Der Bescheid der Beklagten vom 23.12.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.04.2021 wird aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII in gesetzlicher Höhe ab Antragstellung zu gewähren.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Sozialhilfe in Form von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XII).
Die 1960 geborene Klägerin besitzt die russische Staatsangehörigkeit. Beginnend mit dem 09.04.2016 wurde ihr vom Russischen Rentenfonds nach Vollendung des 55. Lebensjahres eine russische Altersrente gewährt, die ihr auch zunächst bis zum 31.03.2020 auf ihr russisches Konto bei der C.-bank monatlich ausgezahlt wurde. Voraussetzung für die fortlaufende Bewilligung und Auszahlung der russischen Altersrente für alle russischen Rentenbezieher mit festem Wohnsitz außerhalb Russlands ist die Vorlage einer sogenannten „Lebensbescheinigung“ einmal im Jahr. Da die Klägerin dem Russischen Rentenfonds Anfang des Jahres 2020 diese „Lebensbescheinigung“ nicht vorlegte, setzte dieser die Auszahlung der russischen Rente bis zur Vorlage der Lebensbescheinigung für die nächsten 6 Monate ab dem 01.04.2020 aus. Nach Ablauf dieser 6-monatigen Frist wurde die Weiterbewilligung bis zur Vorlage der Lebensbescheinigung durch den Russischen Rentenfonds eingestellt.
Die Klägerin beantragte mit Schreiben vom 19.11.2020 beim Beklagten Leistungen nach dem SGB XII, welche der Beklagte mit Bescheid vom 23.12.2020 ablehnte. Das Fehlen eines Anspruchs auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII begründete der Beklagte damit, es liege ein vorrangiger Anspruch der Klägerin auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vor, da davon auszugehen sei, dass die Klägerin erwerbsfähig sei. Ein Ausschluss gemäß § 7 Abs. 4 SGB II wegen des Bezugs der russischen Altersrente komme nicht in Betracht, da eine tatsächliche Zahlung dieser Rente ihrerseits nicht nachgewiesen worden sei. Der Ausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II liege erst mit dem tatsächlichen Zufluss einer Rentenzahlung vor.
Im März 2021 legte die Klägerin dem Russischen Rentenfonds die von diesem angeforderte „Lebensbescheinigung“ vor. Daraufhin bewilligte der Russische Rentenfonds der Klägerin rückwirkend ab dem 01.04.2020 wieder Leistungen. Am 14.04.2021 erfolgte sodann für den Zeitraum ab dem 01.04.2020 eine nachträgliche Auszahlung der Rente auf das russische Konto der Klägerin, was sich aus der seitens der Klägerin vorgelegten Bescheinigung des Russischen Rentenfonds vom 23.04.2021 (Bl. 86 der Gerichtsakte) und der ihrerseits vorgelegten Kontoauszüge (Bl. 101 ff. der Gerichtsakte) ergibt. Auf den weiteren Inhalt dieser Dokumente wird gemäß § 136 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Bezug genommen.
Der seitens der Klägerin gegen den Bescheid vom 23.12.2020 erhobene Widerspruch wurde durch den Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 21.04.2021 zurückgewiesen. Zur Begründung verwies der Beklagte im Wesentlichen auf seine im Ausgangsbescheid dargelegte Auffassung.
Die Klägerin hat am 21.05.2021 Klage erhoben.
Sie trägt vor, der Ausschluss vom Leistungsbezug nach § 7 Abs. 4 SGB II sei bereits mit der ersten Auszahlung der russischen Altersrente auf ihr Konto im Mai 2016 verwirklicht worden, auf eine dauerhafte Auszahlung der Rente ohne Unterbrechung komme es nicht an. Die Aussetzung der Auszahlung der russischen Altersrente wegen der Nichtvorlage der Lebensbescheinigung könne nicht zum
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 23.12.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.4.2021 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Dritten Kapitel des SGB XII in gesetzlicher Höhe ab Antragstellung zu bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hat im gerichtlichen Verfahren, nachdem die Klägerin die Bescheinigung des Russischen Rentenfonds vom 23.04.2021 sowie die Kontoauszüge vorgelegt hat, für den Zeitraum ab April 2021 Leistungsbereitschaft angezeigt und der Klägerin mit Bescheid vom 24.02.2022 für die Zeit ab April 2021 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII bewilligt.
Im Hinblick auf den Zeitraum von November 2020 bis einschließlich März 2021 verweist der Beklagte zur Begründung seiner Auffassung im Wesentlichen auf seine Argumentation im Widerspruchsverfahren. In diesem Zeitraum seien der Klägerin nicht durchgehend Rentenzahlungen zugeflossen, weshalb für diesen Klagezeitraum nicht davon ausgegangen werden könne, dass die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 4 SGB II vorlagen. Die Klägerin habe daher gemäß § 21 SGB XII keinen Sozialhilfeanspruch.
