kinderbetreuung übernimmt. Der andere Partner muss sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen. Die Kläger haben vorgetragen, dass sich der Kläger zu 1 der Kinderbetreuung hat widmen und die Klägerin zu 2 dem Arbeitsmarkt zur Verfügung hat stehen sollen.
Weiterhin liegt nach den fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 34 SGB II ein wichtiger Grund regelmäßig vor, wenn das Verhalten durch andere gesetzliche Vorschriften gebilligt oder gefördert wird. Ausdrücklich benannt wird die Inanspruchnahme der Elternzeit nach § 15 Bundeselterngeld- und Elterngeldgesetz (BEEG).
Außerdem hat das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 03.09.2020 – B 14 AS 43/19 R –, juris, Rn. 17 ff.) erneut herausgestellt, dass es geboten ist, § 34 SGB II als einen eng zu fassenden Ausnahmetatbestand zu verstehen. Vor diesem Hintergrund verhält sich vorsätzlich oder grob fahrlässig im Sinne eines Wissenselementes nur, wer sich der Sozialwidrigkeit seines Verhaltens bewusst oder grob fahrlässig nicht bewusst ist. Hinzukommen muss bei einem grob fahrlässigen Herbeiführen auf der Wertungsebene, dass das zur Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen führende Verhalten in vergleichbarer Weise zu missbilligen ist, wie ein Verhalten, das ausdrücklich auf die Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen angelegt ist und ihm damit wertungsmäßig gleichsteht (Grote-Seifert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage, § 34 (Stand: 18.01.2022) Rn. 52 ff. m.w.N.).
Für die Kammer hat der Kläger zu 1 in der mündlichen Verhandlung überzeugend vorgetragen, dass er sich einer etwaigen Sozialwidrigkeit seines Verhaltens nicht bewusst gewesen ist.
Der Beklagte hat letztlich ein sozialwidriges Verhalten des Klägers zu 1 nicht feststellen können. Der Bescheid des Beklagten vom 11.05.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.07.2020 ist rechtswidrig und die Kläger dadurch in ihren Rechten verletzt.
Die Kostenentscheidung folgt der Entscheidung in der Sache und beruht auf § 193 SGG.