Wegen der weiteren Einzelheiten betreffend den Sach- und Streitstand wird Bezug genommen auf die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und (unechte) Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 i. V. m. § 130 Abs. 1 SGG) zulässig.
Nachdem die Beklagte mit Schriftsatz vom 25.01.2022 erklärte, ab April 2021 Leistungen zu erbringen, was sie mit ihrem Bescheid vom 24.02.2022 umsetzte, und die Klägerin mit Schriftsatz vom 15.02.2022 erklärte, nur noch eine gerichtliche Entscheidung für den Zeitraum von November 2020 (ab Antragstellung) bis März 2021 zu begehren, beschränkt sich der Streitgegenstand auf diesen Zeitraum.
Streitgegenstand ist zudem nur der Anspruch der Klägerin dem Grunde nach. Die Klage war auszulegen als eine auf den Erlass eines Grundurteils gerichtete Anfechtungs- und unechte Leistungsklage nach § 130 Abs. 1 SGG, da nach der Klageschrift und dem gestellten Antrag sinngemäß Leistungen in gesetzlicher Höhe beansprucht werden. Eine bezifferte Antragstellung war nicht angezeigt, da die Beklagte nach wie vor für den streiterheblichen Zeitraum einen Anspruch dem Grunde nach bestreitet und unter isolierter Betrachtung des klägerischen Vortrags ein Auszahlungsanspruch bestünde (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 27. November 2013 – L 6 AS 378/12 –, juris Rn. 24; zur Zulässigkeit des Grundurteils bereits BSG, Urteil vom 17. Januar 1996 – 3 RK 26/94 –, BSGE 77, 194-209, SozR 3-2500 § 129 Nr 1, SozR 3-1500 § 54 Nr 25, SozR 3-1300 § 31 Nr 11, SozR 3-1300 § 36 Nr 1 = juris Rn. 18).
Die zulässige Klage zu dem vorstehend beschriebenen Streitgegenstand ist auch begründet.
Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide der Beklagten beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGG), da die Ablehnung des Leistungsantrags rechtswidrig war. Die Klägerin hat auch im Hinblick auf den hier noch streitgegenständlichen Zeitraum von November 2020 bis einschließlich März 2021 einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII.
Gemäß §§ 19 Abs. 1, 27 Abs. 1 SGB XII ist Hilfe zum Lebensunterhalt Personen zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten können. Dass die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum nicht in der Lage war, ihren notwendigen Lebensunterhalt vollständig aus den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu bestreiten, ist zwischen den Beteiligten im Grundsatz nicht streitig. Vielmehr ist die Beklagte der Auffassung, dass die Klägerin dem Grunde nach Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II habe und deshalb von Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt) gemäß §§ 2, 21 SGB XII ausgeschlossen sei.
Entgegen der Auffassung der Beklagten steht dem geltend gemachten Sozialhilfeanspruch § 21 Satz 1 SGB XII, wonach Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt erhalten, vorliegend jedoch nicht entgegen. Insoweit kommt es im Falle der Klägerin nicht auf das Kriterium der Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB II an, sondern vielmehr auf die Frage, ob sie vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II betroffen ist.
Ein Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 4 SGB II führt nach bundessozialgerichtlicher Rechtsprechung nicht etwa dazu, dass bei Hilfebedürftigkeit kein Anspruch auf existenzsichernde Leistungen besteht, sondern dazu, dass der Hilfebedürftige auf gleicher Grundlage wie im SGB II bemessene und vom Umfang im Wesentlichen identische existenzsichernde Leistungen nach dem SGB XII unter Berücksichtigung des Renteneinkommens beanspruchen kann (vgl. bereits BSG, Urteil vom 25. September 2014 – B 8 SO 6/13 R –, BSGE 117, 47-52, SozR 4-4200 § 44a Nr 1, SozR 4-1300 § 103 Nr 5 = juris Rn. 11; Urteil vom 8. Dezember 2022 – B 7/14 AS 11/21 R –, BSGE (vorgesehen), SozR SozR 4-1300 § 105 Nr 9 (vorgesehen), Rn. 15).
Nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II erhält Leistungen nach dem SGB II nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Der Leistungsausschluss findet auch Anwendung bei Bezug von Rentenleistungen wegen Alters aus dem Ausland. Solche Leistungen sind erfasst, wenn sie in ihrem Kerngehalt den gemeinsamen und typischen Merkmalen einer inländischen Leistung entsprechen, d.h. nach Motivation und Funktion der inländischen Leistung gleichwertig sind, was das Bundessozialgericht für die russische Altersrente bereits bestätigt hat (dazu BSG, Urteil vom 8. Dezember 2022 – B 7/14 AS 11/21 R –, BSGE (vorgesehen), SozR SozR 4-1300 § 105 Nr 9 (vorgesehen) = juris Rn. 12 ff.). Der Russische Rentenfonds bewilligte der Klägerin als öffentlich-rechtlicher Träger der Russischen Förderation ab Vollendung des 55. Lebensjahres mit Bescheid vom 09.04.2016 eine russische Altersrente.
Am Bestehen des Leistungsausschlusses gemäß § 7 Abs. 4 SGB II ändert die zwischenzeitliche Unterbrechung der Auszahlung der Rentenleistung nichts.
Dafür lässt sich zunächst einmal dem Wortlaut des Gesetzes nichts entnehmen. Der „Bezug“ einer Altersrente im Sinne von § 7 Abs. 4 SGB II ist stets dann anzunehmen, wenn die Zahlung der Altersrente vom zuständigen Träger einmal bewilligt und aufgenommen wurde (vgl. dazu bereits Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Februar 2016 – L 9 AS 2914/15 B –, juris Rn. 5; Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 11. September 2017 – L 7 AS 595/17 B ER –, juris Rn. 20). Diese Voraussetzung ist erfüllt, die erste Auszahlung der Altersrente erfolgte im Mai 2016. Ab dem erstmaligen Bezug einer Altersrente ist fortan von einem Leistungsausschluss im Sinne von § 7 Abs. 4 SGB II auszugehen. Hätte der Gesetzgeber auf den ununterbrochenen „Zufluss“ der Rente abstellen wollen, hätte er eine solche Formulierung gewählt. Dies folgt bereits aus einem Vergleich mit der Regelung in § 11 SGB II, wo der Gesetzgeber für die Frage der Einkommensanrechnung auf den (monatlichen) Zufluss abstellt, mithin darauf, ob dem Leistungsberechtigten die (zugeflossene) Einnahme als bereites Mittel tatsächlich zur Verfügung gestanden hat.
Jedenfalls unter Berücksichtigung des Sinns und Zwecks des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 4 SGB II kann es für den „Bezug“ einer Altersrente auf deren ununterbrochenen Zufluss nicht ankommen. Denn die Regelung in § 7 Abs. 4 SGB II soll klarstellen, dass Personen, die endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind und Rente wegen Alters beziehen, nicht mehr in Arbeit eingegliedert werden sollen (BT-Drucksache 15/1749, S. 31). Die Vorschrift regelt somit die Fiktion fehlender Erwerbsfähigkeit (Leopold in: Schlegel/ Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 7 (Stand: 09.08.2023), Rn. 309). Ob es sich dabei um eine Rente nach deutschem oder dem Recht eines anderen Staates handelt, ist unerheblich.
Zutreffend hatte daher das Landessozialgericht Baden-Württemberg mit Beschluss vom 2. Februar 2016 (Az. L 9 AS 2914/15 B, juris Rn. 5) bereits ausgeführt, dass ein Bezug von Altersrente auch dann vorliege, wenn die Auszahlung mit Wissen und Willen des Berechtigten an eine dritte Person erfolge, da es ansonsten der Rentenbezieher selbst in der Hand habe, durch Einschaltung einer empfangsberechtigten Person seine Zugehörigkeit zum Regime des SGB II oder aber des SGB XII selbst zu bestimmen.
Diese Erwägungen lassen sich auf den vorliegenden Fall übertragen. Denn die Klägerin hätte es, je nachdem, ob und wann sie die jährlich beim Russischen Rentenfonds einzureichende „Lebensbescheinigung“ dort tatsächlich einreicht, selbst in der Hand, ob und wie lange sie Leistungen vom SGB II-Träger oder vom SGB XII-Träger bezieht. Spiegelbildlich hätte dies zudem die im Vorverfahren zum vorliegenden Verfahren zutage getretene Folge, dass SGB II-Träger und SGB XII-Träger sich (zeitweise) für unzuständig erklären und den Leistungsempfänger somit – gegebenenfalls mehrfach – an den jeweils anderen Träger verweisen könnten. Dies würde zudem faktisch eine Wiedereingliederung in Arbeit eröffnen, die nach der gesetzgeberischen Intention aber gerade vermieden werden sollte.
Nach diesem Maßstab ist vorliegend mit der Bewilligung und erstmaligen Auszahlung der Altersrente von einem „Bezug“ und damit einem Leistungsausschluss gem. § 7 Abs. 4 SGB II auszugehen, an dem sich durch die zwischenzeitliche Unterbrechung und die erst rückwirkend am 14.04.2021 – nach Vorlage der Lebensbescheinigung – erfolgte Auszahlung der Altersrente nichts ändert.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.